Es gibt Bands, die mich seit frühester Jugend begleiten – und dazu gehören definitiv NEUROTIC ARSEHOLES aus Minden. Als ich sie 1982 zum ersten Mal auf dem Sampler „Soundtracks zum Untergang 2“ hörte – hier vor allem „Kalte Steine“ – gab es die Band schon mehrere Jahre. 1984 konnte ich sie im KuKoZ in Paderborn auch live sehen, ihre beiden LPs gehörten – natürlich auf Tape gezogen – zu meinem Soundtrack der Achtziger. Gründe genug, um mit Bassist Zahni (seit vielen Jahren auch Ox-Schreiber-Kollege) nach all den Jahren zurückzuschauen auf eine der deutschen Punkbands der Achtziger Jahre. Die übrigen Arseholes waren Kurt an der Gitarre, Shorty am Schlagzeug und Dierk, genannt Zombie, als Sänger.
Wie bist du damals auf Punk aufmerksam geworden und wann hat dich das Virus selbst erfasst?
Am Anfang stand die Bravo, die ich ab Anfang der Siebziger Jahre wöchentlich gekauft habe. Denn damals sah ich THE SWEET mit „Wig wam bam“ bei Ilja Richters „Disco“, wurde Fan und hatte das Magazin als „musikalisches Sprachrohr“ für mich entdeckt. In eben jener Bravo tauchten irgendwann 1976/77 die ersten Artikel über Punkbands auf. Ich als „SWEET-Styler“, der nebenbei noch auf SLADE, KISS, THIN LIZZY und AC/DC stand, fand deren Outfit und Auftreten zum Kotzen und konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass die Typen auch nur ansatzweise vernünftige Musik produzieren würden. Schließlich kaufte sich ein damaliger Freund von mir die Single „God Save The Queen“ von den SEX PISTOLS. Ich weigerte mich lange und beharrlich, das Teil anzuhören. Schließlich willigte ich ein und rastete vollkommen aus. Der Song, die Gitarrenriffs und der Gesang waren ein unfassbarer Schlag in die Fresse. Ich bin sofort auf mein Fahrrad gesprungen, zum Plattenladen meines Vertrauens gerast, ergatterte tatsächlich noch ein Exemplar von „God Save The Queen“ und als Sahnehäubchen obendrauf auch noch die erste Single der SEX PISTOLS, „Anarchy In The UK“. Das ist bis heute ganz sicher immer noch in den Top 10 der geilsten Tage meines Lebens. Der Rest kam von selbst. Ich hatte gleichgesinnte Freunde. THE CLASH, RAMONES, THE DAMNED ... John Peel rauschte in unser Leben, dieser großartige Typ, der geradezu ein „Messias“ für uns wurde ... THE LURKERS, STIFF LITTLE FINGERS, UK SUBS, DICKIES ... Es gab kein Halten mehr. John Peels „Rock Today“ lief zu der Zeit immer am Samstag um zwölf Uhr mittags. Wir hatten bis zwölf Uhr Schule. An diesen Samstagen habe ich die Basis für sowohl schnelles als auch ausdauerndes Fahrradfahren geschaffen.
Was bedeutete Punk damals für dich?
Punk bedeutete erst einmal total geile Musik und ein anderes Lebensgefühl. Euphorie. Härte. Ich kapierte zuerst nicht, warum mich der Frust und die Wut derart ansprachen. Ich dachte eigentlich, alles sei okay so, wie es war. War es aber nicht. Und Punk war der Katalysator und das Ventil. Es hatte definitiv etwas von „Freiheit“, sich von den althergebrachten Ideen und Konventionen zu lösen und zu erkennen, dass es einen anderen Weg gab, den man einschlagen konnte. Mein damaliger Freund Kurt, Gitarrist der NEUROTIC ARSEHOLES, schnappte sich sofort eine alte Klampfe von seinem Onkel und spielte Songs, wir machten kritische Texte und ich sang drauflos. Wir wussten ja nun, dass jeder einfach machen konnte, was er wollte. Das war die Idee von Punk. Keine Beschränkungen, keine Regeln. Ein geiles Gefühl. Ein Fanzine namens Paranoid haben wir parallel auch noch ins Leben gerufen und sind damals mit einer Auflage von zehn Stück gestartet, welche durch den Rip-Off-Laden in Hamburg verkauft wurden.
... und wie ist das heute?
Heutzutage hat sich das alles logischerweise gesetzt. Aber die Grundgedanken und das Grundgefühl sind geblieben. Ich hatte nie Lust, mich fest anstellen zu lassen oder einen Job nur wegen des Geldes dauerhaft zu machen, hatte eine kritische Einstellung gegenüber den gängigen Normen. Daraus resultiert ein recht abwechslungsreicher Lebenslauf. In meiner jetzigen Arbeit als selbstständiger Sozialpädagoge bedeutet dies, dass ich aus einem reichen Fundus schöpfen kann. In erster Linie sind das respektvolles Verhalten „meinen Klienten“ gegenüber, die Akzeptanz von allen möglichen Lebensentwürfen und auch der emphatische und differenzierte Umgang mit krassen Abgründen. Punk hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Zudem bin ich immer noch auf Konzerten, zugegebenermaßen nicht mehr so häufig wie früher, habe langjährige Freunde, die sich aus dem Punk und Hardcore rekrutiert haben, und mache immer noch Musik mit TAG/OHNE/SCHATTEN. Punkrock with friends!
Gab es von deiner Seite aus von Anfang an die Idee, Musik zu machen? Und wie und wann haben sich NEUROTIC ARSEHOLES gegründet?
Wie gesagt, es war ein erster Reflex, selber Musik zu machen, und da diente die Gitarre im Zimmer von Kurts Onkel natürlich als Starthilfe. Ich hatte in der Schule gute Gesangsnoten, deshalb war ich als Sänger auserkoren. Fegel, der Dritte im Bunde, welcher voll auf die Punk-Welle abfuhr, wollte Bass spielen und hatte auch mit Kurt zusammen die Idee zu unserem Namen NEUROTIC ARSEHOLES. Allerdings hat er sich dann mit Kurt zerstritten und so habe ich mir ob des fehlenden Ersatzes irgendwann einen Bass gekauft. Kurt und ich trafen uns mehrmals in der Woche im Keller seiner Eltern und schrummten drauflos, als gäbe es kein Morgen. Das war 1978. Irgendwann begegnete Kurt in einem Mindener Plattenladen Shorty. Dieser trug eine Lederjacke mit den Namen diverser Punkbands auf dem Rücken. Im Gespräch stellte sich heraus, dass Shorty zwar erst 13 war, aber ein Schlagzeug in seinem Zimmer stehen hatte. Der Junge war drin, sofort. Von diesem Tag an trafen wir uns im Zimmer von Shorty. Kurt benutzte einen alten Kassettenrecorder als Gitarrenverstärker und ich hatte einen Kompakt-Plattenspieler für meinen Bass. Wir probten eifrig zu dritt, aber irgendwie war das noch nicht „rund“. Wir schrieben 1979/80. Zu der Zeit war der Dienstag in unserer hauseigenen Disco Musikbox als „Punktag“ ausgerufen worden. Da war eine Menge los, irgendwann auch für all die Leute, die einfach nur da sein und der Punkmeute beim Pogen auf der Tanzfläche zuschauen wollten. Regelmäßig trieb sich dort ein echt „harter Punk“ rum, Zombie. Dieser agierte absolut autark, kam ursprünglich aus Köln und war ziemlich respekteinflößend. Der Einzige, der sich davon nicht beeindrucken ließ, war Shorty. Dieser sprach ihn an einem Dienstag an. „Hey, wir sind eine Punkband, heißen NEUROTIC ARSEHOLES und suchen einen Sänger. Hast du Lust?“ Zombie aka Dierk erschien zur nächsten Probe und es war geil. Die Eltern von Shorty waren zuerst etwas irritiert, aber Dierk war grundsätzlich auch ein freundlicher Kerl, also alles kein Problem.
Wer hatte die Idee zu eurem Namen? Und was bedeutet er für dich?
Die Idee hatten Kurt und Fegel. Arseholes anstatt Assholes resultierte daraus, dass wir alle am Gymnasium waren und Englisch-Leistungskurs hatten. Da gab es keine „Assholes“... alles schön britisch. Der Name hatte zwar keine besondere Bedeutung für mich, sich selber als neurotische Arschlöcher zu bezeichnen, jedoch eindeutig etwas punkiges und deshalb gefiel er mir. Es gab auch keine Diskussionen darüber, der stand einfach fest.
Welche Einflüsse hattet ihr?
Wir waren logischerweise vom frühen Punkrock, besonders aus England, beeinflusst. Kurt und ich hörten komplett das gleiche Zeug. SEX PISTOLS, LURKERS, STIFF LITTLE FINGERS, CRASS, THE CLASH, SKIDS, THE JAM ... Beim US-Punk gab es bei den DEAD KENNEDYS, DICKIES, ganz besonders den BAD BRAINS sowie ein paar anderen ganz frühen Bands Übereinstimmungen. Von den deutschen Bands waren BUTTOCKS, SLIME und RAZORS Dauerbrenner, die erste Single von DER MODERNE MAN und auch die erste PHOSPHOR-Scheibe waren Kult. Irgendwann allerdings hörten wir alle bei den NEUROTIC ARSEHOLES komplett unterschiedliches Zeug. Das tat aber erst mal weder unserer Haltung als „Punkband“ noch unserem Songwriting einen Abbruch.
Wo habt ihr geprobt – und wie oft?
Zuerst bei Kurts Eltern im Keller, dann bei Shorty im Zimmer. Kurz nachdem Zombie eingestiegen war, kauften Kurt und ich uns „echte“ Verstärker und Boxen und nahmen ein erstes Demo im Tonstudio einer Bluesband aus Minden auf. Diese verschaffte uns dann einen Proberaum in einem Dorf in der Nähe von Minden. Nach geraumer Zeit landeten wir wieder im Keller von Kurts Eltern, dieses Mal in einem anderen Raum als zu unseren Anfängen. Den richteten wir auch ordentlich her, Teppiche und Eierpappen an der Wand. Ab etwa 1985 probten wir dann in einem Jugendzentrum in einem Problemstadtteil Mindens. In der Anfangszeit haben wir uns unregelmäßig und so oft wie möglich zum Proben getroffen, mehrmals die Woche. Später bekam das einen etwas festeren Rhythmus von den Tagen her. Einmal auf jeden Fall, manchmal auch zweimal pro Woche. Vor Studiosessions haben wir tagelang hintereinander geprobt.
Wie sah die Punk-Szene in Minden aus? Gab es ein autonomes Zentrum, die Möglichkeit, selbst Konzerte zu organisieren?
Die Punk-Szene war, so möchte ich mal behaupten, vergleichsweise und im Kontext zur Einwohnerzahl Mindens, ziemlich groß. Es gab diverse Bands und auch Konzerte in Minden sowie im dörflichen Umfeld. In einem Jugendzentrum in der Nähe, dem JZ Porta Westfalica, spielten wir mit den Arseholes am 30.04.1981 unseren allerersten Gig. In diesem JZ konnten wir immer donnerstags einen Raum nutzen, um uns zu treffen und Musik zu hören. 1982 haben wir im JZ Porta zweimal ein so genanntes „Festival der falschen Töne“ organisiert. Beim ersten Mal mit Mindener Punkbands, beim zweiten Mal waren außer uns und den PHALLIC SYMBOLS aus Minden noch BLUT + EISEN sowie die BOSKOPS aus Hannover dabei. Zudem gab es als feste Anlaufstelle noch die Musikbox mit dem dienstäglichen „Punkabend“. Irgendwann kamen auch Punks aus dem näheren Umfeld wie Bielefeld, Herford, Bückeburg und Stadthagen dort vorbei. Da es im Laufe der Zeit aber immer wieder zu handgreiflichen Auseinandersetzungen in der Box kam, wurde dieser Abend irgendwann eingestellt. Die Aggressionen gingen aber weniger von den Punks als von einer auch in der Box anwesenden Motorradgang mit Namen „The United“ aus. Asis, die keinen Bock auf Spaß hatten. Kurt und ich haben von denen auch mal aufs Maul gekriegt.
Exzessiver Alkohol- und Drogenkonsum – gab es den bei euch, in eurer Szene?
Exzessiv ist relativ. Sagen wir mal so: Wir haben schon ordentlich gebechert. Tatsächlich gab es auch den einen oder anderen Drogenfall und auch Jungs, die irgendwann an der Nadel hingen, sowie einige regelmäßige und harte Kiffer. Das waren aber eher Ausnahmen und auch fast ausnahmslos außerhalb unseres Kreises. Wir als relativ fester harter Kern von ungefähr 25 Leuten haben uns regelmäßig getroffen und Partys gemacht, Musik gehört und abgehangen. Da gab es dann Bier in rauhen Mengen. Meine Geburtstagsfeier 1982 im Partykeller meiner Eltern endete damit, dass ein paar meiner Freunde komatös auf ihren Luftmatratzen in einem See von Bier lagen, weil am Ende der ganze Keller überschwemmt war. Mein Vater, der morgens mal nach dem Rechten schauen wollte, wunderte sich, dass sich die Leute auf ihren Matratzen bewegten beziehungsweise hin und her schwappten, also wie auf einem See, hahaha. Solche Dinge wurden in bewundernswerter Weise von all unseren „Öllsten“ mitgetragen, auch wenn es zu Anfang natürlich Stress, Diskussionen und Unverständnis gab. Aber wenn es eng wurde, waren sie da.
Welche Aktionen, Peinlichkeiten, Konzerte sind dir in besonderer Erinnerung geblieben?
In Minden waren ziemlich viele britische Soldaten stationiert. Zombie lernte ein paar von denen kennen, weil die auch gerne kifften. Bo und Batman wurden dann so etwas wie Freunde und waren auch bei einigen Konzerten von uns dabei. Echt witzige Typen, und wenn es drauf ankam, wie zum Beispiel bei einer Auseinandersetzung im Bremer Schlachthof, auch wahrhafte „Bodys“, die keine Angst kannten. Britische Soldaten halt. Bo und Batman sorgten auf jeden Fall dafür, dass wir am 21.12.1982 zur Weihnachtsfeier der Armee in einer der vielen Kasernen, den so genannten „Westminster Barracks“, zum Tanz aufspielen durften. Das war schon krass. Punkrock vor Soldaten. NEUROTIC ARSEHOLES auf einer englischen Weihnachtsfeier. Kann man sich nicht ausdenken. Die „higher ranks“ hielten sich mit ihren etwas feineren Damen dezent im Hintergrund, während uns das „Fußvolk“ komplett abfeierte, natürlich besonders bei unseren englischen Songs wie „New beginning“ oder „I saw you die“. Ein geiler Abend mit viel Spaß und Alkohol. Die krasse Tour am 27./28.09.1985 nach Villingen und Linz werde ich auch nie vergessen. Freitagnachmittag sind wir in Minden mit einem geliehenen Bulli gestartet, irgendwo hinter Köln blieben wir liegen. Mehrere Stunden standen wir an einer Autobahnraststätte, nichts ging mehr, bis Zombie in einer Kneipe im nächsten Dorf jemanden ansprach, der mit ihm nach Köln fuhr und einen anderen Bulli organisierte. Wir luden unser Equipment um und fuhren mit der Kiste nach Villingen, wo wir gegen drei oder vier Uhr morgens ankamen und vor circa achtzig Hartgesottenen das komplette Programm abspulten. Linz am nächsten Tag war ein Rausch, ein unfassbares Konzert. Am Sonntag auf dem Rückweg haben wir unseren kaputten Bus mit dem vollgeladenen Kölner Bulli und einem Abschleppseil über die Landstraße nach Minden gezogen. 350 Kilometer durch die Hölle. Am Montagmorgen habe ich den Ersatzbus mit einem Freund, der mit meinem eigenen Pkw hinter mir herfuhr, zurück nach Köln gebracht. Wahnsinnstour. Kein Geld. Tausend Erinnerungen.
Habt ihr oft in anderen Städten oder im Ausland gespielt? Wie wurden die Konzerte in einer Zeit ohne Internet organisiert?
Erst zum Ende der Arseholes-Zeit ist es uns gelungen, im Ausland zu spielen. In den Jahren zuvor schlug das aus diversen Gründen immer fehl, oft waren kaputte Fahrzeuge schuld ... Das war am 29.06.1985 in St. Gallen in der Schweiz und am 28.09.1985 in Linz in Österreich. Den Linz-Gig haben wir auf der Revival Tour am 06.05.1989 noch mal „wiederholt“, aber das „Original“ war unschlagbar und ist eines jener Konzerte, welche man nie vergisst. Ins Kapu nach Linz haben wir es 1998 noch ein drittes Mal geschafft, einen Tag später war dann noch das EKH in Wien dran. Also, unsere Auslandsauftritte waren rar gesät. Ansonsten haben wir deutschlandweit sehr viel in anderen Städten gespielt. Oft in Berlin, aber auch München, Verden, Bremen, Frankfurt, Crailsheim, Homburg, Paderborn, Hamburg und so weiter. Das AJZ in Bielefeld, wo am 25.01.1986 auch unser damaliger „Abschiedsgig“ stattfand, steht mit insgesamt elf Auftritten einsam an der Spitze. Wohnzimmer. War ja auch gleich um die Ecke, nur etwa vierzig Kilometer von Minden entfernt. Die Konzerttermine wurden damals zumeist per Brief vorgeschlagen und mitgeteilt, es lief sowieso erst mal sehr viel über Briefkontakt. Für Details wurde dann zu sündhaft teuren Kursen telefoniert. Da können meine Eltern ein Lied von singen, wenn die monatliche Telefonrechnung eintrudelte. Schließlich war ich der „Kontakt nach draußen“, das „Sprachrohr“ der Arseholes, sozusagen.
Hast du das Gefühl, dass eure Texte immer noch aktuell sind?
Ich glaube schon, dass unsere Texte immer noch aktuell sein können, zumindest wenn es um allgemeine gesellschaftspolitische oder persönliche Themen geht. Die „... bis zum bitteren Ende“-Platte ist in vielen Teilen, zumindest wenn es um Krieg und Zerstörung geht, eher den frühen Achtzigern zuzuordnen. Trotzdem sind auch hier die meisten Songs und Texte „übertragbar“ und ein stückweit zeitlos. Krieg ist nach wie vor alltäglich, Songs wie „Kalte Steine“, „Gib nicht auf“, „Scheintod“ oder „New beginning“ stehen grundsätzlich für sich. Das ist okay für mich, auch wenn ich dazu kein spezielles Gefühl abrufen kann. Ich finde, unsere Texte waren immer recht differenziert und durchdacht.
Gibt es Texte beziehungsweise Songs, die du so heute nicht mehr schreiben oder auch spielen würdest?
Geschrieben habe ich sowieso keinen Song, die Musik kam komplett von Kurt. Zudem hat er einen Großteil der Texte verfasst, gefolgt von Zombie. Die Songs, die uns relativ schnell nicht mehr gefielen, haben wir damals schon nicht mehr gespielt und später auch nicht. „Razzia“, „Technischer Horror“, „Hass“, „Ce soir“ zum Beispiel. Für mich würde sich grundsätzlich die Frage stellen, ob es noch angemessen wäre, Songs aus unserer Jugend, mit allem was dazugehörte, mit Ende fünfzig noch live zu spielen. Davon abgesehen kann ich zu allem, was wir produziert und musikalisch auf die Beine gestellt haben, immer noch zu 100% stehen!
Wie ist der Kontakt zu Aggressive Rockproduktionen zustande gekommen? Wie hast du die Aufnahmen zu eurer LP „... bis zum bitteren Ende“ in Erinnerung?
Zombie lief mit unserem ersten Demo, dem aus dem Bluesband-Studio, in Berlin herum. Irgendwer machte ihn in einer Kneipe darauf aufmerksam, dass jener Mensch dort am Tresen Karl-Ulrich Walterbach sei, der das Label Aggressive Rockproduktionen betreiben würde. Dierk sprach ihn an und drückte ihm unser Demo in die Hand. Kurze Zeit später bekam ich einen Brief von Karl, in dem er jeden Song auf dem Demo analysierte und zu dem Schluss kam, dass es für eine LP noch nicht reichen würde und er uns deshalb für drei Songs für „Soundtracks zum Untergang 2“ nach Berlin einladen würde. Nach diesen doch recht desaströsen Aufnahmen – wir keine Ahnung, der Mixer scheiße – kam es ein Jahr später, 1982, zu unserem Beitrag für den „Underground Hits 1“-Sampler, wiederum mit drei Tracks. Ein weiteres Jahr und ein erneutes Demo danach waren wir „reif“ für die „... bis zum bitteren Ende“-LP. Das war 1983. Die Aufnahmen waren großartig. Eine Woche im Hochsommer in Berlin. Im Music Lab Studio von Harris Johns. Genial. Wir lebten in der Wohnung einer Bekannten von Shortys Eltern, alles total entspannt. Abends waren wir ab und zu mit Karl und Harris essen. In dieser Woche stimmte echt alles.
Ihr seid dann zu Weird System gewechselt. Was war der Anlass? Wie war die Zusammenarbeit?
Karl Walterbach hatte bereits begonnen, sich mehr auf sein Metal-Label Modern Music zu konzentrieren, dieses wurde kommerziell dann ja auch ziemlich erfolgreich. Und irgendwie kann ich mich nicht erinnern, nach der Fertigstellung der Platte noch großartig Kontakt zu Karl gehabt zu haben. Wenn es wichtig war, war er vor Ort, danach ging es zum nächsten Projekt. So zumindest mein Eindruck und soweit ja auch in Ordnung. Weird System haben sich 1983/84 bezüglich des „Keine Experimente Vol. II“-Samplers bei uns gemeldet, für den wir „SWAPOland“ und „Alles geht weiter“ aufgenommen haben. Zwei unserer besten Songs, wie ich finde. Die Zusammenarbeit war klasse und irgendwie wirkten die Jungs auch „frischer“ und motivierter als AGR. Nach den Sampler-Aufnahmen war klar, dass wir auch unsere zweite LP bei Weird System rausbringen würden.
Diese zweite LP, „Angst“, die 1985 erschien, wirkt auf mich nicht nur komplexer als euer Debütalbum, sondern auch wesentlich druckvoller. Woran hat das gelegen?
Ich glaube, die Songs an sich sind druckvoller und insgesamt hat die Platte mehr Tempo. Zudem sind alle Stücke in einem relativ kurzen Zeitraum nach „... bis zum bitteren Ende“ entstanden, so dass das alles kompakter war und unseren Sound jener Zeit zwischen 1983 und 1984 widerspiegelte. Unsere erste LP war eine Sammlung aus Stücken, die zwischen 1978 und 1983 entstanden waren. Auch das „Intro“ und „Outro“ von „Angst“ standen für die Kompaktheit der Platte. Zudem konnten wir auch besser spielen ... Grundsätzlich finde ich den Sound der ersten LP allerdings besser, auf „Angst“ vereinigten sich bereits unsere unterschiedlichen musikalischen Interessen. Kurt, der Bands wie THE SMITHS oder R.E.M. hörte, hat dem Ganzen eine recht flirrige und softe Gitarre verpasst. Shortys Drumsound spiegelte seine Vorliebe für eher poppige Sachen à la DEPECHE MODE wider. Dierk und ich vertrauten nach wie vor dem „Punkrock“, wobei sich dieses bei mir musikalisch niederschlug, bei Dierk eher in der Haltung. Diese Kombination macht vielleicht das Flair der Scheibe aus, rein soundtechnisch hätte ich mir aber etwas anderes gewünscht. Bei „Kein Tag ohne Liebe“ zum Beispiel gibt es einen Synthesizer. Ich habe so lange herumgenervt, bis der praktisch nicht mehr zu hören war. Erst dann war ich zufrieden. Es taten sich in gewisser Weise schon erste Gräben auf, ohne dass wir uns jetzt massiv gefetzt hätten. Die Aufnahmen fanden zudem unter widrigen Umständen statt. Es ging von Ende Dezember 1984 bis Anfang Januar 1985. Wir hatten alle verschiedene Pennplätze. Es war saukalt. Wir haben wenig Zeit außerhalb des Studios zusammen verbracht, obwohl ich mich an einen echt lustigen Abend mit Weird System bei einem Konzert, das wir am 28.12.1984 im Nox spielten, sowie eine knallige Schneeballschlacht nachts an der Mauer erinnern kann. Es war immer dunkel. Morgens ins Studio, abends wieder raus. Kurt war beim Mix nicht dabei, weil er Zivildienst hatte. Wir übrigen drei plus die Jungs vom Label haben am letzten Studiotag bis zum nächsten Morgen um sechs den finalen Mix durchgezogen und sind dann ohne Heizung und völlig fertig auf einer komplett verschneiten A2 nach Minden durchgefahren, Müdigkeitshalluzinationen inklusive, da ich der einzig Verbliebene mit Führerschein war. Also alles eher anstrengend. Vielleicht haben wir uns deshalb auch für das beschissene Bandfoto als Backcover entschieden ...
Einer eurer Hits war „Kalte Steine“. Wie passt dieser Song zu den eher doch optimistischeren Texten wie „Land in Sicht“? Und wie kam die Compilation „Kalte Sterne“ zustande?
„Kalte Steine“ ist definitiv unser pessimistischer Song, es geht schließlich um Einsamkeit, Depression und letztendlich auch um Suizid. Dennoch wurde er live vom Publikum immer unfassbar zelebriert und lauthals mitgesungen. Vielleicht spricht er die dunkle, trübsinnige Seite an, die in allen Menschen mehr oder weniger vorhanden ist, und sorgte im Kontext unserer Gigs dann auch für ein Abfeiern derselben. Ignorieren hilft ja nichts, sich seinen Emotionen stellen schon. Ich hatte immer das Gefühl, dieses geschieht dann auch mit einem lachenden Auge. Grundsätzlich finde ich nicht, dass wir überwiegend optimistische Texte haben. Auf der ersten Scheibe gibt es vielleicht fünf Songs, auf der zweiten Scheibe vier, die man in die Kategorie „optimistisch“ einordnen kann. Ein deutlich jüngerer Freund von mir, der unsere erste Scheibe lange nach dem Kalten Krieg hörte, meinte: „Zahnie, was habt ihr denn für krasse Texte? Da geht es ja nur um Krieg, Vernichtung und Tod!“ Wir haben uns darüber amüsiert, diskutiert und festgestellt, wie unterschiedlich die Stimmung zu meiner Jugendzeit war im Vergleich zu seiner. Wir hatten einen Deal mit Weird System, dass insgesamt drei von unseren Songs für Compilations genutzt werden können. So kam „Kalte Steine“ auf die Compilation „Kalte Sterne“ und der Rest landete auf den hervorragenden „Punk Rock BRD“-Samplern.
Wie ist der Song „Du Russe“ auf der „Angst“-LP entstanden? Die meisten Punkbands setzten sich mit dem Thema nicht auseinander, und wenn dann nur Anti.
Der Song stammt komplett von Kurt. Dieser hatte aus meiner Sicht schon immer ein Faible für die russische Kultur und die russische Seele. Bei „Du Russe“ hat er dann auf ziemlich geniale Art und Weise diese melancholischen russisch-klingenden Melodien integriert. Die Leute hören sofort, wo die Reise hingeht. Der Song hat bei uns allen ad hoc gezündet, weil er einfach aus einem Guss und mit einem Text versehen ist, welcher unsere Haltung und Stimmung zu dem Thema auf den Punkt bringt. Ich glaube, die NEUROTIC ARSEHOLES standen immer für recht differenzierte Texte. Dieser ist einer davon.
Die Chaostage 1984 in Hannover waren für viele ein einschneidendes Erlebnis. Warst du selbst da und wie sind deine Erinnerungen?
Tatsächlich war ich bei den Chaostagen 1984 anwesend. Es war eine Katastrophenveranstaltung und ich war auch nicht sehr lange dort. Natürlich ist das Motto von „Chaostagen“ ohne viele Worte sehr deutlich, aber als an der Glocksee die ersten Autos brannten, sind bei mir alle Klappen gefallen. So destruktiv war ich dann doch nicht. Es fühlte sich an, als würde man in seinen eigenen Vorgarten pinkeln. Für uns als Band waren die Chaostage ohne jede Bedeutung.
Was war der Anlass für die Trennung 1986, die Reunion 1989, die „Just do it for fun“-Tour und 1998 noch mal die EP „Melancholia“?
Im Laufe des Jahres 1985 ging es bandintern und auch grundsätzlich, was „Punkrock“ betraf, den Bach runter. Bei den Arseholes deutete sich das bereits bei den Aufnahmen zur „Angst“ an, die Differenzen wurden im Laufe des Jahres 1985 immer größer. Die Szene und das Drumherum hatten sich ein Stück weit totgelaufen beziehungsweise totgesoffen. Kurt und Shorty waren genervt von den vielen voll betrunkenen Jungs und Mädels vor der Bühne, frustriert von Dumping-Eintrittspreisen und niedrigen Gagen. Dadurch gab es in der Band echt Zoff, spätestens wenn ich den nächsten Gig in Stuttgart oder wo auch immer organisiert hatte, die Jungs dann aber meinten, 300 bis 400 Mark – was für uns seinerzeit echt viel war – seien ihnen zu wenig. Zombie und ich wollten die Band unbedingt am Leben erhalten, irgendwann war aber klar, dass das nix mehr werden würde. Also vorausschauend einen Abschiedsgig in unserem Lieblings-AJZ fokussiert und den Rest mit Anstand zu Ende gebracht. Die Reunion 1989 für unsere „Just for fun“-Tour kam in unserer Stammkneipe in Minden zustande, wo wir uns alle zufällig trafen. 1986, nach unserer Auflösung, stand der Satz: „Irgendwann kommen wir noch mal zusammen!“ im Raum. Drei Jahre später waren wir entspannt, hatten genügend Abstand gewonnen und haben an einem Abend Zeitpunkt und Zeitrahmen besprochen. Einfach noch mal los und Vollgas geben. Die Tour war total geil, auch wenn wir an zwei Orten über den Tisch gezogen wurden, da wir wie immer alles ohne Verträge organisiert und nur mündliche Absprachen hatten. 1997 gab es die beiden Gigs zum 25-jährigen Bestehen der Korn in Hannover, die waren so cool, dass wir 1998 noch einmal losgefahren sind. Wir dachten, wir nehmen dazu noch ein paar neue Songs auf. Daraus entstand die 3-Track-MCD „Melancholia“. Eine Vinyl-Single wäre mir deutlich lieber gewesen, ich konnte mich aber nicht durchsetzen. Das Ding geht für mich als „Zeitzeugnis“ durch, ist im gesamten Arseholes-Kontext aber eher belanglos.
Im Rückblick: Wie war es für dich, in den Achtzigern in einer Punkband gespielt zu haben? Was ist der Unterschied zu heute?
In den Achtzigern in einer Punkband gespielt zu haben, war schon sehr cool. Es war wild, neu und aufregend. Ich bin glücklich über den Input von Punkrock allgemein und die Erlebnisse mit den NEUROTIC ARSEHOLES. Erst einmal auf Samplern zu landen, die eigenen Songs im Kontext mit anderen Bands auf Vinyl zu haben, war krass. Später dann eigene Platten in einem Tonstudio aufzunehmen, noch mal eine Steigerung, etwas ganz Besonderes. Die Punk- und Label-Szene war damals absolut überschaubar. Die Vernetzung untereinander, zumeist über den normalen Briefverkehr und Festnetztelefon war auch irgendwie geil, ohne jetzt nostalgisch verklärt zurückzublicken. Heutzutage ist es aufgrund der technischen Möglichkeiten, sowohl was die Produktion von Songs als auch die Kommunikation betrifft, theoretisch leichter, etwas auf die Beine zu stellen. Einen Strich durch diese einfache Rechnung macht einem aber die Vielzahl an Bands und das Aussterben eines Großteils der alternativen Szene in den letzten Jahren beziehungsweise der Professionalisierung der Szene und vieler Clubs. „Damals“ habe ich ein wenig herumtelefoniert und schon hatten wir, beispielsweise sogar noch 1989 auf unserer „Just for fun“-Tour, elf zusammenhängende Gigs am Start. In den frühen Achtzigern war das noch leichter. „Hallo, Tach, ja klar, easy Bullette, bis in vier Wochen dann ...“ So läuft das heute nicht mehr. Heutzutage musst du dich richtig reinhängen, um an Auftritte zu kommen, speziell wenn du eine „kleine“ Band wie TAG/OHNE/SCHATTEN am Start hast. Wir sind echt gut vernetzt, sind unkompliziert, haben befreundete Bands, mit denen wir uns austauschen oder zusammenspielen. Trotzdem ist der Ertrag ziemlich mau und nach drei Anfragen beim gleichen Club lasse ich es dann auch gut sein. Aber wie sagt man so schön: es ist, wie es ist. Ich konzentriere mich möglichst auf die Highlights.
Welche Rereleases gibt es von deiner Band? Und wie sind die zustande gekommen?
Aggressive Rockproduktionen veröffentlichte „... bis zum bitteren Ende“ 1988 auf farbigem Vinyl, allerdings ohne unsere Zustimmung und ohne jegliche Abrechnung. Daher folgte später auch ein Rechtsstreit mit dem Label und Karl-Ulrich Walterbach. Den ersten offiziellen Rerelease gab es 1998 auf Weird System, sowohl auf Vinyl als auch zum ersten Mal auf CD. Kurz vor dieser Veröffentlichung kursierte bereits eine Bootleg-CD der Scheibe, gezogen von einer Vinylversion und entsprechend mit Knacken und Knistern plus miese Bonustracks von einem 300 mal abgespielten alten Demo. Demos und andere Tapes habe ich damals ziemlich exzessiv durch die Gegend geschickt, die Leute sollten uns schließlich kennen lernen. Auf jeden Fall haben Mansur von Weird System und ich den Bootlegger ausfindig gemacht, sind direkt ins Ruhrgebiet gefahren und haben alle noch auffindbaren Exemplare mitgenommen. Kurz danach bekam er dann noch „offiziellen Besuch“, denn unsere Scheibe war nicht die einzige in seinem „Fundus“. Eine komplette Rückschau der NEUROTIC ARSEHOLES erschien 2007 erneut auf Weird System, dieses Mal in Form der Doppel-CD „Gib nicht auf“. Da ist alles drauf, was von Bedeutung war, inklusive umfangreichem Booklet mit einigen Geschichten aus unserer aktiven Zeit. Dieses Projekt hat echt Spaß gemacht und ist aus meiner Sicht absolut gelungen. 2015 gab es eine weitere Wiederveröffentlichung von „... bis zum bitteren Ende“ auf Plastic Bomb Records. In diesem Jahr haben wir tatsächlich schon Anfragen für einen erneuten Rerelease bekommen. Ob etwas draus wird, weiß ich noch nicht. Die zweite LP „Angst“ wurde als Einzelformat nicht wiederveröffentlicht. Sie ist bis heute als Vinyl über Weird System erhältlich.
Du bist heute noch bei TAG/OHNE/SCHATTEN musikalisch aktiv. Wie ist das mit den anderen?
Von Dierk weiß ich nicht, was er tut. Das letzte Lebenszeichen war ein Interview im Plastic Bomb-Fanzine vor einigen Jahren. Kurt hat, soweit ich weiß, keine Band, wir haben keinen engen Kontakt. Er hat direkt nach dem Ende der Arseholes eine Pop-Indie-Band namens THE BRIDES zusammen mit Shorty gemacht, das ging circa zwei Jahre, wenn ich mich recht erinnere. Shorty hat nach den Arseholes und den BRIDES lange Zeit in einer Top-40-Band auf Zeltfesten und ähnlichen Veranstaltungen gespielt. Nach dieser Zeit gab es andere Projekte, momentan eine recht poppige Variante mit Frauengesang bei der Band PRETTY COLOURS. Shorty hat musikalisch also viel gemacht, wenn auch in einem anderen Segment. Zu ihm habe ich immer mal wieder Kontakt.
Käme eine nochmalige Reunion für dich in Frage?
Sag niemals nie, heißt es doch so schön. Allerdings kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass das mit uns noch mal funktionieren würde beziehungsweise zustande kommt. Seit unserer letzten Tour 1998 sind schon wieder 22 Jahre vergangen, ein Wahnsinn das alles. Und, wie bereits angedeutet, womöglich ist langsam auch mal gut mit den Songs „von damals“, aus unserer Jugend. Bei TAG/OHNE/SCHATTEN spielt das Alter keine Rolle, das ist aktuelles Zeug, das sind aktuelle Songs, kein Problem. Aber „Cruise missile“ und „Alles kahl hier“ aus den frühen Achtzigern? Das ist eine ganz andere Nummer, zumindest hier und heute live. Als Konserve sind die Dinger zeitlos beziehungsweise klar einzuordnen.
Heute wird der Status von Musikerinnen stark diskutiert. Wie männlich/machistisch oder emanzipatorisch hast du die damalige Szene wahrgenommen?
Ich habe den Eindruck, dass es damals emanzipatorischer zuging als heutzutage. „Punkettes“ gehörten zum allgemeinen Erscheinungsbild bei Konzerten und waren voll integriert, auch wenn der Anteil von Männern in der Szene und in Bands immer größer war. Wir haben das nie hinterfragt oder gar infrage gestellt. Hatten wir in unserem Punk-Umfeld Freundinnen, so waren die immer dabei, selbstverständlich. HANS-A-PLAST mögen in ihrer Bedeutung als deutsche Band einzigartig gewesen sein, dennoch gibt es ja noch andere Beispiele in den frühen Achtzigern wie die ÄTZTUSSIS, Siouxsie, X-RAY SPEX, THE SLITS, um nur einige zu nennen. Ich habe andererseits zudem den Eindruck, dass es damals auch nicht so viele „Dicke-Hosen-Typen“ gab wie heutzutage. Oben ohne, voll tätowiert, „Wall of Death“, so einen Scheiß gab es nicht. Alles viel entspannter. Und tatsächlich musste man sich ja auch trauen, Punk zu sein und dieses zur Schau zu stellen. Heutzutage lässt der Typ von der Sparkasse bei HATEBREED die Sau raus, setzt sich anschließend wieder in seinen Vorgarten und tritt seine Hündin, um das Ganze mal überspitzt zu formulieren und schön mit Klischees zu arbeiten ...
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NEUROTIC ARSEHOLES, KOMMANDO SCHWARZER FREITAG
28.04.1984, Paderborn, KuKoz
Endlich wieder ein Punk Konzert in Paderborn – und dann auch noch NEUROTIC ARSEHOLES, die mein jüngerer Bruder (14) und ich (15) von den Samplern „Soundtracks zum Untergang Vol. 2“ und „Underground Hits“ kennen. Vor dem KuKoz und auf dem Gehweg davor lärmt und trinkt schon eine Horde Punks, zur Freude der Nachbarschaft, und wir Vorort-Kid-Punks sind mittendrin. Kontakte entstehen spontan und beim Bier noch schneller. BLUT & EISEN fallen leider aus, dafür sollen KOMMANDO SCHWARZER FREITAG aus Detmold spielen. Drinnen bekomme ich dann von einem älteren Punk auf dem Klo für mein frisch aus England erstandenes Punk-Shirt eine vor den Kopf – danke auch! KOMMANDO SCHWARZER FREITAG fallen erst einmal dadurch auf, dass sie ihre Instrumente verstimmen, bevor sie loslegen. Ihr Sound sorgt für den ersten wilden Pogo vor der niedrigen Bühne. Diejenigen, die aus dem Pogo-Mob fliegen, werden direkt wieder zurückgeschubst. Dabei gelingt es mir den T-Träger vor der Bühne zu treffen, logo mit dem Kopf zuerst! Am Rand versuche ich dann wieder klarzukommen, der neben mir stehende Punk reicht mir mitfühlend sein Bier und entpuppt sich als Zombie, Sänger der NEUROTIC ARSEHOLES. Während wir über den Sound versuchen zu kommunizieren, wird der Sänger von KOMMANDO SCHWARZER FREITAG von der Bühne gerissen, weil er wie ein Rockstar auf (!) der Bühne sänge ...
NEUROTIC ARSEHOLES wissen vom ersten Akkord zu überzeugen, rasend schneller, krachiger und melodischer Punk. Pogo ist da vorprogrammiert, Bier spritzt durch den Raum. Songs wie „Tradition“ und vor allem „Kalte Steine“ werden frenetisch gefeiert, bevor der Auftritt der Mindener viel zu schnell vorbei ist. Von draußen erklingen Polizeisirenen, der Platz vor dem Kukoz ist in Blaulicht getaucht, die ersten Prügeleien mit den Bullen laufen schon. Als ich meine Bierflasche in Richtung Cops schmeißen will, werde ich hart zurückgerissen und blicke in das zornentbrannte Gesicht meiner Mutter. Die hatte über den „Landfunk“ erfahren, dass Punks vor dem KuKoz randalieren würden und die Bullen das Viertel hermetisch abgeriegelt hätten. Dann schnappt sie sich noch meinen Bruder und jeden Kid-Punk, den sie vor dem KuKoz findet, und packt alle in die Familienkutsche. Während sie diese souverän durch die Prügelei lenkt und sich maßlos über die „Chaoten“ aufregt, weiß ich, dass ich meine Welt gefunden habe ... mein jüngerer Bruder leider nicht, er wird binnen nur eines Jahres vom Punk zum Oi!-Skin und dann zur Naziglatze mutieren.
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Diskografie
„I Saw You Die“ (MC, self-released, 1982) · „... bis zum bitteren Ende“ (LP, Aggressive Rockproduktionen,1983, Rereleases: LP/CD, Weird System, 1998 LP/CD, Plastic Bomb, 2015) · „Solidaritätskonzert vom 28.4.84 im KuKoZ Paderborn“ (MC, Split w/ KOMANNDO SCHWARZER FREITAG, Perturbatic Et Pax, 1984) · „Angst“ (LP, Weird System, 1985 Rerelease: LP, Weird System, 2002) · „Paradise“ (7“, Weird System, 1986) · „Live. All’ die Jahre“ (LP, Weird System, 1986) · „... Just Do It For Fun“ (7“, Crime, 1990) · „Melancholia“ (CD, self-released, 1998) · „Gib nicht auf! Die kompletten Aufnahmen 1979 bis 1985“ (2CD, Weird System, 2007)
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