Vier Jahre haben SICK OF IT ALL für ein neues Album gebraucht. Jetzt ist „Last Act Of Defiance“ da: unverwüstlicher, gesellschaftskritischer New-York-Hardcore, wie immer. Ein Gespräch mit Bassist Craig Setari über Szeneveteranen, Raufbolde und George Orwell.
Craig, ein Song auf „Last Act Of Defiance“ heißt „Get Bronx“. Ihr stammt aus Queens, einem New Yorker Stadtteil, der gleich neben der Bronx liegt. Ist das Stück eine Hommage an eure alte Heimat?
Nein, „Get Bronx“ hat damit nichts zu tun. Das ist vielmehr ein Begriff, den ich gemeinsam mit Freddy von MADBALL in die Welt gesetzt habe. Ein kleiner Witz für Insider: Immer wenn wir rumsitzen und keinen Bock auf irgendetwas haben, oder wenn wir wissen, es muss etwas getan werden, uns aber nicht aufraffen können, sagen wir, „Yo, get Bronx!“, um uns zu motivieren. Das hat sich einfach so ergeben. Und als ich die Songs für unser neues Album arrangierte und mir Texte überlegte, kam mir dieser Begriff ständig in den Kopf. „Get Bronx! Get Bronx!“ – ich habe das immer in die Melodie eingebaut und vor mich hin gesungen und damit das Timing der Texte in verschiedenen Stücken damit ausprobiert. Und daraus wiederum entstand dann dieser Song mit seinem Chant im Refrain.
Ein Lied also, in dem es ums Abhängen und Faulenzen geht?
Nein, haha. Absolut nicht. Im Gegenteil: Es geht darum, dass wir tun können, was wir wollen. Das Stück soll vermitteln, dass man einstehen muss für das, was man für richtig und gut hält – gerade wenn man von Lügen umgeben ist und Hindernisse überwinden muss.
An welche Lügen und Hindernisse, an welche Situationen denkst du dabei?
Vor allem an Polizeiaktionen, Polizeiwillkür. Wenn dich Cops einfach so, ohne Grund, angehen und versuchen, dir Dinge anzutun, die sie dir nicht antun dürfen. Wenn sie versuchen, dir Dinge anzuhängen, die du gar nicht getan hast. Sie haben dazu nicht das Recht. Aber sie tun es trotzdem, weil sie nach irgendeinem Schuldigen, nach einem Bauernopfer suchen. Um solche Ungerechtigkeiten geht es. Darum, dass man dann aufstehen und sagen sollte: „Get Bronx!“ Also: „Tu etwas dagegen!“ Und der Aufhänger dafür ist eben die Bronx. Der Bezirk, aus dem wir kommen. Es ist ein harter, rauher Stadtteil, einer, in dem man sich wehren muss.
Ein weiteres Lied auf dem neuen Album heißt „DNC“. Wenn man danach im Internet sucht, kommt man auf „bDemocratic National Comittee“, die nationale Organisation der Demokratischen Partei der USA. Was bitteschön wollt ihr damit andeuten?
Haha, gar nichts. Denn das ist damit nicht gemeint. „DNC“ ist eine Abkürzung für „Do not comply“. Dieser Song soll ganz konkret sagen: Wenn ein Gesetz erlassen wird, das ungerecht und eigentlich gegen die Verfassung ist, dann lehne es ab! Und: Begehre auf, wenn deine Regierung korrupt ist! Es ist ja so: In den USA muss jeder Politiker, jeder Beamte auf die Verfassung schwören, wenn er oder sie ins Amt gewählt wird oder ein Amt ausführt. Und dann setzen sich genau diese Personen auf einmal für Gesetze ein, die sich ganz klar gegen die Verfassung, gegen die Grundrechte und gegen die Menschlichkeit richten. Du musst wissen: Unser Auftrag seit Gründung der USA ist es, dass wir, die Bürger, uns an solchen Sachen nicht beteiligen, dass wir den entsprechenden Personen nicht folgen sollen. Die Verfassung sagt diesbezüglich: Begehre auf! Das ist deine Pflicht. Aber gleichzeitig ist genau dieses Aufbegehren dem Gesetz nach illegal.
Das zeigt, dass sich nicht viel verändert hat, seit den Anfängen des von vornherein politisch geprägten Hardcore in den USA. Über diese Dinge singt ihr seit mittlerweile 28 Jahren – wie viele andere Hardcore-Bands.
Richtig. Die Botschaft der Hardcore-Bands war schon damals, dass die Welt von den Eliten übernommen wird und dass die Freiheit des Individuums eingegrenzt wird. Und das passiert heute immer noch. Es ist sogar noch schlimmer geworden: In den USA ist es heutzutage etwa verboten, ohne Erlaubnis zu protestieren. Du hast kein Recht auf Redefreiheit mehr. Die Regierenden sagen zwar, dass es dieses Recht noch gebe. Aber es existieren mittlerweile Gesetze, die genau das als illegal deklarieren.
Inwiefern gilt das auch für Musiker wie euch?
Es ist zwar noch nicht so, dass man für das Textblatt, das man geschrieben hat, in den Knast geht. Aber der Boden dafür ist bereitet. Und wer weiß, wo das noch hinführt? Es wird härter und ungemütlicher. Schau dir nur einmal den Clear Channel bei uns in den USA an: Das ist ein Zusammenschluss von Radiosendern, hinter dem, meiner Meinung nach, die Regierung steckt. Und diese Organisation nimmt extremen Einfluss auf die Musik. Sie spielt nur noch Mainstream-Musik. Die Subkultur, der Underground wurden dadurch in den USA beinahe zerstört. In Europa gibt es noch eine Szene mit vielen Möglichkeiten, Musik abseits des Mainstreams zu präsentieren. Bei uns ist das nicht mehr der Fall. Die Welt, das Leben werden immer mehr eingeschränkt. Alles wird restriktiver und mehr und mehr manipuliert.
Der Überwachungsstaat?
Genau. Wir haben uns beim Schreiben von „Last Act Of Defiance“ auch tatsächlich an George Orwells Roman „1984“ orientiert, in dem es ja um genau so einen totalitären Überwachungsstaat geht. Es ist doch so: Die alte Weltordnung mit dem Kalten Krieg ist vorbei. Jetzt leben wir innerhalb der neuen Weltordnung. Und die zeichnet sich aus durch das Wegfallen von persönlichen Freiheiten, durch Destruktion und durch einen Polizeistaat. Gleichzeitig sind die Menschen abgestumpft durch die neuen Technologien. Sie interessieren sich nicht mehr für die Realität und wissen nicht mehr, wie sie miteinander reden sollen, ohne dass ein Computer dazwischen geschaltet ist.
Wenn man diese Intention eurer Songs nimmt, den Titel eures Albums als „Letzte Trotzhandlung“ übersetzt und dann auch noch das Cover der Platte betrachtet, auf dem eine Ratte in den Schwanz einer Schlange beißt und dabei von der Schlange selber gerade verschlungen wird, dann wirkt das vor allem sehr hoffnungslos. Die Ratte wehrt sich tapfer, aber sie wird sterben.
Nein, wir wollen keine Hoffnungslosigkeit vermitteln. Das alles ist nur eine Beschreibung der Dinge, die vor sich gehen. Jetzt geht es darum, was jeder für sich selber daraus für Schlüsse zieht. Ich kann weiter um den heißen Brei herumreden und meckern. Oder ich stehe bereit – und handele.
Apropos handeln: Als Band tut ihr genau das seit 1986. Wie vermeidet ihr es angesichts einer so langen Zeit Routine und Eintönigkeit?
Wir haben in diesem Gespräch bis hierhin zwar vor allem über ernste Songs gesprochen. Aber wir versuchen, darüber hinaus doch immer auch Songs zu schreiben, die etwas – wenn du so willst – leichter und entspannter sind. Wir versuchen, eine gute Mischung zwischen politischen und Spaßsongs hinzubekommen. Dadurch wird das Musikmachen für uns abwechslungsreicher. Zudem helfen uns Konzerte enorm. Jeder Auftritt ist für uns eine Möglichkeit, Energie abzulassen, auch negative. Selbst wenn wir ernste Songs spielen, gibt uns das live ein gutes Gefühl. Es ist die pure Freude. Wir fühlen uns dadurch besser. Und wir vermeiden genau damit Routine und Langeweile.
Soweit ich weiß, lebt ihr gar nicht mehr alle in New York. Wie nehmt ihr da eure Alben auf, wie probt ihr für eine Tour?
Nein, wir leben an vielen Orten über die Ostküste verteilt, bis runter nach Florida, wo Pete hingezogen ist. Früher, als wir noch alle in New York lebten, trafen wir uns regelmäßig im Proberaum. Mittlerweile tüfteln wir alle auf eigene Faust an Songideen. Die schicken wir uns per Mail zu. Und wenn es ernst wird, setzen wir uns in zeitlichen Blöcken – eine Woche, zwei Wochen – zusammen und arbeiten an dem Material. Dann gehen wir wieder auseinander, experimentieren – und treffen uns wieder. Solange, bis irgendwann ein Album herauskommt. „Last Act Of Defiance“ war letztlich das Album, an dem wir am wenigsten organisiert gearbeitet haben. Es ist sehr, sehr spontan entstanden.
Warum habt ihr dann so lange gebraucht, um es zu veröffentlichen?
Du hast recht, es hat lange gebraucht. Normalerweise machen wir das anders: Wir arbeiten ein Jahr lang an einem Album. Es kommt raus, wir touren etwas – und dann fangen wir mit dem Nachfolger an. Nach „Based On A True Story“ 2010 haben wir aber eine ganze Menge an Tournee-Angeboten bekommen und waren entsprechend viel unterwegs. Das war mehr als sonst. Allein das hat uns bestimmt ein Jahr gekostet. Dann wurde Pete Vater. Wir veröffentlichten unsere Best-Of-Platte „Nonstop“ mit überarbeiteten Klassikern. Kurzum, eins kam eins zum anderen – und plötzlich waren es vier Jahre.
Nach so langer Zeit im Geschäft, wie schwer ist es für euch geworden, Band und Privatleben miteinander zu vereinbaren?
Es ist natürlich schwieriger geworden. Das Leben ist komplizierter, wenn man eine Familie hat. Man hat auf einmal mehr Verantwortung und muss viele Dinge unter einen Hut bekommen. Aber das ist eben so. Das muss man trennen: Wenn wir daheim sind, dann zählt nur die Familie. Wenn wir auf Tour sind, dann zählt die Band. Dann widmen wir uns dem voll und ganz. Aber wir können das sehr gut trennen. Wir sind da recht professionell und sind es mittlerweile gewohnt. Als Erwachsener musst du mehr Dinge in weniger Zeit bewältigen. Als wir Teenager waren, hatten wir mehr Zeit und mussten uns um nichts kümmern, haha.
Ihr seid Veteranen einer Szene, die schon lange existiert. Inwiefern müsst ihr als „Alte“ besonders intensiv darüber nachdenken, wie ihr junge Menschen für euch gewinnen könnt, um relevant zu bleiben?
Gar nicht so viel. Unser Glück ist es, dass wir klassischen New York Hardcore spielen. Und jeder, der sich für diese Musik interessiert und sich mit ihr auseinandersetzt, wird zwangsläufig bei SICK OF IT ALL landen. Genauso wie bei AGNOSTIC FRONT, bei BIOHAZARD und MADBALL. Alle diese Bands haben die Szene geprägt und mit Leben gefüllt. Das ist wie mit Punk im klassischen Sinne: Wer sich dafür interessiert, der wird nicht um die RAMONES herumkommen. Und wer sich für Hardcore allgemein interessiert, der landet bei den BAD BRAINS oder BLACK FLAG. Abgesehen davon: Wir sind vielleicht Veteranen, aber keine alten Männer. Dafür sind unsere Shows zu energetisch. Da weiß jeder, was er bekommt. Darauf kann sich jeder verlassen.
Warum ist New York Hardcore auch nach drei Jahrzehnten noch relevant?
Weil New York Hardcore nie ein Fake geworden ist und niemals zu etwas Blödsinnigem wurde. Wir rocken aggressiv, reißen uns den Hintern auf und äußern unsere Meinung. Und das ist eine Sache, die viele Menschen, die Wert auf Ehrlichkeit legen, zu schätzen wissen, auch wenn sie die Musik an sich vielleicht gar nicht mögen. Sie respektieren uns und diese Art der Musik.
Hand aufs Herz: Wie schwer fällt es euch, nach so vielen Jahren die Spannung, die Kreativität, die Aggressivität immer auf einem Level zu halten.
Ach, das Einzige, was wirklich schwer ist, ist der Jetlag beim Touren, den man immer wieder überwinden muss, haha.
Das Klischee besagt, dass der New York Hardcore im Gegensatz zum Hardcore aus Washington oder von der Westcoast viel härter ist und von Raufbolden anstelle von Menschen mit einem Hang zum Intellektuellen gespielt wird. Wie kommt dieses Image zustande?
New York ist letztlich ein kleiner, schwieriger Ort. Als wir aufwuchsen, in den Siebzigern, war es hart auf der Straße. Es gab viele Szenen, rivalisierende Gangs, zu viele Leute auf engem Raum, Kriminalität. Und daraus entstand der New York Hardcore. Die Songs drehen sich seit jeher also um das wahre Leben. Insofern, ja, New York Hardcore ist rauh und hart. Aber er ist keine dumme, stupide Musik. Er ist intelligent. Und das vergessen viele Menschen. Es geht um die Kritik an einer Umgebung und einer Welt, die nun einmal nicht immer und überall schön ist.
Trotzdem ist in diesem Genre immer auch Gewalt ein Thema.
Das stimmt. Es gab schon immer auch Bands, die Gewalt in diese Musik brachten – und sich dadurch sehr dumm verhielten. Aber diese Fraktion hat denn auch nie lange überleben können. Die Veteranen, Bands wie wir, sind dagegen immer noch da. Wir sind natürlich auch aggressiv, klar, aber niemals blind aggressiv. Wir sind keine Idioten. Wir waren noch nie gewalttätige Typen. Wir haben ganz einfach nur eine Geschichte zu erzählen. Wir wollen zeigen: Das und das läuft falsch. Tut etwas dagegen! Und dafür, für diese klare Sprache, müssen wir uns nicht entschuldigen.
Apropos Gewalt: Ihr habt der Legende nach die recht martialisch anmutende „Wall of Death“ erfunden – also das Phänomen, dass sich die Fans vor der Bühne in zwei Reihen gegenüberstellen und auf ein Kommando hin aufeinander zustürmen.
Stimmt, die Wall of Death ist ein New York-Hardcore-Ding. Erfunden von uns, den Raufbolden und Schlägern, haha. Nein. Im Ernst, wir haben irgendwann damit angefangen und andere Bands haben nachgezogen. Es war etwas, das die Härte auf den Straßen New Yorks widerspiegelte und unmittelbar auf die Konzerte übertrug. Es war aber nie eine durchgeplante, irgendwie organisierte Angelegenheit. Es passierte einfach.
Du sprichst von diesem Phänomen im Imperfekt, in der Vergangenheit – weil sie heutzutage inflationär bei fast allen Rockkonzerten zelebriert wird und den Reiz verloren hat, oder wieso?
Ja. Heute ist das nichts Besonderes mehr. Es hat sich etwas überlebt. Ab und zu starten wir die Wall zwar immer noch, aber nicht mehr regelmäßig.
Hätte dir vor 28 Jahren jemand prophezeit, dass SICK OF IT ALL 2014 immer noch am Start sein werden – wie hättest du reagiert?
Ich hätte ihm gesagt: Niemals. Unmöglich! Das werde ich niemals so lange durchhalten. Ernsthaft, wir haben das auch nie geplant. Wir wollten immer einfach gute Hardcore-Shows spielen, ohne groß an die Zukunft zu denken. Es ging immer um den Moment. Überhaupt, dass aus dem New York Hardcore eine so wichtige, weltweite Bewegung würde, hätte niemand von uns je erwartet damals. Heutzutage ist es für mich erklärbar: Es ging im Hardcore immer darum, Missstände anzuprangern. Echte Musik für echte Menschen und über echte Menschen und die Realität. Und so etwas bleibt immer aktuell.
Was könnt ihr von jüngeren Bands lernen?
Dass man niemals abstumpfen sollte. Man schaut auf die nachfolgende Musikergeneration und bekommt neue Einblicke und Perspektiven. Man sieht, dass die Sache mit dem Hardcore noch immer funktioniert. Wenn ich mir junge Bands anschaue, dann bleibe ich enthusiastisch. Wie ein Kind. Es hält mich mental jung.
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