Die Nachricht, dass Chuck Ragan HOT WATER MUSIC verlassen würde, war alles andere als leicht zu verdauen. Zu schöne Momente hatte diese Band ihren Hörern gegönnt. Zu viele trunken-melancholische Songs geschrieben, deren berührende Akkorde sich ins kollektive Szeneherz eintätowiert hatten und Fans und Freunde der Band bei Konzerten nahezu jeden Song mitsingen ließen. Das sollte es gewesen sein - einfach so? Diese Band, auf die sich eine große Schnittmenge aus Punks, Hardcore-Kids und Alternative-Hörern einigen konnte?
Nein, nicht einfach so. Auf Seiten von Chuck Ragan gab es nachvollziehbare Gründe für seinen Schritt, die er der Welt in einem offenen Brief mitteilte. Und überhaupt: Mit THE DRAFT haben sich die verbliebenen drei HWM-Mitglieder zu einer feinen Band geformt, die das musikalische Erbe von HWM würdig verwaltet. Reden wir aber nun nicht allzu viel von ihnen, sondern lenken den Blick auf Chuck Ragan, der sich seit seinem HWM-Ausstieg erst einmal seiner Tätigkeit als Schreiner verschrieb, die Finger aber schon bald nicht mehr von der Gitarre lassen konnte und begann, berührende Akustiksongs zu schreiben. Sie haben das Lagerfeuerflair mancher Springsteen-Songs, aber auch Folk- und Blues-Einflüsse, so dass es schwer fällt, Chuck Ragans Musik einem spezifischen Genre zuzuordnen. Sein Live-Album "Los Feliz", das im Mai erschien, sowie sein erstes Studioalbum "Feast Or Famine" bieten zahlreiche Songs, die jedem Fan bodenständig-ehrlicher Akustikmusik gefallen sollten. Am Telefon sprach er über sein neues Album, HWM und noch einiges mehr.
Chuck, wie kam es zu dieser ungewöhnlichen Abfolge von Veröffentlichungen?
Ich weiß, dass es auf den ersten Blick vielleicht komisch wirkt, wenn ein Musiker ein Live-Album macht, bevor er irgendetwas anderes veröffentlicht hat. Dies war auch nicht so geplant, sondern eine mehr oder weniger spontane Idee. Ich hatte ja meine eigene Live-CD "Live At The Troubadour" selbst aufgenommen und vertrieb sie auf Graswurzel-Level, also ohne verbindende Werbung. Als ich mich dann mit Side One Dummy zusammensetzte, gab ich ihnen diese CD. Sie waren sehr angetan von ihr und wollten sie nochmals herausbringen. Da sie aber schon draußen war und ich außerdem schon neue Songs geschrieben hatte, buchten wir eine Show in kalifornischen Los Feliz, die wir dann aufnahmen und ein Live-Album machten.
Fühlt es sich nach all den Jahren bei HOT WATER MUSIC nicht sehr ungewöhnlich für dich an, wenn du jetzt alleine auf der Bühne stehst?
Nein, das würde ich nicht sagen, ungewöhnlich ist das falsche Wort dafür. Vielmehr macht mir alleine zu spielen Angst und schüchtert mich ein. Und das mag ich sehr. Was mir an den Solo-Shows gefällt, ist die Herausforderung. Bevor ich auf die Bühne gehe, macht mir der Gedanke Angst, dass ich mich als Künstler wieder neu beweisen muss. Dass ich Leuten, die nicht wissen, wer ich bin, zeigen muss, was ich alleine und ohne Band draufhabe. Dann aber auf die Bühne zu gehen, eine Show zu spielen und diese Angst und Einschüchterung zu besiegen, ist ein tolles Gefühl, weil es sehr befreiend ist.
Denkst du denn, dass die Leute bei deinen Shows nicht wissen, wer du bist? Sind es nicht gerade viele HOT WATER MUSIC-Fans, die dich live sehen wollen?
Stimmt, einige der Leute bei den Shows kennen mich schon aufgrund meiner HWM-Vergangenheit. Dennoch ist es für mich jeden Abend eine Herausforderung, den Leuten nun ganz alleine zeigen zu müssen, was ich kann, und sie in den ersten Sekunden des Sets bereits mit meiner Musik zu begeistern. Bisher waren die Reaktionen auch wirklich toll. Einige sagten, dass meine Solostücke sie auf ähnliche Weise berühren wie viele HWM-Songs. Und das hat mich wiederum sehr berührt.
Eine Feststellung, die ich nur unterstreichen kann.
Danke. Allerdings - das muss man zugeben - die Drums sind nicht so gut wie auf HOT WATER MUSIC-Platten. George ist einfach nicht zu schlagen, haha.
Mich erinnert "Feast Or Famine" sehr an manche Bruce Springsteen-Songs. Gleichzeitig denke ich, dass man das Album nur schwer in eine bestimmte Schublade stecken kann, weil sich diverse Einflüsse vermischen.
Das ist ein toller Vergleich, weil ich selber ein großer Bruce Springsteen-Fan bin und daher denke, dass seine Songs eine große Inspiration für mich sind. Neben ihm mag ich aber auch viele der frühen Bob Dylan-Songs und viele traditionelle Bluegrass-, Blues- und Southern Gospel-Stücke. Für mich sind dies Musikstile, die schon immer unterschätzt wurden. Musik von Menschen, die unterdrückt wurden und die arm waren, die aber Musik als ihre Stimme fanden, durch die sie der Welt all ihren Schmerz mitteilen konnten. In Gainesville gab es diesen Kerl namens Rob McGregor. Er half vor Ort immer diversen Bands dabei, ihre Songs aufzunehmen. Was ich an ihm aber wirklich berührend fand, war, dass er diese wahnsinnig tief gehenden Songs auf Akustikgitarre und Mundharmonika spielen konnte. Mit diesen recht simplen Mitteln konnte er dich mit seiner Musik zum Heulen bringen. Und wenn er dich heulen gesehen hat, dann hat er dir die Zunge heraus gestreckt oder dich auf irgendeine andere Art zum Lachen gebracht. Das hat mich seit jeher fasziniert und ich denke, dass er einer der Gründe ist, warum ich überhaupt angefangen habe, selber akustische Songs zu schreiben.
In meinen Augen sind vor allem die Geschichten berührend, die Menschen wie Bruce Springsteen und Bob Dylan in ihren Songs erzählen. Sie machen die Songs oftmals zeitlos.
Das sehe ich ähnlich. Meiner Meinung nach ist ein Song dann gut, wenn er dem Hörer eine Geschichte erzählt, zu welcher er eine Beziehung aufbauen kann. Die also leicht verständlich ist und die in gleicher Weise auch in seinem Alltag hätte passieren können. Solche Texte zu schreiben, fällt mir aber alles andere als leicht. Manchmal kämpfe ich regelrecht mit einem Songtext, freue mich aber umso mehr, wenn er dann fertig ist und ich denke, dass er eine kleine Erzählung ist, die mich betrifft, aber auch im Leben eines anderen hätte passieren können. Die Musiker, über die wir gerade sprachen, haben auf diese Weise ja Teile ihres Lebens für die Folgegenerationen festgehalten. Menschen wie ich können in ihren Songs jetzt die Dokumentationen ihrer Leben nachlesen und Parallelen zu uns selbst herstellen. Denn viele dieser Songs haben gerade deswegen einen zeitlosen Charakter, weil in ihnen Gefühle zum Ausdruck kommen. Deswegen sind Stücke von Bob Dylan auch Jahre, nachdem sie geschrieben wurden, noch relevant. Und selbst wenn die Songs damals nicht mit der Absicht geschrieben wurden, einmal für spätere Generationen als Inspiration und Kraftquelle zur Verfügung zu stehen, so kommt es doch letztlich darauf an, dass Bob Dylan und andere diese Stücke überhaupt geschrieben haben. Viele dieser Songs gehen mir bis ins Mark, weil sie so reduziert und doch so emotional sind. Vielleicht schaffe ich es ja, ein wenig von dieser Stimmung auch in meine Songs einzubringen.
Abgesehen von deinen Solo-Releases, in welche Richtung hat sich denn dein Leben ganz generell verändert, nachdem du HOT WATER MUSIC verlassen hast?
Mein Leben hat sich drastisch und in eine sehr positive Richtung entwickelt. Bei HWM lief ja alles gut, jedoch ließ mir die Band keinerlei Raum für ein Privatleben. Wir waren ja fast ununterbrochen unterwegs, was auch bedeutete, dass man ständig Band und Crew koordinieren und allerlei Dinge planen und vorbereiten musste. Alles in allem hat das und das Touren extrem viel von meiner Zeit aufgesogen, so dass ich null Zeit für meine Familie hatte. Da ich diese Zeit aber unbedingt brauchte, habe ich mich von HWM getrennt. Und jetzt, da ich diese Zeit habe und mich intensiv meinem Privatleben widmen kann, muss ich sagen, dass es eine sehr gute Entscheidung war, HWM zu verlassen, da dieser Schritt dieses unglaubliche Tempo aus meinem Leben genommen hat. Weißt du, vor unserer letzten Tour mit FLOGGING MOLLY habe ich meine Frau in Costa Rica geheiratet und nun haben wir uns ein kleines Haus in den Bergen von San Francisco gebaut und ich genieße die Zeit mit ihr sehr. Es sind diese alltäglichen Dinge, die mich sehr freuen und die mir Energie geben. Für diese war mit HOT WATER MUSIC aber keinerlei Zeit. Glaub mir, ich lebe jetzt ein sehr einfaches Leben, wir sind alles andere als reich und berühmt. Aber ich habe eine gewisse Unabhängigkeit zurückerlangt, was mich sehr froh macht und meinen Alltag sehr viel leichter.
Du sagtest ja eben, dass du bei HWM unbedingt raus musstest, weil du keinen Raum für dein Privatleben hattest. Setzt du dir vor diesem Hintergrund Grenzen, was dein Soloschaffen angeht?
Gute Frage. Ich will niemals wieder an einen Punkt kommen, an dem dich die Bandmitgliedschaft und dein Musikerleben deiner Kräfte beraubt, und wo du denkst: "Oh Mann, wir müssen auf Tour gehen und ich bin schon vor der ersten Show aus der Puste." Denn man sollte denken: "Ich gehe auf Tour, yeah!" Ich denke ehrlich gesagt sogar, dass ich mit meiner Solomusik schon jetzt viel mehr erreicht habe, als ich mir jemals habe träumen lassen. Deswegen versuche ich den Moment zu genießen, so viele Songs zu schreiben, wie es geht, und mich keinen Erwartungen zu unterwerfen. Deswegen kann ich dir auch nicht sagen, wie sich meine Solokarriere entwickeln wird. Ich weiß nur, dass ich die Dinge unter Kontrolle haben will und nicht will, dass ich das Gefühl habe, mein Leben nicht im Griff zu haben wie zuletzt bei HWM.
Wie ist denn deine Beziehung zu den anderen drei HWM-Mitgliedern, die jetzt in THE DRAFT spielen?
Oh, gut. Das Problem ist nur, dass kaum jemand von uns Zeit hat, um miteinander zu sprechen. THE DRAFT sind ja sehr viel unterwegs und ich bin von Florida nach Kalifornien gezogen, so dass die Chancen, sich mal über den Weg zu laufen, fast null sind. Dennoch, wenn wir Kontakt miteinander haben, spüre ich sofort diese alte und intensive Freundschaft. Neulich habe ich mit Chris telefoniert und es hat sich so angefühlt, als hätten wir uns gerade gestern zuletzt gesehen.
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