Es ist wohl der unweigerliche Reflex eines jeden Musikfans, einmal lieb gewonnene Künstler gegen Anfeindungen von außen verteidigen zu wollen, zumal es in unserer Kultur nicht unüblich ist, einen Teil der eigenen Persönlichkeit über den individuellen Musikgeschmack zu definieren. Dass EMMURE, deren musikalische Integrität ich seit dem 2007er-Album „Goodbye To The Gallows“ für unanfechtbar halte, gelegentlich mit dem so genannten Nu Metal in Verbindung gebracht werden, muss mir vor diesem Hintergrund sauer aufstoßen, denn bekanntlich ist diese Bezeichnung längst zu einem Schimpfwort avanciert. Wenn obendrein eine amerikanische Kollegin die Band als „Kindermetal“ abzuqualifizieren versucht, dann fühle ich mich besonders herausgefordert. Gemessen an dem seit langem um sich greifenden Jugendlichkeitswahn bin ich mit Mitte 30 ein alter Sack, allerdings einer, dem derartige Generationenpostulate höchst suspekt erscheinen. Meine Irritation nahm ich zum Anlass, dem Frontmann Frankie Palmeri einige Fragen zu stellen, auf die ich mir schon immer Antworten wünschte.
Frankie, aus meiner Sicht bist du einer der vielseitigsten Extrem-Vokalisten, und das nicht nur, weil du über eine breite stimmliche Ausdruckspalette verfügst, sondern weil deine vokalen Äußerungen stets nachvollziehbar an den textlichen Gehalt und an die Songstruktur angepasst sind. Kannst du mir etwas zum Songwriting-Prozess sagen?
Erst mal vielen Dank für die Blumen. Zu deiner Frage fällt mir spontan nur ein, dass ich mich von der Musik inspirieren und leiten lasse. Meine Gedanken sowie die Art und Weise, wie ich Dinge wahrnehme und wie ich sie in Worte fasse, bilden eine Einheit. Ich entlasse sozusagen mein reinstes und aufrichtigstes Ich in die Musik.
Wie viel von deiner Person steckt tatsächlich in den Texten? Es gibt da zuweilen Inhalte, die den Gleichstellungsbeauftragten in mir wecken.
Ohne hier meine Ansichten über Frauen oder Sexismus auswalzen zu wollen: Ich kann nur hoffen, dass die Leute verstehen, welch heilsame Wirkung Musik haben kann, wenn man in ihr das ausdrückt, was man zu einem bestimmten Zeitpunkt empfindet. Ich habe aus Verdruss Dinge geäußert, von denen ich heute einige liebend gern zurücknehmen würde. Doch wenn man jung ist, tendiert man dazu, mehr mit dem Herz als mit dem Verstand zu agieren, und gute Musik kommt unweigerlich aus dem Herzen.
Gibt es bestimmte Sänger, die dich auf deinem Weg beeinflusst haben?
In meiner Jugend haben mich insbesondere Jonathan Davis und Fred Durst beeindruckt.
Und heute? Wie trainierst du deine Stimme?
Im klassischen Sinne gar nicht. Mike Patton, dessen Stimmkünste ich sehr verehre, hat einmal gesagt, man könne sich die Stimme als einen Muskel vorstellen, der sich durch ständigen Gebrauch festigen lässt. Außerdem solle man sich nicht genieren, alles Mögliche damit auszuprobieren, selbst wenn man sich gelegentlich zum Affen macht, weil dies Teil des Lernprozesses ist. Das hat sich in meinem Kopf festgesetzt.
Im Unterschied zu „Gallows“ und „Felony“ bringt ihr auf dem aktuellen Album vermehrt stimmliche Overdubs und vokale Effekte zum Einsatz.
Ich habe mir nie die Mühe gemacht, „Speaker Of The Dead“ mit unseren früheren Releases zu vergleichen. Während der Produktion habe ich aber versucht, mir darüber bewusst zu werden, welche Elemente harter Musik zur Zeit im Umlauf sind. Die Schichtung verschiedener Stimmcharaktere war nie etwas, das ich ausklammern wollte. Wenn man jedoch viele andere Bands mit diesem Stilmittel arbeiten hört, dann fragt man sich irgendwann: Wollen wir das auch? Letztlich haben wir uns dafür entschieden, zumal es auf den älteren Alben schon angelegt war.
Bleiben wir doch kurz bei der neuen Scheibe. Der auf dem Cover abgebildete Ghettoblaster lässt einen unweigerlich an Oldschool-HipHop denken. Spielt diese Musik für euch irgendeine Rolle?
Gemeint war es ausschließlich als Versinnbildlichung des Albumtitels. Die Boombox symbolisiert eine Art Botschafter, einen medialen „Fürsprecher der Toten“.
Nervt es euch, wenn eure Musik als Nu Metal rezipiert wird?
Abgesehen davon, dass es mir schnuppe ist, wie die Leute unsere Musik kategorisieren, kommt der Schiedsspruch „Nu Metal“ einem Kompliment gleich. Man schaue sich einmal ganz vorurteilsfrei die beeindruckenden Karrieren derjenigen Bands an, die mit diesem Etikett versehen worden sind.
Ich habe den Eindruck, dass ihr gerne mit popkulturellen Semantiken spielt. Songtitel wie „Travis Bickle“ und „When keeping it real goes wrong“ verweisen auf Filme und TV-Shows. In euren Lyrics gibt es entweder Bezüge zu anderen Rock-Bands oder direkte Zitate, so etwa in „R2 deepthroat“, wo eine markante Zeile aus „Starfuckers, Inc.“ von den NINE INCH NAILS übernommen ist. Zudem bietet ihr Shirts an, deren Motive an das Artwork bekannter Alben, etwa von VAN HALEN, KORN, oder an Videospiele angelehnt sind. Ist diese Form der Intertextualität ein Markenzeichen?
Nicht unbedingt ein Markenzeichen, aber wir haben definitiv ein Faible dafür, vertraute Sinnzusammenhänge umzudeuten. Wir lieben es, Dinge entstehen zu lassen, bei denen jemand sagen kann: „Ah, verstehe!“ – oder noch besser: „Ah, ich verstehe die Art der Bezugnahme!“ Das Material, das wir in verschiedenen Bereichen generieren, soll dem Publikum die Möglichkeit der kulturellen Identifikation bieten.
Das scheint dann auch mal in die andere Richtung zu funktionieren: Im Remake der Sci-Fi-Serie „V“ prangt an der Wand eines Kinderzimmers euer Bandposter. Was hast du zu eurer Verteidigung vorzubringen, haha?
Ja, davon habe ich gehört. Keine Ahnung, wie ausgerechnet wir ins Spiel kamen. Ich nehme an, die Produzenten haben auf last.fm oder sonst wo nach „böser“ Musik gefahndet und das Suchergebnis dem Filmset integriert. Vielleicht hat die Sache aber auch einen tieferen Sinn. Wer weiß ...
Trotz der niedergedrückten Stimmung, die viele eurer Nummern vermitteln, seid ihr nicht humorlos. Ich denke unter anderem an das Interview mit Maris The Great, in dem ihr als durch und durch „männliche“ Band auch mal homosexuellen Annäherungsversuchen standhalten durftet. Du wusstest ja sicherlich, worauf du dich da einlässt.
Maris ist natürlich eine Kunstfigur. Im Kontext der Musikindustrie muss man den Umgang mit allen möglichen schillernden Charakteren erlernen. Davon abgesehen ist er ein unglaublich smarter Typ, so dass es tierischen Spaß gemacht hat, mit ihm abzuhängen.
Eine simple Frage zum Schluss: Könnt ihr einen doofen Deutschen über die Bedeutung eures Bandnamens aufklären? Im Wörterbuch sucht man danach vergeblich. Soll man mit euch die ähnlich lautende Vokabel „immure“, also „etwas oder jemanden einmauern“ assoziieren?
Bingo!
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