SICK OF IT ALL

Foto© by Vincent Grundke

Stadtgeschichte

Es ist ein Bild mit Symbolkraft: Wie einst King Kong und Godzilla erklettert der bekannte Drache das Empire State Building. Längst ist das geflügelte Bandlogo selbst zum Wahrzeichen von New York City geworden. Lou Koller und Armand Majidi sprechen über ihre Stadt, alte Verschwörungen, neue Herausforderungen und das elfte Studioalbum „Wake The Sleeping Dragon!“.

Momentan befinden wir uns aber in der niedersächsischen Provinz, nebenan spielen TORFROCK. „Mir wurde gesagt, ich sollte mir diese verrückte Band ansehen, die hätten einen Riesenhit über eine Comicfigur gehabt!“ Daraus wird nichts, nur kurz lässt Lou sich erklären, was es mit den Werner-Comics auf sich hat und wie man TORFROCK überhaupt ausspricht. Dann einigen wir uns darauf, lieber fertig zu sein, bevor MADBALL die Reload-Festivalbühne betreten.

MADBALL sind eine der wenigen NYHC-Bands mit einer vergleichbar dauerhaften Karriere. „Wir haben großes Glück mit der Langlebigkeit dieser Band. Aus irgendeinem Grund wollen die Leute uns immer noch zuhören!“, sagt Armand und Lou ergänzt: „Wir schreiben einfach immer noch gutes Material. Wenn das nicht so wäre, könnten wir zu Hause bleiben. Ich war bei der Show zum dreißigjährigen Jubiläum von KILLING TIME, und ich sagte: Dreißig Jahre? Mindestens die Hälfte der Zeit gab es die Band doch gar nicht! Alle lachten und fragten mich, wie man bloß zehn oder elf Hardcore-Alben schreiben kann? Die Antwort ist: Es ist nun mal unsere Leidenschaft. Nur weil wir THE SMITHS mögen, kämen wir nie auf die Idee, wie die klingen zu wollen. So sind wir eben nicht.“ SICK OF IT ALL brauchten keine Reunion, sie waren nie weg. Den eigenen dreißigsten Bandgeburtstag feierten sie mit aufwändig in Buchform verpackten neuen Songs („When The Smoke Clears“). „Uns ist seit einiger Zeit klar, dass wir auch die gleichen alten Songs immer weiter spielen könnten. Wir brauchen eigentlich keine neuen Alben, aber da ist immer noch dieser kreative Drang. Ich liebe den schöpferischen Prozess fast mehr als das Touren!“

Auf der Bühne sind SICK OF IT ALL unschlagbar, Ermüdungserscheinungen gibt es, wenn überhaupt, nur bei Teilen des Publikums. Lou Koller lacht und erläutert einen der neuen Songs: „Also, ein ,Hardcore horseshoe‘ entsteht, wenn man bei einer Show auf die Bühne kommt. Es war mal so, dass alle vorne standen, heute stehen sie oft in einem riesigen Halbkreis vor der Bühne, mit viel Platz in der Mitte. Das Hufeisen! Man sieht die Leute jedes Wort mitsingen, sie sind mit ganzem Herzen dabei – bleiben aber hinten. Vor ein paar Tagen, in Lindau, ist mir das wieder aufgefallen. Ich dachte, nachher werdet ihr sowieso verschwitzt und heiser sein, also kommt doch näher! Wird es vor der Bühne voller, gibt es allerdings schnell Stagedives, und ab einem gewissen Alter ist man nicht mehr so begeistert, wenn einem jemand auf den Kopf springt!“ Armand: „Wir haben die Theorie, dass das damit zu tun hat, wie viele Typen bei unseren Shows mittlerweile mit schütterem Haar auftauchen – die ganze Szene ist älter geworden!“.

New York City Hardcore als Coming-of-Age-Story, SICK OF IT ALL haben zahllose Erinnerungen zu teilen. Zum Beispiel wie sie Ernie Parada kennen lernten, der das Artwork des neuen Albums im klassischen Filmplakat-Look lieferte. „Ernie wurde uns von Anthony, dem damaligen Sänger von TOKEN ENTRY, vorgestellt. Das war 1985 oder 1986, als wir versuchten, keine einzige Show im CBGB’s zu verpassen.“ Oder an die BAD BRAINS, um die es in „That crazy white boy shit“ geht. „Als wir diese Musik für uns entdeckten, waren wir unablässig auf der Suche nach neuen, noch besseren Bands. Ich bekam von einem Freund ein BAD BRAINS-Tape, das muss noch gewesen sein, bevor die Band von Washington, DC nach New York City umzog. Das war unglaublich guter Sound, und das waren alles schwarze Jungs. In unserer Schule wurde Hardcore damals von allen nur als diese verrückte Weiße-Jungs-Musik bezeichnet“, erinnert sich Armand, „dabei kam die beste Musik dieser Art von ein paar Rastafarians! ‚That crazy white boy shit‘ ist eine Hommage an die BAD BRAINS und ein Plädoyer dafür, der Hautfarbe keine Bedeutung beizumessen.“

Auch „Robert Moses was a racist“ ist so ein Plädoyer. Armand erklärt: „New Yorkern ist Robert Moses ein Begriff. Er war der einflussreichste Stadtplaner in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts, und er wird bis heute verehrt. Es gibt ein Denkmal und den Robert Moses State Park auf Long Island, dabei hat sich der Mann viele Gedanken darüber gemacht, wie man zum Beispiel den großen Teil der schwarzen und puertoricanischen Bevölkerung vom Jones Beach fernhalten kann.“ Lou übernimmt: „Ich erinnere mich, als Kind über den Southern State Parkway zu diesem Strand gefahren zu sein, unter coolen kleinen Steinbrücken hindurch. Die waren so niedrig gebaut, dass die städtischen Busse nicht unter ihnen durchfahren konnten. Die Schilder mit der Durchfahrthöhe habe ich gesehen, aber mir war nicht klar, dass die Brücken absichtlich so niedrig gebaut worden sein könnten, um jeden draußen zu halten, der sich kein Auto leisten konnte.“ Armand: „Das waren rassistische Maßnahmen gegen die farbige Unterschicht der Stadt, die Auswirkungen hatten auf alle Bauvorhaben in Vierteln, die von Schwarzen und Puertoricanern bewohnt waren, wie Spielplätze oder Parks angelegt wurden, sogar auf die Wassertemperaturen in Schwimmbädern, die man absichtlich niedrig hielt in der Annahme, die nichtweiße Bevölkerung würde dadurch ferngehalten.“ An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass diese Vorwürfe umstritten sind. Die niedrigen Brücken hielten zwar tatsächlich jeden von bestimmten Naherholungsgebieten fern, der auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen war, das kann aber auch ein Resultat der damaligen auf Automobile fixierten Politik gewesen sein.

Vor steilen Theorien schrecken SICK OF IT ALL jedoch nicht zurück. Ein anderer neuer Song greift das Schlagwort „Deep state“ auf. „Es geht darum, wie Ereignisse medial benutzt werden, um die Leute von Unwahrheiten zu überzeugen. Es ist eine Form von Gehirnwäsche, mit der Gesetze durchgeboxt werden können, die den Menschen ihre Bürgerrechte nehmen.“ Von waschechten Verschwörungstheorien ist man damit nicht weit entfernt, der Vorwurf trifft Armand aber nicht. „Davor darf man keine Angst haben. Wenn man als Verschwörungstheoretiker bezeichnet wird, sollte man aufstehen und widersprechen, sofern man sinnvolle Argumente hat. Es gibt so viele historische Beispiele, wie etwa Kriege durch False-Flag-Aktionen begonnen wurden. Der Vietnamkrieg begann so, viele glauben auch, dass die USA vom japanischen Angriff auf Pearl Harbor wussten – und ihn geschehen ließen. Vieles, was in Geschichtsbüchern steht, sollte in Frage gestellt werden dürfen!“ Lou unterbricht ihn: „Außer du glaubst, die Erde ist eine Scheibe, dann bist du einfach völlig durchgeknallt!“ Man kann sich darauf verlassen, dass Lou das Gespräch nie zu ernst werden lässt, Armand und er ergänzen sich wie Geschwister. Auch Armand wirkt bei diesen Themen nicht zu verbissen, obwohl man sich vorstellen kann, wie er im nächsten Moment Unterlagen zur Entlarvung internationaler Hintermänner rauskramt. Das Thema fasziniert jedenfalls beide, und schnell kommen wir auf Alex Jones, einen der bekanntesten Verschwörungswirrköpfe.

„Alex Jones ist ein schräger Typ. Wenn man sich ansieht, was der verzapft, glaubt man fast, er würde mit seinen bescheuerten Ideen bewusst vor Kameras gestellt, um jeden als verrückte Nuss dastehen zu lassen, der Kritik übt. Selbst wenn man auf rationale Weise versucht, Dinge zu hinterfragen, ist man sofort ein Spinner wie Jones!“, meint Armand, und hier springt ihm auch Lou bei: „Während der ‚Occupy Wall Street‘-Proteste haben die Medien nicht die Leute gezeigt, die vernünftig erklären konnten, warum sie auf die Straße gehen. Stattdessen interviewten sie den Typen, der in Alufolie gekleidet über Selbstbestimmungsrechte von Hunden sprechen wollte! Genauso werden sie bei einer Trump-Veranstaltung niemanden filmen, der nachvollziehbar erzählt, warum er Trump unterstützt, sondern den Redneck, der Weltraumtruppen fordert, um gegen Space-Terroristen zu kämpfen. Jeder soll von der anderen Seite nur noch denken, wie dumm die alle sind!“ An dieser Stelle läuft das Gespräch zwischen den beiden weiter, ich frage zwischendurch, was sich mit der Wahl Trumps geändert hat. Armand: „Ich bin eher davon überrascht, wie wenig unter Obama besser wurde!“ Lou: „Er stieß auf viel Widerstand. Die Republikaner haben ihn bei jedem Schritt bekämpft und blockiert!“ Armand: „Es gab aber auch während Obamas Präsidentschaft rassistische Spannungen, und ich war erstaunt, dass er sich nie dazu geäußert hat. Das zeigt, wie wenig Handlungsfreiheit der Präsident hat. Die Politik wird von anderen bestimmt.“ Lou beantwortet meine Frage: „Was sich verändert hat? Mit Trump im Weißen Haus denken viele, sie müssten ihren Hass und ihre Vorurteile nicht mehr verstecken.“ Armand: „Es gibt ein Interesse, Hass zwischen verschiedenen Bevölkerungsteilen zu schüren, um die Kontrolle zu behalten. Wir sprechen darüber, als ginge es um echte Politik, dabei ist es Entertainment. Deswegen ist jetzt einer wie Trump im Amt, buchstäblich ein Reality-TV-Star! Wir sehen, wie die Leute auf allen Seiten wütender aufeinander werden, diese Polarisierung ist das Ergebnis einer hinter den Kulissen erdachten Strategie.“

Keine Frage, in dieser Runde könnte das weiter diskutiert werden, bis nach dem Headliner KREATOR irgendwann das Licht ausgemacht würde. Unvermeidbar auch das Thema 9/11, schließlich geht es da um die Heimatstadt. Armand stellt fest, dass kontroverse Äußerungen dazu ganze Karrieren beenden könnten, redet aber unbeirrt weiter: „Keine Ahnung, wie es gelang, alle zu überzeugen, dass die offizielle Version der World-Trade-Center-Anschläge in jedem Detail zutrifft. Wenn es je eine Story mit offenen Fragen gab, dann diese! Man darf das zwar in Zweifel ziehen, aber so was kann deine berufliche Laufbahn beenden.“ Das wäre in diesem Fall ausgesprochen schade. Sprechen wir also wieder über Musik.

„Bei diesem Album hatten wir mit Jerry Farley von Anfang an einen Produzenten. Das war neu für uns, er war während der gesamten Vorproduktion dabei, praktisch schon in dem Moment, als wir uns gegenseitig unsere Songideen vorstellten.“ Besonders für Lou bedeutete die Zusammenarbeit eine willkommene Herausforderung. „Üblicherweise gebe ich im Studio einfach Vollgas, sobald ich am Mikrofon stehe. Jerry brachte mich dazu, es auch mal anders zu versuchen. Wir fragen uns immer noch oft, ob bestimmte Ideen überhaupt zu SICK OF IT ALL passen. Nach so vielen Jahren wirkt diese Unsicherheit vielleicht seltsam, aber Jerry war eine große Hilfe dabei, dieses Album so werden zu lassen, wie wir es haben wollten.“ Armand führt den Gedanken weiter: „Bisher war ‚Yours Truly‘ unser experimentellstes Album. Viele Fans haben das damals nicht verstanden, die Reaktionen waren nicht sehr überschwänglich. Mit der Zeit hat sich das geändert, und heute kommen regelmäßig Fans und sagen, ‚Yours Truly‘ sei ihr Lieblingsalbum. Das hat uns ermutigt, die Einflüsse, die unser Leben bestimmt und uns an diesen Punkt gebracht haben, in einzelnen Songs noch deutlicher herauszustellen. Selbst wenn das manchmal für unsere Ohren eher untypisch für SICK OF IT ALL klingt. Es ist ein schmaler Grat, auf Kurs zu bleiben, ohne sich selbst zu langweilen. Viele Bands bringen immer wieder dasselbe Album raus und das kann absolut okay sein. Es wird nur ein Problem, wenn diese gewisse Magie nicht mehr da ist!“

Magie ist kein schlechtes Schlusswort für einen Text, der mit Drachen begann, und wir müssen auch los, ­MADBALL sind dran.