Jesse Malin wird von vielen Menschen nach wie vor im Punk- und Hardcore-Genre verortet, denn seine musikalischen Wurzeln liegen in den Bands D GENERATION und HEART ATTACK, mit denen er vor allem in den Achtziger und Neunziger Jahren von New York aus die Szene prägte. Seit Beginn des neuen Jahrtausends aber entwickelte er sich mehr und mehr zum Singer/Songwriter im Stile großer Americana-Künstler:innen wie Bruce Springsteen, Bob Dylan oder Lucinda Williams, mit der er seit jeher eng zusammenarbeitet. Wie auch bei seinem neuen Soloalbums „Sad And Beautiful World“, das opulenter und üppiger ist als je zuvor, und in der Vinylversion sogar zwei Tonträger umfasst. Es ist ein abwechslungsreiches, eklektisches Album, das viel Storytelling zu bieten hat – und zu dem Jesse Malin gerne Auskunft gibt.
Jesse, dein Album heißt „Sad And Beautiful Times“. Bedingen Traurigkeit und Schönheit einander?
Absolut. Du musst auch leiden, um dann die guten Zeiten zu genießen. Es liegt eine Schönheit im Schmerz. Aus Traurigkeit kann man lernen und daran wachsen. Und das spiegelt sich auch in der Musik, wenn es in Songs um die Härten des Lebens geht, gegen die man bestehen muss. Das fing mit Gospelmusik an, mit den Songs der Sklaven. Es liegt im Blues, im Rock’n’Roll, im Punk. In den vielen Liedern, die aus der Arbeiterklasse kommen, in denen es um Frustration, Unterdrückung und gebrochene Herzen geht. Indem wir uns damit auseinandersetzen, lachen wir all dem ins Gesicht und zeigen, dass wir uns nicht unterkriegen lassen. Nur so kann Musik dazu führen, dass man sich selbst verändert. Und dass man sozial und gesellschaftlich etwas verändert.
Ist es möglich, nur mit Fröhlichkeit und guter Laune ernsthafte Kunst zu schaffen?
Nein. Und das habe ich streng genommen schon als Kind gelernt, als ich zum Beispiel Sam Cooke gehört habe. Seine Songs klingen fröhlich. Aber wenn man auf die Texte achtet, wenn man genau hinhört, wie er über das Leben singt, dann erkennt und fühlt man die tiefe Traurigkeit, die hinter diesen Liedern steckt. Auf meiner Platte gibt es das Stück „Todd Youth“. Das klingt im Refrain eher locker, gut gelaunt, sehr melodisch. Aber es handelt eben von Todd, einem alten Freund und Weggefährten aus D-GENERATION-Zeiten, der bei DANZIG oder AGNOSTIC FRONT spielte, und der gestorben ist. In dem Song geht es um die Gedanken, die er womöglich am letzten Tag seines Lebens hatte. Ich finde es spannend, mit diesen Elementen zu spielen – Fröhlichkeit auf der einen Seite, Tragik auf der anderen – und sie in der Musik miteinander zu verknüpfen. Denn das ist das Leben. Es ist bittersüß. Ich kann glücklich sein und darüber Songs schreiben – das habe ich ja auch etwa in „Turn up the mains“ 2015 getan. Aber die Gegenseite ist immer im Blickfeld. Ist immer da.
„Sad And Beautiful World“ ist ein typisches Singer/Songwriter-Album. Es ist sehr üppig ausgefallen mit 17 Songs und kommt einem beim Durchhören wie ein musikalischer Roadmovie vor.
Ich mag es, wenn Songs eine Geschichte erzählen, die sich nach und nach vor dir ausbreitet. „Thunder road“, „Like a rolling stone“, „London calling“, „Rock’n’roll radio“. Und während der Pandemie hatte ich genügend Zeit, mich daheim an den Küchentisch zu setzen und solche Lieder zu schreiben. Das ging rasend schnell und am Ende hatte ich extrem viele neue Stücke beisammen. Klar, mein letztes Album „Sunset Kids“ liegt schon zwei Jahre zurück. Daher wäre es ganz normal, in der Zwischenzeit viele neue Stücke zu schreiben. Eigentlich. Aber es fühlt sich eben nicht so an, weil uns quasi ein Jahr gestohlen wurde. Und als ich mir am Ende all die Stücke anschaute, da wusste ich, das alles erzählt eine Story, wenn man es gut zusammensetzt. Ich habe schon viel gemacht in meinem Leben: Punkrock-, Cover- und Soloalben, mit GREEN DAY in Spanien auf der Bühne mit meinem Penis Schlagzeug spielen, haha. Aber ich hatte noch nie ein Doppelalbum aufgenommen. „Sad And Beautiful World“ hat irgendwie alles. Americana, Roots-Rock, akustische Songs, Songwriter-Elemente. Eben vieles, das an meine Einflüsse erinnert, die auch über den Punk hinaus gehen: Bruce Springsteen, Billy Bragg, Paul Weller, Joe Strummer, Woody Guthrie, Johnny Cash. Oder, wenn du so willst, auch urbane Musik im Stile von Lou Reed oder auch HipHop, wo es um Drogen geht, um Gentrifizierung, um Prostitution, um Gewalt. „Sad And Beautiful World“ ist etwas anderes als ein Punkrock-Album, das dir wie ein Knallkörper direkt mitten ins Gesicht fliegt.
Deine Historie als Musiker verknüpft Americana und Singer/Songwriter-Musik mit Punk und Hardcore. Was eint diese beiden eigentlich grundverschiedenen Genres?
Letztlich geht es immer um Geschichten. Um Geschichten von der Straße, um Geschichten verschiedener Generationen, um die Geschichten derjeniger, die arm sind, die unterdrückt werden – egal ob früher, in den Dreißiger Jahren in der so genannten Dust Bowl, also der Region der USA, die besonders von Arbeitslosigkeit betroffen war, oder heutzutage. Und diese Geschichten werden seit jeher gespielt: Im Punk mit lauten Gitarren. Oder auf simplen Akustikgitarren in Clubs, U-Bahnen, auf dem Gehsteig, aus abgeranzten Verstärkerboxen.
Dennoch, welchen Unterschied macht es für dich, einen Song für eine Punkband wie D GENERATION zu schreiben – oder für eines deiner Singer/Songwriter-Alben?
Es ist kein so großer Unterschied für mich. Wohl aber für andere. Natürlich, mit einer Hardcore-Band willst du die Leute in Bewegung halten. Vor allem jüngere. Da geht es viel um Energie, die sich Bahn bricht, Bahn brechen muss. Es geht um Tempo und Irrsinn. Und viel um Image. Und trotzdem war meine Intention mit D GENERATION nie, Songs über Mädchen, Machogehabe oder dicke Autos zu schreiben. Es ging mir immer um von der Politik, der Gesellschaft, von Ängsten und Sorgen geprägte Songs. Das haben viele Außenstehende nur nicht verstanden. Die sahen nur unseren Look und haben nie richtig zugehört. Wir kamen auch bei Journalisten nicht gut weg. Erst als ich 2002 meine erste Soloplatte veröffentlichte, „The Fine Art Of Self Destruction“, änderte sich das. Auf einmal war ich ein komplett neuer Künstler. Auf einmal konzentrierten sich die Leute wirklich auf meine Texte. Und das ist wohl tatsächlich der Vorteil von Singer/Songwriter-Musik gegenüber Punk und Hardcore: Man kann Geschichten besser, ruhiger erzählen. Der Hintergrund ist leiser, man hat mehr Zeit und muss nicht binnen zwei Minuten mit Geschwindigkeit auf den Punkt kommen wie im Punk.
Wäre „Sad And Beautiful World“ ein anderes Album geworden, wenn es den Lockdown nicht gegeben hätte?
Das kann schon sein. Einige Songs wären vielleicht nicht entstanden. Beispielsweise „State of the art“, in dem es um eine Person geht, mit der ich einmal zusammen war, von der ich mich dann trennte – und die dann plötzlich bei den Protesten während des Lockdowns demonstrierte und sich mit Cops anlegte. „Sad And Beautiful World“ ist zwar kein Corona-Album, aber all das, was da draußen passierte, während ich zu Hause saß, floss natürlich mit ein. Eine Ausnahme ist „Tall dark horses“. An diesem Song habe ich neun Jahre geschrieben und er handelt von einer Person, mit der ich mittlerweile nicht mal mehr spreche. Aber das ist egal, weil die Aussage zeitlos ist. Es geht in dem Stück nämlich eigentlich darum, Dinge zu überwinden. Wenn dich etwas runterzieht, fertig macht, dir Angst macht, dann drehe es um und versuche, Kraft daraus zu ziehen. Mach etwas Positives daraus! Sei ein Outsider – und stolz darauf! So wie Joey Ramone: Er war als Kind jemand, der ausgegrenzt wurde. Er war zu groß, zu dürr, zu seltsam, zu verrückt. Aber, verdammt, er wurde zu einem der größten Frontmänner der Welt! Er nutzte all das, was die Menschen an ihm kritisierten, dazu, mit dem Mikrofon auf der Bühne wie eine Ikone zu wirken. Was für eine Aura!
Im erwähnten Song „State of the art“ singst du: „Living in the state of the art I try not to take it too hard“. Ist es so leicht angesichts der Probleme dort draußen – man nimmt es einfach nicht so schwer, nicht so ernst?
Es ist ein zynisches Statement. Denn auch wenn dir anders zumute ist, bleibt dir ja eigentlich nichts anderes übrig, als es eben nicht so schwer zu nehmen. Ansonsten würde man ja an dem zerbrechen, was durch Polizeigewalt oder Regierungsgewalt ausgelöst wird. Man zerbricht an dem, was Menschen sich generell gegenseitig aus Hass und Gier antun. Wenn man sieht, wie Länder mit Krieg überzogen werden. Man muss einen Weg finden, damit klarzukommen.
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