LOST LYRICS

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Sandkasten ist Punkrock

Nachdem ich bereits vor einigen Jahren die Gelegenheit hatte, die LOST LYRICS für das heute nicht mehr existente Hähnchen-Fanzine zu interviewen, war es dringend an der Zeit, die Band auch mal live zu sehen. Leider spielt das Trio aus Kassel selten bei mir im Süden, doch im Juni schafften sie es immerhin mal nach Würzburg. Also Tasche mit Diktiergerät und Fragenzettel gepackt und ab nach Unterfranken. Das Konzert selbst war spitze und Holger (Gesang, Gitarre), Kati (Bass, Gesang) und Steffen (Schlagzeug, Gesang) bewiesen einen langen Atem und spielten etwa 25 Songs aus 19 Jahren Bandgeschichte. Jetzt ist auch das neue Album „Punchline Party“ raus und da musste ein Interview her. Die „Punchline Party“ knallt und ich kann die Platte jedem Freund von deutschsprachigem Punkrock nur wärmstens ans Herz legen. Holger empfiehlt als Anspieltip „Frau Brandes“, ich empfehle „Tag danach“. Aber lest selbst, was mir die drei vor dem Konzert erzählt haben.

Was ist eine „Punchline Party“?

Holger: Im Grunde war die Idee, einen Titel zu haben, der sehr griffig ist und der mal wieder auf Englisch sein kann. Anfang der 90er hatten wir ja schon einmal eine CD mit „Party“ im Titel. Und jede CD, die man mag, ist beim Anhören wie eine gute Party, mit den Liedern als alte Bekannte, die man schätzt und lieb gewonnen hat; dabei kann es auch durchaus melancholische Musik sein, es ist trotzdem so – jedenfalls geht mir das so. Bei der neuen CD kommt viel Lebensfreude und Aufbruchstimmung rüber – diesmal eigentlich mehr als je zuvor, finde ich. Insofern passt „Party“ ganz gut. Und dann haben wir noch ein zweites Wort mit „P“ gesucht.

Steffen: Ich dachte dann an „Punch“, eher vom Groove her. So nach dem Motto: „Der Song hat einen guten Punch“ – eine gute Punchline eben. Außerdem passt der Titel zur momentanen Situation der Band. Nachdem jahrelang die Besetzung bis auf Holger mehrfach gewechselt hat, besteht das aktuelle Line-up mit mir und Kati jetzt schon länger und die Platte ist dadurch sehr rund geworden.

Ihr habt gerade erwähnt, dass ihr als Band mehr zusammengewachsen seid und die neue CD dadurch „runder“ geworden ist. Was ist denn sonst noch anders an der neuen CD im Vergleich zu euren bisherigen Veröffentlichungen?

Holger: Wir haben uns bemüht, die CD musikalisch abwechslungsreicher zu machen. Wir haben zum Beispiel auch mal eine Tuba und eine Mundharmonika eingesetzt. Auch rhythmisch haben wir versucht, Neues einzubringen. Die CD hat ja eine Laufzeit von über fünfzig Minuten, da muss dann schon Abwechslung rein. Textlich ist durchaus auch mal was Trauriges dabei, aber unterm Strich geht es um die Party. Nicht im Sinne von „Wir lassen uns volllaufen“, sondern eher nach dem Motto „Das Leben ist eine Party“ und die sollte man auch feiern, bevor es zu spät ist. Außerdem haben wir diesmal auch Songs dabei, die länger sind, als man das von uns gewohnt ist. Es gibt Liedteile, in denen auch mal keiner singt oder der Song auch mal eine Minute läuft, bevor der Gesang einsetzt. Bisher sind wir ja immer eher schnell zur Sache gekommen, was den Songaufbau angeht. Ich denke auf jeden Fall, dass hier eine Weiterentwicklung zu erkennen ist.

Was ist denn bei euch seit der letzten Platte „Ansage“ von 2005 passiert?

Kati: Na ja, Holger hat zwei Kinder gekriegt.

Steffen: Ja, wir haben viel gespielt, aber nicht an den Instrumenten haha.

Holger: Äh ... nächste Frage bitte! Nee, im Ernst, dieses Ereignis ist auch in den Texten verarbeitet worden. Wenn du eine Familie gründest, siehst du die Welt schon ein bisschen mit anderen Augen. Du entdeckst die Welt einfach neu und da es gleich Zwillinge waren, gab es für mich natürlich alles gleich doppelt zu entdecken, haha. Als Band haben wir seit der letzten Platte eben agiert wie immer. Wir haben Berufe und dadurch nicht so viel Zeit, so dass wir eben gelegentlich spielen – durch familiäre Bindungen dann auch zeitweise mehr regional. Das läuft bei uns eigentlich immer gleich durch.

Ihr spielt jetzt also nicht nur, wenn es eine neue Platte gibt, sondern auch sonst kontinuierlich?

Holger: Ja, genau. Bei einer Band, die es seit 19 Jahren gibt, orientiert man sich nicht an irgendwelchen „Marktmechanismen“. Dadurch, dass wir von der Musik nicht leben, müssen wir das auch gar nicht so machen.

Steffen: Mit dem Schreiben neuer Songs haben wir auch schon gleich nach der letzten Platte angefangen. Zumindest das Grundgerüst stand oft schon. Aber mittlerweile gibt es bei uns eben auch mal mehr Widerworte, wenn Holger mit einem Songentwurf ankommt. Und dann wird das Lied eben noch mal auseinander genommen. Manche Songs auf der neuen CD sind schon drei Jahre alt und jetzt wurden die eben eingetütet.

Ihr bringt demnächst euer erstes Album „Some Things Never Change“ von 1992 in Japan raus. Wie kam es dazu?

Holger: MySpace! Da gab es Anfang des Jahres eine Anfrage von einem japanischen Label, das SP-Records heißt und direkt in Tokio sitzt. Da kam von dem Betreiber erst mal die obligatorische Freundesanfrage und dann das Kompliment „I’m a great LOST LYRICS fan ...“ Und dann meinte er, dass „Some Things Never Change“ seine absolute Lieblingsplatte sei und er die gerne neu rausbringen würde. Und so kam das dann ins Rollen. Er macht wohl auch noch andere deutsche Sachen, beispielsweise DIE SCHWARZEN SCHAFE.

Will er noch mehr von euch rausbringen oder speziell nur die alte CD, weil hier die Texte noch auf Englisch waren?

Holger: Das dürfte in Japan ziemlich egal sein, ob du da auf Englisch oder Deutsch veröffentlichst. WIZO haben da ja auch schon ihre deutschsprachigen Sachen veröffentlicht. Dass er genau die Platte veröffentlichen wollte, lag wohl eher an dem darauf enthaltenen Song „Japanese girl“, den er wohl gerne mag. Wir wollten ihm auch noch unsere zweite, ebenfalls noch englischsprachige Platte „Monday Morning’s Alright For Party“ anbieten, die uns persönlich besser gefällt. Aber er wollte eben lieber die erste machen, haha. Die neue CD will er aber in seinen Mailorder aufnehmen.

Steffen: Wir sehen so etwas als Chance und wollen natürlich auch mal nach Japan, um dort zu spielen. Zumindest wäre das ein Wunschtraum beiderseits. Ich glaube, die CD soll im Spätsommer erscheinen und dann müssen wir mal sehen, wie das so läuft. Er meinte, dass er uns so ein bisschen „famous“ machen will, haha. Bei GIGANTOR aus Hannover ist das ja so, dass die hier in kleinen Clubs spielen und in Japan in großen Hallen.

Ihr habt euch im letzten Jahr mit dem Song „Rappelkiste“ an dem Sampler „Wir sind Rock’n’Roll Kids“ beteiligt, auf dem Punkbands Kinderlieder nachspielen. Wie kam die Idee dazu und warum habt ihr euch genau dieses Lied herausgesucht?

Holger: Das war eine Idee vom Label Wolverine Records, das den Sampler herausgebracht hat. Für „Rappelkiste“ aus der gleichnamigen Fernsehsendung aus den Siebzigern haben wir uns vor allem wegen des Textes entschieden. Unser Beitrag ist ein Medley aus dem Abzählvers, den die Älteren wahrscheinlich noch kennen, und dem Rappelkisten-Song. Der Abzählvers kam immer am Anfang der Sendung und das Lied vom „Anders machen, besser machen“ kam in einer Folge vor. Ich habe einen Sampler zu Hause, auf dem solche Songs drauf sind. Der Text hat diesen Spirit der Siebziger Jahre und handelt davon, sich nicht alles gefallen zu lassen, Dinge zu hinterfragen und sich aufzulehnen – der hätte auch von Rio Reiser sein können. Wir fanden, dass das eben viel besser zur Punkmusik passt.

Thema „Kinder und Rock’n’Roll“: In welchem Alter sollte man es denn spätestens zum Punkrocker gebracht haben? Schon mit sechs oder mit sieben? Was meint ihr?

Kati: Na, eigentlich schon von Anfang an. So was ist sicher genetisch veranlagt – dieses „Punkige“, haha. Sandkasten ist doch auch schon Punkrock, oder nicht?

Ja, auf jeden Fall. Sandburgen kaputt machen ist definitiv Punkrock!

Holger: Die interessantere Frage ist doch, wann es aufhört mit dem Punkrocker-Dasein!

Steffen: Das muss eben jeder selber wissen, wann das aufhört.

Holger: Es hört bei uns sogar genau heute auf, weil wir nicht in diesem Backstage-Raum übernachten wollen! Von daher bin zumindest ich heute an das Ende meines Punkseins gekommen, haha. Der Veranstalter hat den Schlüssel für die Bandwohnung oben nicht besorgt und wir durften die Tür nicht eintreten. Er meinte dann, wir sollen hier pennen, und das machen wir nicht. Ich bin also durch mit Punkrock, haha. Aus, Ende.

Ihr habt auf eurer neuen CD den Song „Hessen Nord“. Wie lebt sich’s denn in Nordhessen? Habt ihr da auch so ein Scheißwetter wie wir in der letzten Zeit?

Kati: Dort ist es super. Da regnet’s anscheinend gerade die ganze Zeit.

Steffen: Die Berge halten dort eben die Wolken immer schön über der Region.

Holger: Wir sind erklärte Lokalpatrioten. Das Lied handelt zur Hälfte von unserem Fußballclub KSV Hessen Kassel, der den Aufstieg mal wieder vergeigt hat, und zur anderen Hälfte von der Region. Vieles im Text ist natürlich auch ironisch gemeint, aber wir wohnen gerne da. Letzten Endes ist das ein Heimatlied, das mit einem Augenzwinkern zu verstehen ist: „Ich brauch nicht nach Bayern fahren, hab die Kasseler Berge / Ich brauch nicht nach Norddeutschland, hab den Fuldastrand.“

Steffen: Die Leute in Kassel und Umgebung haben, was ihre Herkunft angeht, immer ein etwas schwaches Selbstbewusstsein. Da haben wir uns gedacht, wir geben es ihnen jetzt mit diesem Song haha.

2010 gibt es die LOST LYRICS seit zwanzig Jahren. Habt ihr für diesen Anlass schon irgendetwas geplant?

[b]Holger:
Wir werden auf jeden Fall ein spezielles Konzert in unserer Region veranstalten, um das gebührend zu feiern. Zum Beispiel mit befreundeten Bands. Aber da gibt es jetzt noch keine konkreten Pläne. Bis vor wenigen Tagen waren wir mit der Fertigstellung der neuen Scheibe beschäftigt. Von daher haben wir noch nicht über 2010 nachgedacht. Natürlich wäre es super, wenn wir zum zwanzigsten Geburtstag der Band für eine Woche nach Japan könnten, aber das ist, wie gesagt, momentan noch ein Wunschtraum. Irgendwas Nettes wird uns aber in jedem Fall einfallen. So ein Jubiläum werden wir nicht einfach vorüberziehen lassen. Im Grunde ist ja die neue CD „Punchline Party“ auch schon die vorgezogene Jubiläums-CD.