MATZE ROSSI

Foto© by Tim Brüning

Chuck und ich

Jetzt habe ich leichtfertig zugesagt, etwas über Chuck Ragan und mich zu schreiben ... Der Kopf raucht ... Immerhin gratulieren wir gerade unseren Freunden den DONOTS mit einem gemeinsamen Cover von „Stop the clocks“ zum 30. Band-Geburtstag und bringen damit gleichzeitig meine „Barn Tapes Collection“ zu einem furiosen Ende. Joachim sieht einige Parallelen zwischen uns. Tatsächlich, da sind wirklich viele Parallelen, und an diesen fünf hangele ich mich mal durch den Text.

Parallele #1: Old Men, Young Blood!

HWM feiern den 30., DONOTS feiern den 30., und gäbe es meine Band TAGTRAUM noch, könnten wir auch den 31. feiern. Chuck bin ich, glaube ich, das erste Mal 1998, oder 1999, auf einem Konzert im Stattbahnhof begegnet. Steffen Rose (Navigator Productions) hat die ganze Punk-/Hardcore-Generation der unterfränkischen Provinz im Stattbahhof Schweinfurt mit guter Musik versorgt, so auch HOT WATER MUSIC. Oise Ronsberger (End Hits Records) hatte mich schon weit vorher mit einem euphorischen Anruf darauf eingestimmt, wie gut HWM sind und dass ich sie mir unbedingt anschauen muss. Um den Eintritt zu sparen, hatte ich mich gleich für den Küchendienst im Backstage eingetragen. So hat man das früher gemacht. Meine erste Begegnung mit Chuck war in besagter Backstageküche im Stattbahnhof. Kurz vor der HWM-Show fragte er nach Olivenöl, Salz, heißem Wasser und einem großen Glas. Die gewünschten Zutaten wurden gut vermischt. In meiner Erinnerung hat er anschließend das ganze Weizenglas auf einmal weggegurgelt und im Anschluss eine der mitreißendsten Shows abgeliefert, die ich bis dahin gesehen hatte. Seit diesem Abend sind HOT WATER MUSIC und Chuck Ragan aus meinem Musikkosmos nicht mehr wegzudenken. Es gibt wenige Bands, die so eine unbändige Kraft und Energie auf Bühnen und Platten bringen und dabei auch menschlich so inspirierend sind. Ich kann durchaus sagen, dass Chuck Ragan und HWM meinen musikalischen Horizont erweitert haben und Einfluss darauf hatten, wie ich selber Musik schreibe und auf die Bühne bringen will. Und dass muss erwähnt werden, denn dieses Gemisch habe ich dann auch selber jahrelang gegurgelt. Auch wenn mir kein Arzt oder Ärztin eine wissenschaftliche Wirkung belegen konnte, mir hat es immer sehr geholfen. Siehe auch Parallele#3.

Parallele #2: Akuharke und Bart.
HOT WATER MUSIC und TAGTRAUM haben sich 2006 aufgelöst. Chuck veröffentlichte 2007 erste Soloaufnahmen und ich 2004. Tatsächlich spielen wir beide Martin Guitars und haben einen Bart. Ich kann da ja nur für mich sprechen, mein Bart wächst immer weiter. Ich schaue sehr wenig in den Spiegel, und durch die vielen Sachen die ich mache, wie touren, touren, touren, vergesse ich einfach die Zeit und komme nicht dazu, mich zu rasieren. Gut für mich, dass Chuck anscheinend einen Trend losgetreten hat – vielleicht aus ähnlichen Gründen –, den viele Punkrocksänger oder Singer/Songwriter nutzten und meiner Faulheit und fehlendem Körpergefühl einen Sinn gaben, haha! Das war aber auch wirklich eine furchtbare Zeit, in der gefühlt jeder Punkrocksänger eine Akustik-Tour oder -Album gemacht hat. Da ich selber in dieser Zeit sehr viel gespielt habe und dazu mit familiären Aufgaben beschäftigt war, habe ich leider eher weniger davon mitbekommen – und gleichzeitig auch zum Glück. Leider, weil ich zum Beispiel keine einzige der legendären Revival-Tour-Shows oder Chucks Solotouren gesehen habe. Zum Glück, weil es mich irgendwann extrem genervt hat, dass alle mit Bart, Holzfällerhemd und Akustikgitarre auf der Bühne stehen.

Parallele #3: Ähnlicher Freundeskreis, derselbe Musikgeschmack
Für die Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen Chuck und mir haben mehr oder weniger Oise Ronsberger und Alex Solke (Kingstar Booking) gesorgt, hauptsächlich, weil sie die Parallelen gesehen haben. 2015 durfte ich als frisch gebackener End Hits Records-Act den Opener beim Family First-Festival von BOYSETSFIRE machen. Chuck sah sich meine Show von der Empore aus an und nach seiner Show kamen wir bei einem Whiskey ins Gespräch. Ich stammelte in meinem schlechten Englisch, dass ich mal für HWM gekocht hatte und dass ich sein Öl-Salzgesöff jahrelang gegurgelt habe, und Chuck lachte und sagte trocken: „We both should tour together.“ 2017 durfte ich dann die ersten Konzerte mit Chuck Ragan spielen. Ich fuhr auf der Tour mit meinem eigenen Bus hinterher und am dritten oder vierten Tag bestand er darauf, mir Gesellschaft zu leisten ... also fuhren wir zu zweit. Trotz meinem schlechten Englisch haben wir uns gut über Familie und über prägende Bands und Alben unterhalten. Wir haben abwechselnd Lieder bei Spotify gespielt, und ich erinnere mich, wie wir die halbe „Suffer“ von BAD RELIGION zweistimmig mitgesungen haben. Das klingt ziemlich pathetisch, aber glaubt mir, so was verbindet. Hätte mir das jemand 2000 in der Backstage-Küche vom Stattbahnhof gesagt, ich hätte es nicht geglaubt.

Parallele #4: Familiy First
Wir sind beide Familienväter und die Familie steht für uns immer an erster Stelle. Wir lieben die Natur und sind beide aufs Land gezogen. Chuck in Kalifornien und ich in der fränkische Provinz auf eine Burgruine. Guess what’s cooler? Alle meine Freunde aus Amerika finden die Burgruine cooler, alle Freunde hier sagen natürlich Kalifornien. Immer da, wo du nicht bist, ist das Gras grüner ... ich bin glücklich.

Parallele #5: Hard working guitar picking (hu)man
Wir beide machen seit über 30 Jahren Musik, laut und leise, touren unermüdlich, trotzen allen Widrigkeiten des Musikbusiness und gehen unsere eigenen unabhängigen Wege. Ich habe wirklich sehr, sehr viel auf den Touren gelernt, bei denen ich Chuck supporten durfte. Wichtigste Erkenntnis für mich war und ist der Satz: „Today is today, tomorrow is tomorrow.“ Generalisierung ist bescheuert, doch es liegt auf der Hand, dass wir in Deutschland zu viel nachdenken und analysieren, anstatt einfach zu machen. Immer heute abliefern. Und weil ja immer heute jetzt ist, lieferst du einfach immer ab. Einfach und genial. Das praktiziere und übe ich jetzt. Meine „Barn Tapes Collection“ mit Chuck und dem vielleicht besten Lied der DONOTS zu Ende zu bringen, ist für mich eine riesengroße Ehre. Wie gut wir beide harmonieren, sieht man auf dem Coverfoto des zwölften Barn Tapes von Tim Brüning und dem superschönen Live-Bild von 2017, auf dem Chuck und ich in Münster in der Sputnikhalle „gezwungenermaßen“ „Gathering woods“ zusammen auf meiner Gitarre spielen. Verrückte Situation. Weil seine Saite während des Liedes riss, kam er einfach zu mir rüber, legte seinen Arm um mich und wir spielten und sangen das Lied gemeinsam fertig. Ich griff die Akkorde, er strummte! Werde ich nie vergessen! Die Harmonie ist aber auch hörbar im besagten Cover von „Stop the clocks“. Im Dezember 2023 habe ich Chucks Vocals zwischen Soundcheck und Abendessen im Backstage vom Hirsch in Nürnberg aufgenommen. Völlig unkompliziert und unaufgeregt ... also Chuck. Ich hatte Gänsehaut und Schiss, dass ich irgendwas verkacke und diesen wunderbaren Moment nicht festhalten kann. Am Ende hat alles geklappt und ist megagut geworden.

Chuck Ragan ist wirklich einer von den Guten! Meine Welt und auch mich persönlich hat er durch seine Musik und unsere Freundschaft immer wieder inspiriert und angespornt, eine bessere Version von mir zu werden. Und dafür bin ich ihm sehr dankbar.
Punk & Liebe