IDLES

Foto© by Tom Ham

In der Ruhe liegt die Kraft

Vor etwa einem Jahr sind die 2009 in Bristol gegründeten IDLES mit ihrem dritten Album „Ultra Mono“ auf Platz eins der britischen Albumcharts gelandet. Zum ersten Mal in der Geschichte der Band. Live präsentieren konnten sie den Chartbreaker allerdings bisher nicht. Aus bekannten Gründen. Deshalb haben IDLES sich entschieden, gleich das nächste Album zu schreiben und aufzunehmen. „Crawler“ heißt es und es hebt die Musik der Briten auf ein neues Level. Nicht mehr nur der krachige Post-Punk-Sound, der sie so beliebt gemacht hat, dominiert. Es gibt viel mehr Soul und leise Momente als sonst, sagen Gitarrist Mark Bowen und Sänger Joe Talbot. Wir erreichen die beiden im Backstageraum des Granada Theater in Dallas, Texas.

Euer letztes Album „Ultra Mono“ ist kaum älter als ein Jahr. Was ist seitdem passiert?

Joe: Wir haben uns ziemlich schnell auf „Crawler“ konzentriert, weil wir die unfreiwillige Freizeit einfach nutzen wollten. Damit wir zu besseren Songwritern werden. Deshalb haben wir sehr genau in uns reingehorcht und analysiert, wer wir sein und wohin wir uns weiterentwickeln wollen. Wir wollten einfach unsere künstlerische Ausdrucksweise ändern, um eine neue Herausforderung zu suchen. Denn als kreative Menschen ist jede Herausforderung mit einer Form von Befriedigung verbunden. Nach „Ultra Mono“ wollten wir einfach wieder einen Schritt nach vorne machen. In der Pandemie hatten wir natürlich durch den Erfolg von „Ultra Mono“ das Privileg, dass wir uns um Geld keine Sorgen machen mussten. Deshalb wollten wir mit dem neuen Album auch unsere Dankbarkeit zeigen, indem wir uns selbst vor eine neue Aufgabe gestellt haben. Wir wollten einfach die besten Künstler sein, die wir überhaupt sein können. Mit dieser Idee hat „Crawler“ begonnen und so haben wir das Album auch abgeschlossen. Für mich ist es unser bestes Album bislang. Und ich meine „bestes Album“ nicht immer im Sinne einer Leistungsgesellschaft, sondern im Sinne von Weiterentwicklung. „Crawler“ ist die Platte, die wir schon immer machen wollten, aber wir hatten noch nie genug Zeit dafür und die Erlaubnis unseres Publikums, uns die Zeit dafür zu nehmen. Denn wir waren in den letzten Jahren ständig auf Tour. Jetzt hat uns diese merkwürdige Zeit unverhofft die Möglichkeit verschafft, uns zu entwickeln.
Mark: Mit „Ultra Mono“ haben wir uns eine eigene Identität im Songwriting geschaffen, die uns einen gewissen Komfort verschafft hat. Das hat aber auch verhindert, dass wir experimentiert und andere Wege eingeschlagen haben, die uns gereizt haben. Irgendwie hatten wir noch nicht das notwendige Selbstvertrauen dazu und jetzt hatten wir einfach genug Zeit, dieses Selbstvertrauen zu tanken, um unsere eigene musikalische Sprache weiterzuentwickeln.

Konntet ihr die Songs von „Ultra Mono“ eigentlich jemals live präsentieren?
Joe: Nein. Wir haben erst vor kurzem wieder angefangen, Konzerte zu spielen, das fühlt sich ziemlich magisch für uns an. Das beste Gefühl der Welt, würde ich sagen. Live spielen zu dürfen, ist ein Geschenk. Ein Privileg, das nicht viele haben. Deshalb stecken wir unsere ganze Kraft in unsere Shows und in unser Songwriting. Wieder auf die Bühne gehen zu dürfen, ist für uns ein Riesending. Wenn du jetzt ein Konzert von uns besuchst, wirst du die Dankbarkeit in unseren Gesichtern sehen.

„Ultra Mono“ ist euer bislang erfolgreichstes Album. Es kletterte sogar auf Platz eins der britischen Charts. Wie hat sich das angefühlt?
Mark: Darauf hatten wir gar keinen Einfluss. So etwas gehört auch gar nicht zu unserer Motivation oder unseren Zielen als Band. Natürlich wollen wir so viele Menschen wie möglich mit unserer Musik erreichen und so viele Fans wie möglich auf unserer Reise mitnehmen, aber für den kommerziellen Erfolg sind ausschließlich unsere Fans und unser Label verantwortlich. Als wir an der Spitze der Charts standen, haben wir uns längst mit unserem neuen Album „Crawler“ beschäftigt. Die Nachricht hat uns erreicht, als gerade alle in einem Raum saßen und an den neuen Songs gearbeitet haben. Für uns als Künstler ist es am wichtigsten, Musik zu schreiben, aufzunehmen und die Songs später live auf der Bühne zu performen. Das Schöne an „Crawler“ ist, dass wir die Konzertsituation aus unseren Köpfen verbannen konnten. Wir konnten das neue Material also zum ersten Mal als reines Studioalbum betrachten und uns voll auf die Produktion konzentrieren. Bei „Ultra Mono“ ging es sehr oft darum, wie man die Songs live spielen kann und wie sie auf der Bühne klingen werden. Mit all diesen Riffs, die einen ganzen Raum füllen können. Bei „Crawler“ haben wir viel mehr auf Nuancen geachtet, auf Kleinigkeiten, die einem im Kopfhörer auffallen. Wenn man vor einem Plattenspieler sitzt und sich sehr intensiv ausschließlich mit einem Album beschäftigt.
Joe: Deshalb war es auch so wichtig, dass Mark das Album koproduziert hat. Es war für ihn eine große Herausforderung, eine Chance, sich in seiner künstlerischen Ausdrucksweise zu beweisen. Das hatte er sich schon sehr lange gewünscht, aber erst jetzt hat es sich durch die Umstände der Pandemie so ergeben. Dadurch ist es ohne Zweifel ein Album wie aus einem Guss geworden.

Wie konntet ihr in dieser Zeit zusammenarbeiten? Alle zusammen in einem Raum oder jeder für sich getrennt, verbunden über elektronische Medien?
Joe: Weil „Crawler“ so viele introspektive Momente hat, unterscheidet sich das Album ganz enorm von unseren bisherigen Platten. Wir konnten uns nicht wie bisher ständig in einem Raum treffen und uns gegenseitig unsere Ideen präsentieren, wie wir es sonst machen. So sind immer viele Dinge im Moment entstanden. Dadurch war das Songwriting aber auch immer wie eine Suche nach einem Kompromiss, wenn man vier andere Bandkollegen von seiner Idee überzeugen muss. Jetzt hatten wir diese räumliche und zeitliche Trennung im Songwriting. Wir mussten zum Teil lange warten, bis wir unsere Ideen den anderen präsentieren konnten. Außerdem hatten wir natürlich jede Menge Zeit, ausführlich über die Songs, den Inhalt der Texte und den Sound des Albums zu sprechen. So sind die Songs diesmal nicht schlagartig fertig gewesen, sondern langsam gewachsen. Das war ziemlich neu für uns als Band. Es gab also eine Menge Distanz, aber das hat uns irgendwie auch geholfen. Für mich als Songwriter war das Wachstum in der Kommunikation mit Joe und den anderen eine sehr wichtige Sache. Und natürlich das wachsende Vertrauen ins Songwriting der anderen Bandmitglieder. Unsere Songs mussten nicht mehr typische IDLES-Songs sein, Joe musste sich für seine Ideen nicht mehr meine Zustimmung als Genehmigung abholen. Ähnlich war es mit Adam. Jetzt hieß es eher: Joe hat einen echt guten Song geschrieben, lasst uns ihn alle dabei unterstützen, den Song gemeinsam nach vorne zu bringen. Das war in meinen Augen sehr erfolgreich und sehr ehrgeizig. Mit diesem Album haben wir unsere kreativen Grenzen neu ausgelotet und Mauern eingerissen, die uns bisher eingeengt haben. Dieses Album mit dem Support von allen in der Band zu schreiben, war wirklich eine sehr schöne Erfahrung für mich.

Hat „Crawler“ ein Konzept, einen roten Faden?
Joe: Das hat dieses Album, ja. Im Prinzip erzählt es die Geschichte der letzten zwanzig Jahre meines Lebens und von der Schönheit des Heilungsprozesses. Jeder Song stellt also einen speziellen Aspekt meiner Erholung dar. Es geht um die Verarbeitung von Traumata, wie ich mit persönlichem Kummer umgegangen bin oder wie ich mich aus den Teufelskreisen der Sucht befreit habe. Im Zentrum steht dabei immer das Überleben in verschiedenen Lebensphasen. Wie ich Vergebung gefunden und Verantwortung für mich selbst und mein Handeln übernommen habe. Wie ich für mich entdeckt habe, wie schön das Leben sein kann. In der Pandemie hatte ich die Zeit und die Muße in Therapiestunden zu verstehen, warum ich auf diesem Planeten bin. Ich habe mir viele Gedanken über negative, aber auch positive Episoden meines Lebens gemacht. Dieser Prozess war eine wunderbare Erfahrung für mich und hat mich als Songwriter dahin gebracht, wo ich musikalisch und textlich sein möchte. Seitdem habe ich große Lust, noch mehr Gedichte und Geschichten zu schreiben als je zuvor. Und die beste Geschichte, mit der ich anfangen konnte, war meine eigene Story.

Also hatte die Pandemie und der damit verbundene Lockdown durchaus große Vorteile für euch als Band und für das neue Album?
Joe: Auf jeden Fall. Wir haben von dieser unfreiwilligen Auszeit vielleicht mehr profitiert als viele andere Leute. Einige unserer Freunde, die zum Teil viel bessere Musiker sind als wir, waren gezwungen, sich wieder ganz normale Jobs zu suchen. Wir konnten uns ganz darauf konzentrieren, uns weiterzuentwickeln.

Und wie seid ihr persönlich mit der Situation klargekommen? Vielen Menschen, die ohnehin schon psychische Probleme hatten, hat die monatelange Isolation gar nicht gutgetan.
Mark: Aus meiner Perspektive als viel beschäftigter Musiker mit einer zweijährigen Tochter war es ein Segen. Normalerweise glänzen wir in unseren Familien durch Abwesenheit, weil wir oft wochenlang auf Reisen sind. Für mich war es also ein echtes Geschenk, so viel Zeit mit meiner Tochter verbringen zu können. Ich konnte als Vater Präsenz zeigen und unsere Beziehung zueinander viel besser verstehen. Das wäre nie passiert, wenn ich in den vergangenen zwei Jahren ständig auf Tour gewesen wäre. Deshalb bin ich für diese Zeit sehr dankbar.
Joe: Mir geht es genauso. Ich habe auch eine Tochter, die gerade zwei Jahre alt ist. Zum Glück mussten wir uns noch nicht mit so furchtbaren Dingen wie Home-Schooling herumschlagen. Wir mussten unsere Kinder nur füttern und saubermachen, wenn sie in die Hose gemacht haben, haha.

Was steckt hinter dem Albumtitel „Crawler“?
Joe: Das darf jeder für sich selbst entscheiden. Für mich ist ein Kriecher jemand, der sich gerade von einem Schlag erholt. Jemand auf seinen Knien ist für mich ein Sinnbild für Trotz, Widerstandsfähigkeit, Leiden und Selbstmitleid. Seitdem ich lange selbst auf den Knien war, habe ich die besten Freunde, die beste Familie und den besten Job. Gerade führe ich das beste Leben, das ich mir vorstellen kann, weil ich das alles durchgestanden habe. Aus einer anderen Perspektive wirkt jemand auf seinen Knien, egal ob wirklich oder metaphorisch, wie ein Stück Scheiße. Aber so unterscheiden sich eben die unterschiedlichen Sichtweisen.

Die erste Single vom neuen Album heißt „The Beachland Ballroom“. Was ist das für ein Ort und welche Verbindung habt ihr dazu?
Joe: The Beachland Ballroom ist ein Venue in Cleveland, Ohio. Der Laden hat zwei Säle. Zum einen Tavern im vorderen Bereich, und zum anderen den Ballroom im hinteren Bereich. Tavern hat ein Fassungsvermögen von 80 Leuten, in den Ballroom passen 400 Menschen rein. Als wir in den Staaten auf Tour waren, haben wir im Tavern gespielt und waren nicht ganz ausverkauft. Zu diesem Zeitpunkt war der Ballroom geschlossen, wir konnten aber durch die Glasscheibe in der Tür reinschauen. Da war dieser wunderschöne Ballroom aus den Sechzigern, in dem gerade jemand den Boden feucht aufgewischt hat, mit einer tollen Bühne und schönen orangefarbenen Vorhängen. In diesem Moment haben wir uns vorgenommen, zurückzukommen und irgendwann im Ballroom zu spielen. Es war für uns eine große Inspiration, auch in Übersee zu wachsen und immer erfolgreicher zu werden. Zwei Jahre später standen wir dann tatsächlich dort auf der Bühne. Wir waren also nicht mehr in einem schäbigen Van unterwegs und haben in der kleinen Kaschemme vorne gespielt, sondern durften hinten im großen Saal auftreten. Weil wir demütig geblieben sind und hart gearbeitet haben. Dieses Bild mag ich als Allegorie für meinen Heilungsprozess. Die Urteile von anderen Menschen halten dich oft unten auf deinen Knien. Wenn du aber all diese Bewertungen ignorierst, wirst du irgendwann auf der großen Bühne landen. Deshalb ist „The Beachland Ballroom“ für mich eine auch Geschichte von Widerstandsfähigkeit. Wie wir einem der schlimmsten Orte entwachsen sind und als bessere und stärkere Menschen zurückgekommen sind.

Ich mag deinen Gesang in diesem Song sehr. So habe ich dich noch nie gehört. Wie kam es, dass du dich stimmlich so weiterentwickelt hast?
Joe: So habe ich mich auch noch nie gehört, haha. Das ist einfach ganz spontan in der Gesangskabine entstanden. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch gar keinen Text für den Song. Ich habe einfach angefangen zu singen, es hat sich gut angefühlt und ich denke, wir waren alle überrascht.

Das ganze Album klingt ganz anders, als man IDLES kennt. Viel souliger und zum Teil auch elektronischer. Woher kommt dieser neue Sound?
Mark: Es gibt viele Gründe, warum „Crawler“ so anders klingt. Mit „Ultra Mono“ haben wir eine Art Karikatur von uns selbst geschaffen. Für dieses Album haben wir vor allem die Songs geschrieben, die alle von uns erwartet haben. Das entspricht aber nicht unserem Anspruch an uns selbst als Künstler. Damals hatten wir aber noch nicht das nötige Selbstvertrauen, um die ausgetretenen Pfade zu verlassen. All das zu ignorieren, was sicher ist und was sich die Leute von uns wünschen. Deshalb haben wir uns entschieden, alle Brücken hinter uns abzureißen und solche Songs nie wieder zu schreiben. Obwohl ich es natürlich sehr genieße, die Songs von „Ultra Mono“ jetzt endlich auch live zu spielen. Wir können sie jetzt auch in viel größeren Läden performen, für die sie eigentlich gedacht waren. Aus der Songwriter-Perspektive wollten wir schon immer Songs wie „The Beachland Ballroom“ schreiben, hatten aber noch nicht das Know-how und das Werkzeug, diese Ideen umzusetzen. So schöne Songs zu schreiben, ist wirklich nicht einfach. Auf dem Weg gibt es jede Menge Falltüren und es ist eine ziemliche Strecke von unserer krachigen Identität als IDLES. Wir mussten erst erforschen, wie wir den Ausdruck und die Katharsis eines typischen IDLES-Song auf einen Soul-, einen Doo-wop- oder einen melancholischen Elektro-Track übertragen können. Wie können wir einen Song wie von APHEX TWIN schreiben und ihn klingen lassen wie ein IDLES-Stück? Das war diesmal unsere Aufgabe. „Ultra Mono“ und unsere beiden anderen Alben waren immer wie ein Schlag ins Gesicht. Mit „Crawler“ wollten wir der Gewalt unserer Songs eine andere Gestalt verpassen. Wir haben dadurch unsere Musikalität entdeckt und fühlen uns auch zum ersten Mal wie echte Musiker. Das war unser Ziel und deshalb klingt das Album viel souliger, introspektiver und durchdachter.

Was bedeutet der Titel des Openers „MTT 420 RR“?
Joe: Das ist die Bezeichnung für ein Motorrad. Wenn du die Bezeichnung in Google eingibst, bekommst du gleich ein Bild davon. Ich benutze das Motorrad als Metapher für den Knall, all die Traumata, die ich durchlebt habe. Auf diesem Album habe ich mit den anderen in der Band zum ersten Mal über Texte gesprochen, bevor ich sie geschrieben habe. Und das Bild von einem Motorrad war in unseren Augen der perfekte Start für das Album und seine Geschichte. In einen Unfall verwickelt zu sein, bedeutet in der britischen Kultur, in ein absolutes Chaos zu geraten. Ich bin tatsächlich früher selbst Motorrad gefahren und ich habe den Titel gewählt, weil er aus meiner Sicht repräsentativ, aber unwichtig ist. Ein Ausdruck ohne Bedeutung, den du mit deiner eigenen Interpretation aufladen kannst. Die Idee, die dahintersteckt, ist, dass all die Bilder und Geschichten hinter den Songs deine genauso wie meine sind. Ich will nicht zu narzisstisch sein, was meinen Heilungsprozess betrifft. Mir geht es eher um die Besserung von allen Menschen. Egal wovon. Am wichtigsten ist es, dass sich keiner mit seinen Problemen alleine fühlt.
Mark: Der erste Song ist aber auch exemplarisch für den Sound des ganzen Albums. Er startet ganz langsam und leise und schafft diesen Raum und die Gefühlslage. So versteht man besser, was einen im Rest des Albums erwartet. Da wird einem sofort klar, dass man kein „Ultra Mono“ Teil zwei bekommt. Man versteht, dass die Texte anders sind und die Musik eine ganz andere Tragweite hat. Wir bereiten die Hörer quasi auf den Weg vor, den wir gemeinsam mit ihnen beschreiten wollen.

Mein persönlicher Favorit ist „King snake“, der klingt eher wie ein typischer IDLES-Song. Wer ist denn die Königskobra?
Joe: Das bin ich, haha. Ich bin eine verdammte Schlange. Dieser ganze Song hat nur eine Botschaft: Ich bin nichts, du bist nichts und das ist eine verdammt schöne Tatsache. Ich mag den Song auch sehr und ich musste Mark lange davon überzeugen, ihn aufs Album zu nehmen. Ich habe immer zu ihm gesagt: Ich weiß, du magst dieses Stück nicht, aber wenn du den Text hörst, wirst du es lieben. Ich glaube, es ist immer noch der Song, der ihm am wenigsten gefällt.
Mark: Ich war einfach besessen von der Idee, nicht die IDLES zu sein, die alle von uns erwarten. Deshalb hat sich dieser Song für mich zu sehr nach gewohntem Terrain angefühlt. Als er aber letztendlich auf dem Album gelandet ist, hat mir der Trotz gefallen, den diese Nummer versprüht. Der Wille, all das nicht zu ignorieren, was wir und mit unseren ersten drei Alben erarbeitet haben. Das ist natürlich auch ein extrem wichtiger Aspekt der Platte, deshalb mag ich den Song inzwischen.

Joe, du bist ja auch auf dem neuen Album von FRANK CARTER & THE RATTLESNAKES vertreten. Wie kam es zu dem Song „My town“?
Joe: Wir sind gut befreundet. Ich bin schon seit GALLOWS ein großer Fan von Frank Carter. Sie waren so ziemlich die erste Rock’n’Roll-Band, in die ich mich verliebt habe. Zu seinen Texten konnte ich sofort einen Bezug herstellen, ich kann seinen Schmerz und sein Leid spüren. Seine Stimme hat mich schon immer beeindruckt. Diese Wanderung auf dem feinen Grat zwischen Verletzlichkeit und Brutalität ist in meinen Augen wirklich ein herausragendes Talent. Deshalb habe ich Frank als Künstler immer sehr geschätzt und als ich ihn getroffen habe, habe ich ihm meine Liebe gezeigt und bin auf Gegenliebe gestoßen. Deshalb haben mich die RATTLESNAKES als Gast auf ihr Album eingeladen und anschließend hat mir Frank gleich noch zwei Tattoos verpasst. Auf meine Schienbeine, das hat wirklich wehgetan.

Für die Arbeit an „Crawler“ habt ihr euch wieder den kalifornischen HipHop-Produzenten Kenny Beats ins Studio geholt. Wie schon bei „Ultra Mono“. Warum?
Mark: Diese Partnerschaft funktioniert einfach gut. Kenny versteht unsere kreative Ausdrucksweise, ohne dass wir viel erklären müssen, und er genießt das Vertrauen von jedem einzelnen Bandmitglied. Außerdem geht er seine Arbeit im Studio auf eine sehr unaufdringliche, unauffällige Art an. Er versucht nie, der Musik seinen eigenen Stempel aufzudrücken. Er ist einfach nur ein Fan von unserer Musik und liebt wie wir den kreativen Prozess. Im Prinzip ist er bei der Platte wie eine Art Erntehelfer, indem er uns dabei unterstützt, unsere Ziele zu erreichen und unsere Ideen in Form zu bringen. Obwohl man ihn als HipHop-Produzent kennt, ist er auf kein spezielles Genre festgelegt. Er hat auch keine Berührungsängste mit unserer Art von Musik. Ich würde ihn als Musikenthusiasten beschreiben. Er hat keine verkrusteten Vorstellungen, wie bestimmte Sounds klingen oder die verschiedenen Instrumente aufgenommen werden sollen. Wir schätzen seine künstlerische Offenheit sehr, deshalb macht es großen Spaß, mit ihm zu arbeiten. Mit ihm zwei Wochen zusammen in einem Studio zu sein, hat alle angespornt, sich noch mehr anzustrengen. Abgesehen davon hat uns sein technisches Know-how natürlich sehr geholfen. Wir haben uns also mit unseren Stärken gegenseitig gut ergänzt. Mit ihm als Co-Produzent zu arbeiten, war eine sehr harmonische Sache. Es gab keinerlei Spannungen oder Reibereien. Nur an ein paar Stellen hat er Änderungen vorgeschlagen, die haben die Songs aber dann auch erheblich verbessert.

Ich habe schon in einigen Interviews gelesen, dass ihr nicht gerne als Punk- oder Post-Punk-Band bezeichnet werdet. Warum ist das so?
Joe: So ziemlich jeder Journalist spricht mich darauf an, dass ich behauptet hätte, wir würden nicht gerne als Punkband bezeichnet werden. Das stimmt aber gar nicht, da bin ich falsch zitiert worden. Diese Frage höre ich jetzt schon seit sieben Jahren. Ich habe das nie gesagt. Ich habe damals gesagt, wir betrachten uns selbst als Post-Punk-Band, die versucht, ihren Horizont zu erweitern. Wir wollen einfach nicht in einem Taubenschlag gefangen sein, denn wir sehen uns als Künstler. Wir wollen die Entscheidung, wer wir sind und was wir machen, in unseren eigenen Händen haben. Wir erlauben niemand, uns zu erzählen, was wir sind, denn das bremst uns in unserer kreativen Entwicklung. Aber wenn du mir sagst, du hältst uns für eine Punkband, sage ich: Klar sind wir das. Weil du der Zuhörer bist. Wenn du denkst, wir sind eine Punkband, dann ist das so. Es spielt auch gar keine Rolle, wie man unsere Musik nennt. Du interpretierst Musik vielleicht ganz anders, als ich es tue. Das ist die Schönheit von Kunst. Abgesehen davon sind Mark und ich völlig verschieden. Das hört man auch in unserer Musik, finde ich. Uns vereint unsere Leidenschaft für Musik, Freunde, Familie und Guinness. Für unser Debütalbum „Brutalism“ zum Beispiel habe ich Jungle-Basslines geschrieben und in Marks Gitarren kann man einen Bezug zu Minimal-Techno hören. Bei unserer aktuellen Lieblingsband GIRL BAND aus Dublin kann man deutlich erkennen, dass sie elektronische Musik lieben. An der Art, wie ich singe, kann man heraushören, dass ich mit HipHop aufgewachsen bin. Ich bin nicht mit Punk oder Rock’n’Roll groß geworden. Bis ich 19 war, habe ich nur HipHop gehört, obwohl meine Eltern Punks waren. Als wir uns als Band zusammengefunden haben, war die Sprache, die wir gemeinsam gesprochen haben, Post-Punk.
Mark: Einen großen Einfluss auf den Aufnahmeprozess von „Crawler“ hatte die schottische Elektrokünstlerin Sophie. Sie hat mal in einem Interview gesagt: Warum soll ich mich mit Gitarren aufhalten, wenn ich mit Synthies viel brutalere Musik machen kann? Das ist eine Perspektive, die uns sehr gefallen hat. Deshalb schauen wir immer sehr auf HipHop oder elektronische Musik. Da gibt es viel härtere, kathartische Sounds als im Rock oder Punk. Gitarren sind eigentlich sehr eingeschränkte Instrumente. Deshalb wollten wir auf „Crawler“ mit unseren Gitarren so nah wie möglich an elektronische Musik herankommen. Es gibt viele Gitarren auf dem Album, die klingen wie Synthies. In meinen Augen hat es den größten Fortschritt in den letzten vierzig Jahren nur im HipHop und in elektronischer Musik gegeben. Punk und Gitarrenmusik generell haben leider sehr gelitten. Rock’n’Roll und Gitarren bleiben aber als kathartischer Akt enorm wichtig für mich. Menschen, die akustische Instrumente spielen, werden immer der zentrale Aspekt von Live-Musik bleiben. Deshalb werde ich immer eine Gitarre spielen und Teil einer Band sein. Aber gleichzeitig versuchen wir, die innovativen Elemente von HipHop in unsere Musik zu integrieren.
Joe: Außerdem war die Rave-Culture in meinen Augen die letzte Bastion von echten Gemeinschaften. Menschen, die hart für eine Sache gearbeitet haben, die größer war als sie selbst: die Musik. Das habe ich so in der Hardcore-Punk-Szene nicht erlebt. Und auch die Positivität in dieser Szene hat uns sehr beeinflusst. Letztendlich bist du immer ein Spiegelbild von dem, was du liebst. Ich bin weder mit SEX PISTOLS noch mit NIRVANA groß geworden. Ich habe in meiner Jugend eher Künstler wie Biggie Smalls, THE PHARCYDE oder Nas gehört. Daneben gab es noch viel Soul und Blues. Das erste Gitarrenriff, das ich je gehört habe, war „Rollin’ and tumblin’“ von Muddy Waters. Dazu kamen Songs von SAM & DAVE. Gitarren haben mich ganz lange nicht interessiert. Und dann kamen plötzlich THE STROKES und haben mich überfahren wie ein Zug. Die haben alles verändert.

Bei „Ultra Mono“ hattet ihr jede Menge Gäste im Studio. War das bei „Crawler“ genauso?
Joe: Wir hatten ein paar Kollaborateure, aber es war anders als bei „Ultra Mono“. Wir wollten mit allen am Album beteiligten Personen eine Einheit bilden. Deshalb hatten wir diesmal nur Colin Webster am Saxophon und Charlie Nichols am Cello dabei. Als Gaststimme war nur Dane Cross vom Londoner Black-Metal-Projekt SACRED SON mit von der Partie. Er hat beim letzten Song „The end“ mitgesungen, denn wir lieben auch Black Metal. Das ist wirklich erstaunliche Musik. Vor allem der stumpfe, brutale Sound von frühen Bands wie MAYHEM gefällt uns sehr.
Mark: Eine Sache, die uns bei Dane sehr gut gefallen hat, war das Artwork seines Debütalbums, das völlig antithetisch zum Rest der Black-Metal-Szene ist. Nur er mit Sonnenbrille und T-Shirt im Urlaub, das hat uns gut gefallen. Seine erfrischende Art, mit Dogmas umzugehen, fanden wir sehr anziehend, deshalb haben wir ihn angesprochen. Für uns hat es sich richtig angefühlt, seine Stimme auf dem Album zu haben.
Lasst uns noch ein bisschen über die Wurzeln von IDLES sprechen. Wie hat alles angefangen? Was war der Plan, als ihr die Band gegründet habt?
Joe: Als ich Mark kennen gelernt habe, waren wir beide DJs in einem Club. Befreundete Veranstalter haben uns vorgestellt. Adam kenne ich schon seit meiner Schulzeit. Jo ist schon unser vierter Drummer und Lee unser zweiter Rhythmusgitarrist. Zu diesem Zeitpunkt war Großbritannien voll mit langweiligen, gut aussehenden Gitarrenbands, die sich von Kokain ernährt haben. Damals habe ich in einem Club in Bristol namens The Batcave aufgelegt, vor allem Punk, Post-Punk und Indie-Zeug. Irgendwann war ich total gelangweilt davon, die Musik von anderen Bands aufzulegen. Ich konnte außerdem die Motivation dieser Bands nicht verstehen, die auf mich immer unheimlich gelangweilt wirkten. Es ergab für mich gar keinen Sinn, dass Menschen viel Geld für ein Ticket bezahlen und dann nur gelangweilte Fressen auf der Bühne sehen. Deshalb habe ich mit Adam irgendwann beschlossen, eine eigene Band zu gründen, und Mark kam dann etwa zwei Wochen später dazu. Die nächsten vier Jahre haben wir dann damit verbracht, Songs zu schreiben und keine Konzerte zu spielen. Als wir irgendwann angefangen haben, live zu spielen, waren wir furchtbar, deshalb haben wir schnell wieder aufgehört. Für etwa eineinhalb Jahre. Aber inzwischen haben wir gelernt, nicht mehr scheiße zu klingen. Mit „Brutalism“ sind wir zurückgekommen und der Rest ist Geschichte.

Im Sommer hat ein Dokumentarfilm über euch Premiere gefeiert. „Don’t Go Gentle“ heißt er. Wie war es, Regisseur Mark Archer und sein Team so nah an sich heranzulassen?
Joe: Das war sehr einfach, weil Mark ein guter Freund ist. Wenn man erfolgreich ist und die Menschen mehr über einen erfahren wollen, ist das in unseren Augen ein Geschenk. Außerdem ist es Marks Film, nicht unserer. Wir wollen einfach nur unsere Musik machen und uns nicht im öffentlichen Interesse an uns verheddern. Deshalb haben wir ihn einfach machen und uns nicht ablenken lassen.

Der Film hat durchaus intime Momente, in denen ihr über sehr persönliche Dinge sprecht. Ist euch das nicht schwer gefallen?
Joe: Damit hatte ich gar kein Problem. Ich habe schon vor langer Zeit gelernt, so offen wie möglich zu sein. Und nichts zulassen, das sich wie ein Krebsgeschwür in dich hineinfressen kann, weil du nicht darüber redest. Das hilft niemandem.

Ich fand diese Online-Community namens AF Gang sehr beeindruckend. Was verbindet euch mit dieser Gruppe?
Joe: Das sind einfach Fans von uns. Aber wir haben generell eine intensive Verbindung zu unserem Publikum, egal ob AF Gang oder nicht. AF Gang ist kein expliziter Fanclub von IDLES, sondern eine Gruppe von Menschen, die über unsere Musik eine Verbindung geknüpft haben. Sie sind also keine Die-hard-Fans, sondern eine wundervolle Gemeinschaft, die gut aufeinander achtet. Unser Publikum hat uns in den vergangenen zwölf Jahren auf Händen getragen. Viele aus der AF Gang sind Freunde von uns, einige sind auch durch AF Gang zu unseren Freunden geworden. Diese tolle Gemeinschaft ist aber nicht unser Verdienst und wir wissen ihre Existenz sehr zu schätzen.

Durch den Film habe ich übrigens auch erfahren, Mark, dass du vor IDLES als Zahnarzt gearbeitet hast. Was haben die anderen in der Band früher beruflich gemacht?
Mark: Ich habe sogar noch eine Zeit lang versucht, beides unter einen Hut zu bekommen, aber irgendwann ging es nicht mehr. Wenn man 200 Shows im Jahr spielt, ist das einfach unmöglich.
Joe: Ich war Sozialarbeiter und habe mich vor allem mit Menschen mit Lernschwierigkeiten beschäftigt. Autisten, Borderline-Patienten oder Menschen, die unter Schizophrenie leiden. Ich bin mit ihnen einkaufen gegangen, bis hin zur Körperpflege. Je nachdem, wo sie Unterstützung gebraucht haben. Adam hat einen Club geleitet, Lee hat am British Modern Music Institute gearbeitet und Jon hat ein Café betrieben.

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Diskografie
„s/t“ (CD, 2011), „Welcome“ (CD, Fear Of Fiction, 2012), „Meat“ (CD, Balley, 2015), „Brutalism“ (LP, Balley, 2017), „Joy As An Act Of Resistance“ (LP, Partisan, 2018), „Ultra Mono“ (LP, Partisan, 2020), „Crawler“ (LP, Partisan, 2021)