DILLINGER ESCAPE PLAN

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Ein Leben in Albumzyklen

Nachdem vor drei Jahren „Option Paralysis“ als erste Veröffentlichung des bandeigenen Labels Party Smasher Inc. erschienen war, wurde es nach kurzen Touren in Kontinentaleuropa hierzulande etwas ruhiger um THE DILLINGER ESCAPE PLAN. Doch untätig war die Band aus New Jersey, die zu den Vorreitern des Mathcore zählt, in der Zwischenzeit wirklich nicht. Im Gegenteil, sie verbrachte fast zwei Jahre auf Tour, überwiegend in den USA und in Großbritannien. Mit „One Of Us Is The Killer“ ist nun der Nachfolger erschienen, das mittlerweile fünfte Studioalbum. Am Ende eines langen Interview-Tages erzählt Sänger Greg Puciato Anfang April in Berlin, wieso die Band das neue Album nicht früher einspielen konnte, wie schmerzhaft Aufnahmen sein können – und was das Gute an solchen Belastungen ist.

„Option Paralysis“ ist vor drei Jahren erschienen. Seitdem wart ihr fast ununterbrochen auf Tour. Hattet ihr von Anfang an vor, so lange unterwegs zu sein?


Eigentlich hatten wir im Frühjahr 2011 unsere Konzerte schon beendet und wollten uns nach einer kleinen Pause an ein neues Album machen. Dann wurden wir gefragt, ob wir mit den DEFTONES auf Tour gehen möchten. Das war so nicht geplant, aber wir haben die Einladung sofort angenommen. Kaum waren wir drei Monate später fertig, kam von MASTODON die nächste Anfrage, zunächst für eine US-Tour, anschließend auch Europa, die wir ebenfalls gerne akzeptiert haben. Wir gehen eigentlich nicht oft als Support für eine andere Band auf Tour. Es gibt nicht viele Bands, die unseren Kriterien für so etwas entsprechen und mit denen wir uns wohl fühlen. Insgesamt sind es vielleicht sechs oder sieben Bands, die größer sind als wir und die wir sofort als Support begleiten würden. Das waren zwei davon. Das hat letztlich unseren Zeitplan um fast ein Jahr nach hinten verschoben. Wir wurden ständig gefragt, wann wir ein neues Album aufnehmen, mussten nach zwei Jahren auf Tour aber erst ein wenig Abstand gewinnen, um etwas Neues in Angriff nehmen zu können. Man muss sich sammeln und etwas in sich aufnehmen, um später auch etwas wiedergeben zu können. Wir schreiben nicht neue Songs, damit ein Produkt dabei herauskommt. Touren, Schreiben, Touren, Schreiben – das ist nicht unser Ding. Ich finde, man muss zwischendurch auch mal leben und etwas erleben.

Weil ansonsten die Gefahr bestünde, nicht mehr ehrlich zu sein?

Absolut. Das passiert Bands die ganze Zeit. Deshalb denken viele oft, dass eine Band früher besser war. Nicht weil die Band mit den Jahren älter geworden ist, sondern weil die Leute in der Band zu Beginn keine finanziellen Verpflichtungen hatten. Sie haben das aus sich herausgeschrieben, was sich in ihnen angesammelt hat. So entstehen reine, ehrliche Alben. Wenn diese Alben erfolgreich sind und die Band Geld verdient, gerät sie schnell in die Situation, weiter Geld mit ihrer Musik verdienen zu müssen, um den erreichten Lebensstandard aufrechtzuerhalten. Anstatt also ein neues Album zu schreiben, weil man in sich das Bedürfnis hat, wieder etwas zu sagen oder mit Hilfe der Musik zu verarbeiten, nimmt man das nächste Album auf, um auf Tour gehen und Geld verdienen zu können. Wir sind uns dieser Mechanismen bewusst, die sich bei jedem schnell einstellen können. Um nicht selbst in diese Falle zu geraten, leben wir alle seit Jahren unterhalb unserer Möglichkeiten, wenn du es so willst. Ich möchte lieber ein Leben lang in einer Band wie zum Beispiel TOOL sein, die nur dann ein neues Album aufnehmen, wenn sie etwas zu sagen haben, als diesem Kreislauf zu verfallen, regelmäßig neue Musik veröffentlichen zu müssen, nur um das finanzielle Niveau halten zu können.

Hattest du in den letzten Jahren das Gefühl, dass sich THE DILLINGER ESCAPE PLAN ansatzweise in diese Richtung bewegt haben?

Nicht wirklich. Das liegt vielleicht auch daran, dass die meisten neben dieser Band noch andere Wege haben, um ihre Kreativität auszuleben. Vor allem aber sind wir nicht finanziell von der Band abhängig. Eher würde ich eines Tages dem Ganzen den Rücken kehren und mir einen ganz normalen Job suchen, bevor ich täglich da rausgehen und Musik schreiben, aufnehmen und spielen müsste, die nicht aus mir, meinem Inneren kommt, nur damit ich so meinen Wohlstand aufrecht erhalten kann. Ich kann keine Texte schreiben oder singen, die ich nicht selbst so empfunden habe. Aus diesem Grund lehne ich auch Anfragen ab, auf Alben anderer Bands als Gastsänger dabei zu sein, weil ich in dem Moment nicht das Gefühl hätte, etwas Wichtiges zu sagen zu haben. Ich kann einfach keine Konsonanten und Vokale aneinanderreihen, nur um einen Scheck dafür zu bekommen. Solange ich keine Kinder und damit keine Verantwortung für jemand anderen habe, gibt es für mich keinen Grund, auch nur zu versuchen, das zu ändern.

Wie war es, nach drei Jahren wieder ins Studio zu gehen?

An sich fühlte sich für mich jeder Studioaufenthalt immer ganz natürlich an. Allerdings lief es bei den Aufnahmen für das neue Album ziemlich beschissen. Das ging richtig an die Substanz. Als hätte die ganze Zeit eine schwarze Wolke über uns gehangen. Steve Evetts, unser langjähriger Produzent, war zwischendurch schon mit den Nerven am Ende. Ben, unser Gitarrist und kreativer Kopf, hat die Band zeitweilig verlassen, und ich bin auch kurz ausgestiegen. Wir hatten Anfang November 2012 mit den Aufnahmen angefangen und sollten bis Mitte Dezember fertig werden. Tatsächlich hat es sich bis in den März gezogen. Und das, obwohl wir sechs Tage die Woche gearbeitet haben.

Klappte es nicht so, wie ihr es euch vorgestellt hattet?

Ben, Steve und ich sind die drei Leute hinter THE DILLINGER ESCAPE PLAN, von denen alles kommt. Ben und ich schreiben die Songs und Steve treibt uns voran, um bei den Aufnahmen das Bestmögliche aus uns herauszuholen. Während einer Aufnahmephase stellen wir unsere Freundschaften hintenan und konzentrieren uns auf die Musik. Steve, Ben und ich sind allesamt super genau. Das ist der Grund, warum es dieses Mal so anstrengend war. Die Vorstellungen dreier Perfektionisten können weit auseinander liegen, das kann problematisch werden. Irgendwann treibt man sich nur noch gegenseitig zur Verzweiflung. Etwa als mich Steve eine einzige Gesangslinie fünfzigmal aufnehmen ließ, bis ich völlig fertig war. Erst da war er zufrieden. Es war wie mit Stanley Kubrick und Jack Nicholson bei „The Shining“, als Kubrick die Szenen so oft wiederholen ließ, bis Nicholson durchgedreht ist. Aber dann kamen die wirklich großartigen Momente zum Vorschein. Das sind die Aufnahmen, die man im Film sieht. Jack Nicholson spielt nicht jemanden, der durchdreht, sondern der Film zeigt, wie der Schauspieler unter der Belastung selbst mit der Zeit durchdreht. Steve macht es mit Ben und mir genauso, wenn er das Gefühl hat, dass einzelne Passagen nicht wirklich ehrlich klingen oder intensiv genug. Umgekehrt zahlen wir es ihm genauso heim. Wir sagten zu ihm: „Schön, du hast die erste Single abgemischt. ,Prancer‘ ist okay geworden, aber nicht gut genug. Mach es noch mal.“ Wir haben am Ende drei Wochen damit zugebracht, diesen einen Song abzumischen. Am Anfang war das eine Trotzreaktion, nachdem er uns den ersten Mix mit den Worten vorgestellt hat, es sei das Beste geworden, das er je fertiggestellt habe. Am Ende war Steve der Verzweiflung nahe, aber der letzte Mix ist um einiges besser geworden als die Versionen davor. Die aber auch ziemlich gut waren ...

Und das ist euer normaler Umgang miteinander?

Ja. Wir treiben uns gegenseitig immer weiter an, bis wir jeweils meinen, das Beste aus uns herausgeholt zu haben. Bislang haben wir uns während jeder Aufnahmesession irgendwann gegenseitig gehasst und alle zusammen die Band. Ich wollte hinterher nicht nur das neue Album, sondern auch den Namen THE DILLINGER ESCAPE PLAN nie wieder hören. Das hielt zwei Wochen an, in denen wir nicht miteinander geredet haben. Danach haben wir uns wieder gegenseitig angerufen und festgestellt, dass es zwar ein sehr aufreibender Prozess gewesen, das Ergebnis aber gut sei. Nur diesmal war es einfach anstrengender als bei den anderen Alben bisher.

Ich hätte gedacht, die jüngsten Aufnahmen seien gerade entspannter und leichter gewesen, da ihr zum ersten Mal seit langem wieder zwei Alben mit der gleichen Besetzung eingespielt habt.

Das war sehr hilfreich. Das hat uns erst erlaubt, uns so sehr auf Details zu konzentrieren. Wir mussten nicht ein halbes Jahr damit zubringen, jemandem alte und neue Songs beizubringen. Vorher war es so, dass wir die Entstehung der Songs gar nicht genießen konnten, weil wir den damals neuen Bandmitgliedern parallel noch unsere alten Songs beibringen mussten. Erschwerend kam bei „Ire Works“ hinzu, dass wir seinerzeit kein Management hatten, das sich um alle Belange außerhalb der Musik gekümmert hätte. Es ist verdammt schwer für mich, mich aufs Texten zu konzentrieren, wenn ich täglich etwa vierzig Mails zu allen möglichen organisatorischen Fragen beantworten soll. Ich muss mich in mich zurückziehen und intensiv mit meinen Gefühlen beschäftigen, damit ich kreativ sein kann und daraus Texte entstehen.

Nicht wenige Menschen glauben ja, ihr arbeitet an neuen Songs, indem ihr euch fragt, was ihr machen könnt, das ihr nie zuvor gemacht habt, an welcher Stelle ihr einen Song noch komplizierter machen und hergebrachte Songstrukturen noch weiter zerstören könnt.

Unterbewusst haben wir sicher den Wunsch, uns mit unseren Songs nicht zu wiederholen. Nachdem wir in der Vergangenheit viele Extreme ausgetestet haben, ging es uns diesmal darum, gewisse Gewohnheiten zu durchbrechen. Wir haben zum Beispiel darauf geachtet, neue Lieder nicht in bestimmten Taktrhythmen anzufangen, weil es die bereits bei anderen Songs gab. Uns ist aufgefallen, dass sich hinter all dem, was wir auf unseren früheren Alben ausprobiert haben, doch gewisse Gewohnheiten eingeschlichen haben. Diese Dinge wollten wir bei jetzt anders machen. Es war das erste Mal, dass wir wirklich von Anfang an die Richtung beeinflusst haben, die die Songs nehmen sollten.

Könnte das Streben nach bislang noch nicht Ausprobiertem mal zu der Situation führen, dass etwa ein geradliniges Rockalbum das einzige ist, was es von euch noch nicht gab?

Uns war es von Anfang an wichtig, völlige künstlerische Freiheit zu haben und ausleben zu können. Wir machen das, was uns gefällt und womit wir unsere Ideen umsetzen können. Wir versuchen nicht krampfhaft, immer extremere Wege zu beschreiten, weil das einige Leute von uns vielleicht erwarten. Was andere über unsere Musik denken oder von uns erwarten, beeinflusst uns nicht. Mittlerweile könnten wir ein Album aufnehmen, das zum Beispiel nach PORTISHEAD klingt, und eine weitere EP im Stil von NAKED CITY, und die Leute würden das annehmen. Vor zehn Jahren hätten wir das noch nicht machen können. Ich persönlich hätte Lust, ein Album mit ruhigen Songs aufzunehmen, und sofort hinterher ein Album voller brutaler Nummern. So etwas könnte man vielleicht mit EPs umsetzen. Drei der verrücktesten Songs, die du jemals gehört hast, auf einer EP, drei der avantgardistischen Songs überhaupt auf einer zweiten, dann drei der kommerziellsten Nummern, wie gemacht fürs Radio.

Einige Musiker sind mittlerweile davon abgekommen, ganze Alben herauszubringen, sondern veröffentlichen einzelne Songs digital oder mehrere EPs kurz hintereinander. Würde das in eurem Fall nicht auch die Anstrengungen rund ums Aufnehmen verringern?

Wir haben in der Tat darüber nachgedacht. EPs und Singles erlauben es, sich auf eine einzelne momentane Stimmung zu konzentrieren, statt alles Mögliche auf einem Album abstimmen zu müssen. Den Fokus auf ein bestimmtes Thema finde ich sehr reizvoll. Gleichzeitig haben drei Songs aber auch deutlich weniger Gewicht. Man kann in zehn Minuten nicht so viel sagen wie auf einem ganzen Album. Das ist für mich letztlich der Grund, warum ich ganze Alben vorziehe, auch wenn sie vielleicht nicht mehr ganz zeitgemäß sind.

Ist dir gerade danach, wieder ein Interview nach dem anderen zu geben?

Um ehrlich zu sein, fühlt es sich etwas merkwürdig an. Man fragt sich irgendwann, ob man das alles wieder durchmachen will. Erst dauert es lange, ein neues Album zu schreiben. Dann dauern die Aufnahmen ewig, und schließlich ist man endlos unterwegs. Daraus ergibt sich ein besonderer Zyklus, der unser Leben bestimmt. Normale Menschen teilen ihr Leben in Jahre auf, sortieren die Ereignisse anhand von Geburtstagen oder Jahreswechseln. Ich dagegen unterteile mein Leben mittlerweile in Albumzyklen. In Bens und meinem Leben hat sich in den letzten drei Jahren einiges getan. Und dann sitzt du wieder hier, weißt, was sich in den zurückliegenden drei Jahren alles ereignet hat und denkst daran, wie es in drei Jahren wieder ganz anders sein wird. Was sich alles verändern wird, kann man nicht wissen. Nur, dass sich einiges während des nächsten Zyklus tun wird. Wir sind gerade am Anfang des neuen Zyklus. Irgendwie ist das ein Gedanke, der Ben und mich beide beschäftigt, und der mir auch etwas Angst macht.

Haben Konzerte als Konstante während dieser Zyklen dann etwas Beruhigendes an sich oder verhält es sich mit ihnen ähnlich wie mit euren Studioaufenthalten?

Ganz ehrlich, ich bekomme wirklich Panikattacken, wenn ich an die anstehenden Shows denke. Bislang sind es 140 für dieses Jahr, und es werden noch mehr hinzukommen. 140 Shows bedeuten für mich, dass ich 140-mal auf der Bühne mein Innerstes auskotzen und mich selbst fertigmachen muss. Dass ich 140-mal auf meine Stimme aufpassen muss, damit ich auch am nächsten Abend noch schreien und singen kann. Zudem ist bislang mein Privatleben mit jedem neuen Albumzyklus in sich zusammengestürzt. Ich frage mich also, wie ich es diesmal besser machen kann. Ich glaube, dass man sich darauf nicht wirklich vorbereiten kann, egal, wie oft man es gemacht hat. Und auch hier gilt, je älter man ist, desto schwieriger wird es. Solange man jung ist und noch keine wirklichen Wurzeln geschlagen hat, überwiegt die Euphorie, in einer Band zu sein und von Konzert zu Konzert reisen zu können. Wenn man älter wird, gehen die persönlichen Wurzeln abseits des Tourlebens langsam immer tiefer.

Wäre das irgendwann ein Grund für dich zu sagen, dass dein Leben bis dahin mit TDEP großartig war, es aber nun genug sei?

In dieser Situation waren wir als Band rund um „Option Paralysis“. Wir haben uns gefragt, ob TDEP etwas ist, mit dem wir unglaublich viel Spaß in unseren Zwanzigern hatten, uns nun aber einem normaleren und beständigeren Leben widmen sollten; oder ob wir uns voll und ganz auch weiterhin auf die Band einlassen wollen. Wir haben uns dazu entschlossen, letzteren Weg zu gehen. Jetzt gibt es kein Zurück mehr, nachdem ich mit dieser Band die letzten 13 Jahre meines Lebens zugebracht habe. Zumal Probleme und schwierige Situationen ein ganz normaler Teil des Lebens sind. Ich mache mir vielleicht Sorgen, die für andere Menschen nicht alltäglich sind, wenn ich an die nächsten Touren denke. Aber wir alle haben unsere eigenen Probleme und Herausforderungen. Ob Musiker oder Angestellter, das eint uns. Das ist das Leben.