„Till Midnight“ ist der Titel des soeben erschienenen Albums von Chuck Ragan und Band. Der Frontmann von HOT WATER MUSIC hat in den letzten Jahren eine erstaunliche Karriere hingelegt: Aus kleinen Shows mit Akustikgitarre und etwas Begleitung wurden große Shows mit größerer Band, und das Ganze gipfelte im Wanderzirkus namens „Revival Tour“. Ich sprach mit Chuck über seine Abkehr vom Alkohol, über Angeln, Veganismus und vieles mehr. Als sehr angenehm empfand ich einmal mehr die offene, ehrliche Art von Chuck. Hier beantwortet einer sehr offen und geradeheraus die Fragen, die man ihm stellt, ohne zu taktieren, nie hatte ich das Gefühl, einem Musiker zuzuhören, der Interviews in erster Linie zur Imagepflege und aus Marketinggründen gibt. Vielleicht sind es diese Offenheit, diese Ehrlichkeit, die den Erfolg von Chuck Ragan ausmachen. Und ich hatte das Gefühl, ich hätte mich mit Chuck noch ewig über so ziemlich alles unterhalten können, der Typ ist so geerdet und interessiert, er ist einfach jemand, mit dem man gerne redet. Aber genug gesagt, lest selbst.
Chuck, mir geht es gerade beschissen, ich bin erkältet. Die Vorstellung, in so einem Zustand auf einer mehrwöchigen Tour zu sein, finde ich schrecklich. Was machst du, wenn du „on the road“ eine aufziehende Erkältung spürst, wenn du krank wirst?
Ich powere einfach durch. Ich muss, ich kann es mir nicht leisten, einen Tag deswegen auszufallen. So lange ich mich erinnern kann, habe ich nie eine Show wegen Krankheit abgesagt. Und ich weiß, dass ich viele, viele Shows gespielt habe, obwohl ich echt angeschlagen war. Zum Glück werde ich nicht oft krank – oder zumindest bilde ich mir das ein, hahaha. Wahrscheinlich bin ich es öfter, als ich glaube, bin aber einfach viel zu erschöpft, um den Unterschied zu merken. Wenn es mich dann aber mal erwischt, dann richtig, und ich fühle mich wie unter einer ganzen Ladung Ziegelsteine begraben.
Wie sehen deine Krankheitsvermeidungsstrategien auf Tour aus?
Ich achte auf meine Ernährung, unterwegs wie zu Hause. Und vor einem Jahr habe ich aufgehört, Alkohol zu trinken, das hilft wirklich sehr. Wenn ich auf Tour merke, dass da was im Anmarsch ist, habe ich ein paar Tricks. Ich esse dann zum Beispiel Knoblauch, viel Knoblauch. Rohe Knoblauchzehen runterzubekommen ist zwar hart, aber es hilft. Und ich versuche, viele Vitamine zu bekommen – und ich halte mich von Milchprodukten fern, und auch von Fleisch. Heiße Getränke helfen, heißes Wasser mit Zitrone und Ingwer zum Beispiel. Und ein heißes Bad – ich liebe es, in so einer Situation, ein richtig heißes Bad mit Absinth-Salz zu nehmen. Das zieht dir das ganze Gift raus, das man so auf einer Tour aufnimmt, haha.
Von anderen Musikern habe ich gehört, dass allein beim Gedanken an den bevorstehenden Auftritt so viel Adrenalin durch den Körper schießt, dass man für zwei Stunden vergessen kann, wie elend man sich eigentlich fühlt.
Das stimmt! Für diese zwei Stunden sind wir da, und deshalb kann ich es mir ja auch nicht leisten auszufallen. Für mich ist es wichtig, die Leute nicht spüren zu lassen, dass ich krank bin. Es ist ja nicht deren Schuld, die haben Geld ausgegeben, um die Show zu sehen, haben sich auf den oft weiten Weg gemacht, und so bekommen sie die beste Show, die ich bieten kann, ob ich nun krank bin oder nicht. Und ich bin überzeugt, dass das Durchpowern in so einem Fall echt hilft: das Schwitzen, das Ackern, das schwemmt dir die Krankheit aus dem Körper. Und wenn nicht, dann vergisst du wenigstens zwei Stunden lang, wie schlecht es dir eigentlich geht. Ich hatte aber auch schon ein paar Shows, wo ich so krank war, dass ich mir dessen jede Sekunde bewusst war. Aber das gehört dazu.
Und dann gibt es noch die Legende, dass in einer Rock’n’Roll-Band zu spielen bedeutet, dass man jeden Abend mit all seinen Freunde und Musikern eine riesige Party feiert und ordentlich einen draufmacht.
Es gibt Leute, auf die trifft das zu. Das hängt von der Band, von den Personen ab. Diese Art zu leben bringt eine gewisse Schwäche für Partymachen und Alkoholkonsum mit sich, und es ist wohl der einzige Job, die einzige Beschäftigung, bei der das Trinken nicht nur hingenommen, sondern sogar gefördert wird. Ich finde das irgendwie seltsam, um ehrlich zu sein. Man würde ja auch nicht ein Haus bauen und acht Stunden lang während der Arbeit trinken.
Nun, so abwegig ist das nicht. Noch bis in die Achtziger war bei Bauarbeitern hier in Deutschland der Bierkasten ein ständiger Begleiter.
Stimmt, früher war das üblich. Ich kenne das auch noch, ich habe ja früher, in den Neunzigern, als Zimmermann gearbeitet. Also ja, es gibt andere Berufe, wo auch getrunken wird, aber diese Arbeitsumgebung, die du als Musiker hast, mit all ihren Verlockungen, die ist schon ziemlich einzigartig. Viele Leute da draußen verstehen allerdings nicht, dass so ein Rock’n’Roll-Lifestyle für die Mehrheit der Musiker nicht typisch ist. Für uns ist das Musikmachen die Existenzgrundlage, wir machen das mit Leidenschaft und Begeisterung, aber es ist auch unser Job, den wir sehr ernst nehmen. Wenn man unterwegs ist, hat man die Wahl: Entweder man löst sich von allem, schießt sich jeden Abend bis zur Besinnungslosigkeit ab und stellt später fest, dass man dafür verdammt leiden muss. Oder man besinnt sich eines Besseren und passt auf sich auf. Ich kenne beide Seiten, ich hatte Zeiten, wo ich echt richtig gesoffen habe – ich hatte Spaß, war von Leuten umgeben, die auch gerne tranken und Party machten, und so ließen wir es ordentlich krachen. Und ich hatte Phasen, da trank ich nur, um damit körperliche und seelische Schmerzen zu bekämpfen: zu viel Anstrengung auf der Bühne, zu wenig Schlaf, schlechte Ernährung – und da schien Alkohol immer eine gute Lösung zu sein, vor allem wenn der Auftrittszeitpunkt näherrückte, mir bewusst wurde, dass ich jetzt da raus muss, um alles zu geben. Dabei fühlte ich mich eher so, als würde ich gleich umkippen. Also ein paar Drinks gekippt und es lief. Das Problem ist: Am nächsten Tag geht es dir noch schlechter als am Tag zuvor. Und nach acht Wochen, nach einem Jahr mit 180, 230 Konzerten, wo das jeden Abend, an dem du einen Auftritt hattest, so lief, da frisst sich das tief in deinen Körper rein, in deine Seele.
Wie geht man aber mit all den Freunden und Fans um, die einen vor dem Konzert backstage freudig begrüßen, mit einem Bier trinken und feiern wollen?
Haha, das gibt bei uns immer wieder verwirrte Blicke, weil wir da eben ganz anders sind. Der eine sitzt in der Ecke und liest ein Buch, ein anderer arbeitet am Computer, wieder ein anderer macht sich was zu essen oder näht ein kaputtes T-Shirt, und nebenan sitzt jemand, der Yoga macht oder meditiert. Und da stehen die alten Freunde da und wundern sich, was aus dem Rock’n’Roll geworden ist, hahaha. Wir sind eben älter geworden, wir haben unzählige Partys mitgemacht, und irgendwann kommt man einfach an den Punkt, in das Alter, an dem man sein Leben ernster nimmt, sich der Verantwortung stellt, dass viele Menschen Zeit und Geld investieren, um deinen Auftritt zu sehen, und dass es deshalb einfach wichtig ist, deren Erwartungen zu erfüllen. Mir ist das alles ungefähr vor einem Jahr so richtig bewusst geworden, ich fühlte mich, als wäre ich voll an die Wand gelaufen, und so ließ ich das Trinken ab diesem Zeitpunkt sein. Respekt vor meinen Fans, meinen Freunden, meiner Familie und meinen Mitmusikern war letztlich der Grund dafür. Ich will mein Bestes geben, und ich will der jüngeren Generation ein gutes Beispiel sein – jenen, die an dem Punkt stehen, einen Weg einzuschlagen wie ich vor 20, 25 Jahren.
Das klingt alles schrecklich erwachsen ...
Ich bin erwachsen! Aber dass ich nicht mehr trinke und nicht mehr jeden Abend Party mache, heißt ja nicht, dass ich nicht trotzdem Spaß habe – im Gegenteil, ich habe mehr Spaß an dem, was ich mache, als je zuvor. Es ist wundervoll, wenn man sich am nächsten Morgen noch erinnern kann, was für ein toller Abend das am Tag zuvor war.
Veränderung ist zum einen eine Frage der Einstellung, zum anderen aber auch des Aussehens. Wenn man sich Fotos von dir aus den letzten Jahren anschaut, finden sich kaum zwei, auf denen deine Kopf- und Gesichtsbehaarung gleich ist: Haare lang, Haare kurz, Bart lang, Bart kurz ... Wie viele Versionen von Chuck gibt es?
Hahaha, viele. Was soll ich machen? Meine Haare wachsen einfach, ständig, überall. Ich trage Haare und Bart immer so, wie es im Moment angenehm für mich ist. Meist ist es meine Frau, die mir zu verstehen gibt, dass ich mich mal wieder rasieren sollte. Derzeit trage ich die Haare so lang, wie ich sie zuletzt mit 18 hatte. Keine Ahnung, wie lange das so sein wird – vielleicht schneide ich sie nach dem Winter ab, denn im Moment wärmen die den Kopf ganz gut, ich brauche keine Mütze.
Chuck, du hast mit deinen Soloaktivitäten, mit der Nummer „Punkrock-Sänger mit Gitarre“, vor ein paar Jahren etwas losgetreten. Davor hat sich kaum mal ein Punkrocker getraut, mit Akustikgitarre Lagerfeuerlieder zu singen, heute scheint das jeder versuchen zu wollen.
Also ich habe sicher nicht damit angefangen. Es gab einige Musiker, die schon viele Jahre vor mir so aufgetreten sind. Aber du hast insofern recht, als dass die öffentliche Wahrnehmung früher geringer war. Die „Revival Tour“ hat es geschafft, das Scheinwerferlicht stärker auf das zu richten, was die anderen Beteiligten und ich seit Jahren schon machen. Ich machte auf diese Weise schon Musik, bevor ich eine Band hatte, und ich hörte nie damit auf, nur bekam früher kaum jemand was davon mit. Zu singen und sich dabei auf der Akustikgitarre zu begleiten, ist die typische Arbeitsweise für die meisten Songwriter. Meine erste Solo-Show war vor 28 Jahren, damals trat ich das erste Mal mit meiner Gitarre vor anderen auf und sang dazu. Im Laufe der Jahre war ich dann in verschiedenen Bands, die Konstante aber war immer, dass ich sang und dazu Akustikgitarre spielte. Ich stand aber auch auf Punkrock und Skateboarden und ich wollte laute Musik machen. Als ich dann bei HOT WATER MUSIC einstieg, änderte sich an meiner Art des Songwritings nichts, denn was viele nicht wissen: die meisten HOT WATER MUSIC-Songs wurden auf der Akustikgitarre geschrieben. Wir lebten damals sehr beengt in einem Wohnblock, wir konnten wegen der Nachbarn gar keine laute Musik machen, also an E-Gitarren und Schlagzeug war meist nicht zu denken – für solche Proben mussten wir teure Proberaumzeit mieten. Also saßen wir auf der Veranda oder im Park und sangen und spielten akustisch. Und die ganze Zeit über spielte ich immer wieder Akustik-Shows, und ich hatte das RUMBLESEAT-Projekt. Was ich damit sagen will: Diese Akustiksache war für mich weder neu noch einzigartig.
Auf welche Tradition wurde da zurückgegriffen?
Also dieser Punkrock-Ethos, mit dem ich aufwuchs, und Soloauftritte passen einfach gut zusammen: so zu spielen ist sehr direkt, klar, geradeheraus, echt – und man wagt sich sehr weit raus damit. Und das kann man auch alles von Punkrock sagen, wo es ja auch immer schon darum ging, man selbst zu sein, sich nicht zu verbiegen, sich nicht in eine Form pressen zu lassen, zu tun, was man will. Nun kommt es eben von Zeit zu Zeit vor, dass irgendwer irgendetwas einen Namen verpasst, ein bestimmter Stil wird dann plötzlich bekannter, mehr Leute fangen an, sich dafür zu interessieren. Das ist nicht nur bei Musik der Fall, sondern bei allen Arten des künstlerischen Ausdrucks. Ich kann heute bei vielen Leuten, die mit der Akustikgitarre Musik machen und dazu ehrliche, offene, persönliche Texte singen, diesen Punkrock-Background erkennen, und ich denke, das ist kein Zufall, es gibt eine klare Verbindung.
Wie verbunden fühlst du dich mit den Songwritern der Fünfziger und Sechziger, die diese Tradition begründeten? Mir kommen Namen wie Bob Dylan, Phil Ochs oder Arlo Guthrie in den Sinn.
Ich wusste früher schon ein bisschen was von denen, aber erst, als ich etwas älter war, lernte ich Musiker wie diese zu schätzen. Um dir einen Eindruck zu verschaffen, wie ich Folk Music entdeckte und lieben lernte, muss ich etwas ausholen: Als Kind liebte ich Sport, ich baute Hütten im Wald, machte Lagerfeuer, ich war wie alle anderen Kinder auch. Später entdeckte ich das Skateboarden und BMX-Fahren, das war in den Achtzigern, und mit dem Skateboarding kam diese laute, aggressive Musik, die ich vorher nicht gekannt hatte. Das war ein ganz schöner Bruch mit dem Bekannten für mich, denn zu Hause bei uns gab es keine Rockmusik, so was durfte ich nicht hören. Ich durfte nicht mal Platten besitzen, „weltliche Musik“, wie meine Eltern das nannten, war nicht gestattet. Und dann stieß ich plötzlich auf diese laute Musik, die mir richtiggehend Angst machte – aber auf eine gute Weise. Ich war jung und leicht zu beeindrucken: all diese jungen Menschen, die es richtig wissen wollten, die keine Angst davor hatten, sich zu verletzen. Und wenn sie auf die Fresse geflogen waren, standen sie wieder auf, lachten und machten weiter. Und dazu liefen als Soundtrack BAD BRAINS, MINOR THREAT, METALLICA, PUBLIC ENEMY, BEASTIE BOYS, GERMS, G.B.H. und so weiter – all dieses verrückte Zeugs, das ich bislang überhaupt nicht gekannt hatte. Damals war ich elf, zwölf, jetzt bin ich beinahe vierzig, das ist also rund 28 Jahre her. Damals hatte ich allerdings schon mit dem Gitarrespielen angefangen, konnte einfache Akkorde spielen. Mein Vater hatte damals einen Freund, mit dem er zusammen Golf spielte, und der war Songwriter. Der besuchte uns zu Hause und spielte mir Songs von Pete Seeger, Arlo Guthrie und Bob Dylan vor, Songs also aus der Ära der Folk Music, die seinen musikalischen Background darstellte. Wir aßen alle zusammen zu Abend, dann packte er seine Gitarre aus und bewies große Geduld, wenn ich versuchte, mit ihm mitzuhalten. Ich lernte also von ihm meine ersten Lektion, aber der wesentliche Einfluss kam vom Vater eines Freundes, der uns beim Bau einer Skateramp bei denen zuhause in der Einfahrt half. Wir hatten da immer einen Kassettenrekorder rumstehen, da liefen die ganze Zeit Mixtapes mit Rock, Punk und Rap. Und der Vater meines Freundes legte zwischendurch auch immer mal Tapes mit seiner Musik ein, und das waren Sachen wie Dylan, Townes Van Zandt, CREEDENCE CLEARWATER REVIVAL und so weiter, und das war alles Musik, die wieder ganz anders war als das, was wir damals so hörten – frühe METALLICA, frühe RED HOT CHILI PEPPERS und was weiß ich noch alles.
Wie hast du darauf reagiert?
Das kann ich eigentlich erst mit so vielen Jahren Distanz sagen: Diese Erfahrungen damals haben meinen Musikgeschmack geprägt. Damals skateten wir zu jeder Musik, das war das Interessante. Diese Folk-Songs mit ihrer ganz eigenen, anderen Energie, fügten sich nahtlos ein in unser anderes Musikrepertoire. Es wurde zu unserem eigenen Soundtrack, eine Mischung aus aggressivem Skaterock und Bluegrass, Folk und Cajun. Irgendwann unterschied ich nicht mehr zwischen all dieser verschiedenen Musik, sie wurde zu meiner Musik. Und das beeinflusst mich bis heute.
Sprechen wir über dein neues Album. Ein Song fiel mir da wegen seines Titels auf, „Whistleblower song“. Ein Song über Edward Snowden?
Es ist ein Aufruf, genau zuzuhören, etwas mehr Liebe für die anderen zu zeigen. Wir vergessen manchmal, dass wir nicht alleine auf dieser Welt sind. Wir sind umgeben von Menschen, die uns etwas bedeuten, von Freunden, von Menschen, die für eine bessere Welt kämpfen, nicht nur jetzt, sondern auch in Zukunft, für unsere Kinder. Der Titel ergab sich aus dem Text, da heißt es: „I can’t answer a distant call if I don’t hear the whistleblower’s song“. Wenn wir nicht genau aufpassen und nicht denen zuhören, die für eine bessere Welt kämpfen, werden wir nicht mitbekommen, was wir selbst für eine bessere Welt tun können.
Im Kunstunterricht mussten wir früher Bildanalysen machen. Wir bekamen ein Bild, ein Gemälde gezeigt und mussten dann schreiben, was uns dazu einfällt. Auf dem Cover der neuen Platte bist du zu sehen, mit einem Blatt Papier in der Hand, davor ein Mikrofon, im Hintergrund Instrumente und Aufnahmegeräte aus dem Studio ...
Auch wenn es so aussieht, ich liege nicht auf einem Bett, ich stehe. Man kann das Cover auf verschiedene Weise deuten. Ich verstehe es im Hinblick darauf, dass ich ein Album mit einer richtigen Band schaffen wollte, mit einem wirklich organischen Sound, der das Ergebnis des Zutuns aller fünf Beteiligten ist. Wir wollten zeigen, dass es keine Soloplatte ist, dass da nicht nur ein Typ mit seiner Gitarre in seinem Zimmer saß. Wir wollten zeigen, dass auf dieser Platte eine Menge passiert, dass wir viel mit dem Sound experimentiert haben, mit den Instrumenten, mit verschiedenen Klangfarben. Ich überlegte dann zusammen mit dem Cover-Designer, wie wir das zum Ausdruck bringen könnten. Wir hatten ein paar ganz verschiedene Ideen, und letztlich erschien uns die Idee am besten, eine klassische Collage zu machen, aus vielen Elementen, die dafür stehen, wie die Platte klingt. Das ergab für uns am meisten Sinn.
Für ein Album, das keine Soloplatte sein soll, sieht das Cover mit dir als zentralem Element dann aber doch ziemlich nach Soloplatte aus.
Um ehrlich zu sein, war ich dagegen, dass ich auf dem Cover zu sehen bin. Ohne mich hätte mir das Cover besser gefallen. Das Label wollte allerdings mich auf dem Cover sehen, und da die viel Zeit und Energie in mich investiert haben, fügte ich mich ihrem Willen. Ich habe großen Respekt vor deren Arbeit, und als sie mich fragten, ob es möglich wäre, dass ich zu sehen bin, erfüllte ich ihnen diesen Wunsch.
Wie wichtig ist ein Plattencover heute überhaupt noch? Manchmal bekommt man ja den Eindruck vermittelt, 99% aller Menschen würden Musik sowieso nur noch per Stream hören und so das Cover höchstens in Briefmarkengröße auf einem Display zu sehen bekommen.
Für mich waren Plattencover immer wichtig, und ich hoffe, sie bleiben immer wichtig. Das Cover ist ein untrennbarer Teil der Platte – es ist das Cover! Menschen wie du und ich kaufen immer noch Platten, wir unterstützen Plattenläden, leider sind wir nicht genug, aber das ist noch mal ein anderes Thema – da bin ich sehr leidenschaftlich und könnte jetzt endlos darüber reden. Wir vergessen in diesem digitalen Zeitalter leider oft, wie wichtig es ist, die Plattenläden vor Ort zu unterstützen, die noch Vinyl verkaufen – jenes Vinyl, in dessen Herstellung wir so viel Zeit und Mühe investieren. Wenn wir diese Läden nicht unterstützen, sind sie irgendwann nicht mehr da und keiner kann mehr unsere Platten kaufen. Das Überleben von Bands hängt aber davon ab, dass Platten gekauft werden. Das ist ein Teufelskreis. Klar, wir wollen alle Bequemlichkeit, und sehr vielen Menschen da draußen ist es wohl völlig egal, wie das Artwork einer Platte aussieht – denn sie werden die Platte nie zu Gesicht bekommen. Die kaufen Musik mit ihrem Mobiltelefon oder Computer, da sehen sie ein winziges Bildchen, das eine Idee des Covers vermitteln soll, aber ich finde, zu einem Album gehört dazu, das Cover in der Hand zu halten, die Gatefold-Hülle aufzuklappen, die Texte durchzulesen.
Welch wichtige Erfahrung war es, als Teenager an langen, einsamen Abenden Zeile für Zeile eines Songtextes durchzulesen, die Worte auf sich wirken zu lassen. Dabei die Platte zu hören, wieder und wieder, das Cover zu studieren, jedes Detail wahrzunehmen, die Thankslist zu lesen und so weiter. Mir scheint allerdings, das ist eine Erfahrung, die nur noch für unsere Generation von Bedeutung ist.
Ich weiß genau, was du meinst, und ich habe solche Erlebnisse bis heute. Musik so intensiv wahrzunehmen, war ein wichtiger Teil unserer Kindheit, unserer Jugend, es gehörte zu unserem Erleben von Musik dazu. Wir wollten ergründen, was dieser Typ da singt. Und irgendwann hatte ich ein Schlüsselerlebnis auf einem Konzert, nämlich dass scheinbar alle anderen die Texte kannten und mitsingen konnten, nur ich nicht – das musste ich ändern. Also hörte ich die Platte immer wieder an, las die Texte, und irgendwann hatte ich es drauf, konnte auch mitsingen – und das machte das Erleben eines Konzertes noch viel intensiver. Ich halte es auch heute noch für extrem wichtig, dass sich eine Band wirklich Gedanken um ihr Coverartwork macht, dass die Texte der Platte beiliegen, auch wenn die Mehrheit der Menschen es nicht mehr zu wertschätzen scheint. Da draußen ist garantiert immer noch irgendjemand, der diesen einen Song unbedingt hören und die Texte lesen muss, den das Cover inspiriert, dessen Leben dadurch beeinflusst wirkt. Darauf kommt es letztlich an, und das setzt sich in unseren Konzerten fort: Ob ich nun für ein paar Handvoll Menschen spiele oder bei einem Festival für tausende, es könnte immer jemand dabei sein, dem das unglaublich viel bedeutet, der dir mit ganzem Herzen zuhört, mit dem du auf diesem Wege eine Verbindung eingehst. Und dafür machen wir das alles.
Heute ist das einfacher, denn keine Band kommt ohne YouTube-Lyric-Video aus. Wird es von dir auch eins geben zur neuen Platte?
Hahaha, ich habe davon gehört. Haben das INXS nicht irgendwann mal gemacht? Also ich weiß nicht, ich habe mich mit so was noch nie beschäftigt. Und du meinst, die Kids stehen heute auf so etwas? Nein, wir arbeiten nicht an einem Lyric-Video. Aber danke für den Hinweis, hahaha.
Mit dem Thema Angeln dürftest du dich besser auskennen. Es heißt, das gemeinsame Angeln habe eine wichtige Rolle gespielt bei der Entstehung des Albums.
Ja, im Zuge der Preproduction-Session war das wichtig. Für jene Leser, die nicht wissen, was Preproduction ist: Die Band trifft sich, spielt sich ein, geht alle Songs durch, übt sie ein, um die Kanten und Ecken zu glätten – und das, bevor es zum Aufnehmen ins Studio geht. Dafür hatte ich meine Band zu mir nach Hause eingeladen, eine Woche wollten wir zusammen an den Songs arbeiten, es war Sommer, bestes Wetter – Angelwetter! Nun war es mir zwar wichtig, an den Songs zu arbeiten, aber genauso wichtig ist es mir in so einer Situation auch, mit meinen Mitmusikern auf der persönlichen Ebene gut klarzukommen, sich kennen zu lernen. Und so verbrachten wir die Hälfte der Zeit mit Angeln, gingen morgens früh los, kamen vier, fünf Stunden später zurück, kochten zusammen, saßen am Lagerfeuer und machten Musik. Das hat uns einander viel näher gebracht, es war perfekt. Ich lebe aber eben auch an einem wirklich schönen Ort, zwischen Bergen und Flüssen, es ist wirklich malerisch. Wenn ich zu Hause bin, bin ich viel draußen, das hat für mich schon beinahe was Spirituelles, draußen in der Natur zu sein. Wäre ich religiös, würde ich sagen, die Natur ist meine Kirche. Deshalb poste ich auch so viele Naturfotos auf meinem Instagram-Account.
Das klingt alles grandios – als vegan lebender Mensch freilich habe ich so meine Probleme mit dem Angeln ...
Also meine Frau findet das auch nicht so gut, die lebt ebenfalls vegan. Wer uns gut kennt, ist immer wieder überrascht, dass wir beide zusammen klarkommen, denn wir sind so gegensätzlich, und da sind unsere Essgewohnheiten nur ein Aspekt. Da meine Frau nun Veganerin ist, esse ich die meiste Zeit auch vegan, wir kochen zu Hause vegan, ich habe da eine Menge gelernt in letzter Zeit. Ich respektiere die Entscheidung von Menschen für eine vegane Lebensweise, ganz gleich, ob sie dafür gesundheitliche oder tierrechtliche Gründe haben. Mir ist allerdings eine nachhaltige Lebensweise wichtiger, das meiste Fleisch, das angeboten wird, würde ich niemals anrühren, einfach wegen der Aufzuchts- und Lebensbedingungen der Tiere, von denen es stammt. Früher hat mich das alles nicht gekümmert, aber man lernt mit den Jahren dazu, und ich musste irgendwann erkennen, dass die Lebensweise meiner Großeltern, die weitgehend Selbstversorger waren, die von dem lebten, was sie selbst anbauten oder auf ihrem Land jagten oder fischten, sehr einfach, aber auch sehr nachhaltig war – und verantwortlich. Die lebten nicht über ihre Verhältnisse, die hatten ein langes und gesundes Leben mit harter Arbeit – leider sind sie letztes Jahr gestorben. Um nun auf das Thema Veganismus zurückzukommen: viele Ideen und Prinzipien des Veganismus teile ich, aber ich bin eben ein Fleischesser. Ich lehne industrielle Landwirtschaft ab, den Anbau genveränderter Lebensmittel, den Einsatz von Pestiziden oder von Hormonen bei der Aufzucht von Tieren. Ich halte das alles für extrem schädlich für unsere Böden, für das Grundwasser, für die Pflanzenvielfalt und natürlich für die Menschen. Wenn sich jemand entschieden hat, Fleisch zu essen, sollte er deshalb verantwortliche Entscheidungen treffen und nur solches Fleisch essen, das unter akzeptablen Bedingungen produziert wurde. Und ja, ich weiß, dass eine pflanzenbasierte Lebensweise weitaus gesünder ist.
Chuck, besten Dank für deine Zeit.
Ich danke dir, und bitte verzeih, falls ich nächstes Mal mit einem lila Iro und Schnauzbart auf Tour gehe, hahaha.
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