In Ausgabe #64 war ich bereits ausführlich auf den musikalischen Background von David Sylvian und seiner alten Band JAPAN eingegangen, der ja leider nach wie vor im Punklager als einer dieser Achtziger-Jahre-Charts-Missgeburten mit Fönfrisur à la Simon Le Bon angesehen wird. Dabei hatten bereits die beiden finalen JAPAN-Alben „Gentlemen Take Polaroids“ und „Tin Drum“ nichts mehr mit banalem Synthie-Pop oder New Romantics-Geschmacksentgleisungen zu tun. Und spätestens mit seinen Soloalben Mitte der Achtziger emanzipierte sich deren Frontmann als seriöser Künstler, der mit Musikern wie Holger Czukay, Ryuichi Sakamoto oder Robert Fripp zusammenarbeitete.
Mitte der 90er wurde es durch seine Heirat mit der Künstlerin Ingrid Chavez ruhiger um Sylvian. Erst das Ende der Beziehung Anfang dieses Jahrhunderts und die Trennung von seinem langjährigen Label Virgin ließen Sylvian wieder aktiver werden. Und so gründete er im Zuge der Veröffentlichung seines Soloalbums „Blemish“ 2003 auch sein eigenes Label Samadhisound, auf dem in Folge liebevoll gestaltete Platten von Harold Budd, Derek Bailey, Sylvians Bruder Steve Jansen, dem ehemaligen JAPAN-Drummer, und auch sein eigenes Projekt NINE HORSES veröffentlicht wurden. Im September erschien Sylvians neues Album „Manafon“, sicherlich für Freunde der eher softeren, melodischeren Seite des charismatischen Sängers eine Enttäuschung, denn die neun Improvisationsstücke der Platte untermauern erneut, dass der Mann keinerlei Interesse hat, irgendwelche Erwartungshaltungen zu befriedigen, sondern ausschließlich seinen künstlerischen Visionen folgt. Ein sympathischer Überzeugungstäter, der in Bezug auf seine Musik keinen Spaß versteht, aber dennoch nicht den Typus des arroganten, abgehobenen Künstlers repräsentiert.
David, als ich dich vor drei Jahren anlässlich des NINE HORSES-Albums interviewt habe, hatten wir viel über JAPAN geredet, das wird diesmal also nicht nötig sein.
Gott sei Dank, haha.
Ist das inzwischen wirklich so schrecklich für dich?
Sagen wir es mal so, es ist keines meiner bevorzugten Gesprächsthemen.
Es fällt angesichts deines neuen Albums auch schwer, tatsächlich noch eine Verbindung zu deinen frühen Platten herzustellen. Ich dachte bisher, „Blemish“ von 2003 sei dein schwierigstes Album gewesen, aber „Manafon“ scheint das noch zu übertreffen.
Ja, die Reaktionen sind da sehr unterschiedlich, aber das habe ich in gewisser Weise erwartet. Manche Leute finden „Blemish“ allerdings immer noch schwerer zu verdauen und dafür „Manafon“ zugänglicher.
Ist „Manafon“ einfach nur ein zeitgemäßes künstlerisches Statement von dir oder gab es einen speziellen Katalysator für diese Art von Musik?
Jedes Projekt versucht ja in gewisser Weise die richtigen Mittel zu finden, um das umzusetzen, was man ausdrücken will. Man spürt ja, was sich da ankündigt, muss sich damit befassen und versuchen, die richtige Form dafür zu finden. Wichtig dabei ist, dass man aufrichtig ist, seiner Arbeit gerecht wird und keine Kompromisse eingeht. Dabei geht es ebenso darum zu experimentieren, wie der eigentlichen Absicht zu folgen. Das Ganze besitzt zwar eine Idealvorstellung, aber man muss erst herausfinden, was das ist. Und über einen bestimmten Zeitraum wird es immer klarer, wonach du eigentlich suchst. Ich hatte ja damals mit Derek Bailey, der 2005 verstarb, bereits in ähnlicher Form zusammengearbeitet und dieser Improvisationsprozess hatte gut funktioniert. Ich überlegte dann, wie man das ausbauen könnte, wenn man mit einer Gruppe anderer Musiker zusammenarbeitet. Wir gingen quasi mit leeren Händen ins Studio und versuchten Gold zu finden, das man aber erst erkennen würde, wenn man es wirklich gefunden hatte. Und die anderen sollten mir dabei helfen, es zu finden.
Könntest du vielleicht mal kurz skizzieren, wie die Stücke konkret entstanden sind? Haben da wirklich alle Musiker zusammen in einem Raum gespielt oder wurden die Teile erst hinterher zu einem Ganzen zusammengefügt?
Der größte Teil wurde live eingespielt. Bereits 2004 gab es eine erste Studiosession in Wien, an der unterschiedliche Musiker beteiligt waren, aber letztendlich reduzierten wir es auf ein Quartett, unter anderem mit Christian Fennesz und Keith Rowe. Ich hatte das Gefühl, dass es das war, wonach ich gesucht hatte Ich habe später dann noch das Piano von John Tilbury hinzugefügt und ein paar Overdubs von mir an der Gitarre. Andere Stücke ließ ich aber unangetastet. Ich habe grundsätzlich nie etwas in die Improvisationen hineingeschnitten, was vorher nicht da, ich ergänzte höchstens ein Intro oder eine Coda, also einen Schlussteil. Aber der Kern der Stücke ist so, wie er bei den Sessions in Tokio, London und Wien eingespielt wurde.
Also basiert das ganze Album komplett auf reiner Improvisation, mit Ausnahme deiner Texte.
Ganz genau, aber das hängt davon ab, wie man es betrachtet. Wenn ich bei den Improvisationen das gefunden hatte, was mir vorschwebte, bin ich damit ins Studio gegangen und habe die Texte dafür geschrieben, was teilweise zwölf Monate später passierte. Nach ein paar Stunden des Schreibens und Zuhörens nahm das Ganze meist Gestalt an und ich nahm es auf. Das war meine Form der Improvisation. Es war ein sehr kurzfristiger Prozess, der nicht viel Raum für Änderungen zuließ. Ausschlaggebend dabei war, die thematischen und melodischen Elemente zu finden, die ich in der Improvisation selbst hörte und diese zu erweitern.
Was ja durchaus vergleichbar mit einer von Musik unterlegten Spoken Word Performance wäre.
Es gibt Elemente dieser Art dabei, ja. Mir gefällt die Idee, einen Erzähler mitten auf einer Bühne sitzen zu haben, mit einem minimalistischen Bühnengeschehen. Es gibt dabei nur unmerkliche Veränderungen, etwa dass das gelbe Licht plötzlich rot wird. Dadurch entstehen Abstufungen im Kontrast zur Sprache. Und etwas Ähnliches passiert bei der Musik: die Stimme des Erzählers steht stark im Vordergrund, unterlegt von kleinen Veränderungen und einer akzentuierten Dramatik, da das Werk so minimalistisch und ruhig ist, und führt so zu einem nuancierten Vortrag.
Allerdings ist es nicht ganz einfach, darin noch konventionelle Songstrukturen wie etwa Melodien zu finden.
Da muss ich dir widersprechen, denn ich finde darin sehr viele melodische Elemente, die nicht so weit entfernt von Folk- oder Popmusik sind, wie etwa beim Titelstück. Andere Songs sind da schon fordernder, da die Melodien über einen größeren Zeitraum ausgedehnt wurden und dadurch komplexer sind, was mehr mit Klassik-Kompositionen gemein hat, aber das ist eigentlich die Ausnahme. Ich meine, ich liebe Melodien, aber man muss in diesem Kontext die richtige Anwendungsmöglichkeit dafür finden. In dem Sinne, dass es mir dieser minimalistische Zusammenhang erlaubte, viele musikalische Einflüsse aus meinem bisherigen Leben neu zu entdecken, die ich absorbiert habe. Das ist natürlich kein rationaler Prozess, sondern läuft sehr intuitiv ab. Und wenn ich es mir erneut anhöre, kann ich dadurch viele Referenzen entdecken, was wirklich faszinierend für mich ist. Ähnlich wie es mir diese Arbeitsweise erlaubt, Sprache auf sehr unterschiedliche Weise einzusetzen, auf sehr profane ebenso wie auf sehr poetische Art. Das wäre in herkömmlicher Popmusik wahrscheinlich fehl am Platze, gibt mir in diesem Kontext aber ein Gefühl von Freiheit.
Wäre es für dich also im Moment langweilig, ein weiteres, „normales“ Album in der Art von NINE HORSES aufzunehmen?
Weißt du, man muss ja nicht unbedingt in geradliniger Form arbeiten, was seine Entwicklung als Künstler angeht. Es war etwas, was ich tun wollte, und es erschien mir die beste Herangehensweise dafür zu sein. Ich kann genauso gut auf eher traditionelle Weise wie bei einem Projekt wie NINE HORSES arbeiten, nur weiß ich im Moment nicht, wohin mich meine Interessen als nächstes führen werden.
Die Frage dabei ist immer, ob dein bisheriges Publikum dir auf diesem Weg folgt.
Ich habe mich ja schon von vielen Sachen verabschiedet, die in den letzten 30 Jahren geschrieben habe und die ich zwangsläufig auch nicht mehr live spielen werde. Es gibt durchaus jede Menge Leute, die mir sagen, sie würden es begrüßen, wenn ich mehr experimentelle Sachen in meine Auftritte integrieren würde, anstatt auf das Material von „Secrets Of The Beehive“ oder „Brilliant Trees“ zurückzugreifen. Auch hier ist die Resonanz sehr gemischt, viele ziehen die experimentellen Sachen den eher konventionellen Sachen vor, dem charakteristischen David Sylvian-Stil. Es verändert sich ständig, denn auch ich werde älter. Es muss etwas Neues passieren, denn ich kann mich nicht ständig wiederholen und mit denselben Stilelementen arbeiten, das ist keine Herausforderung für mich. Und das Publikum würde dem ebenfalls überdrüssig werden.
Wäre es überhaupt möglich, ein Album wie „Manafon“ in kompletter Form live zu spielen?
Ich denke schon. Es würde sich natürlich vom Album unterscheiden, denn es ist schwierig, es live umzusetzen. Zumal die daran beteiligten Musiker entweder nur auf Basis von freier Improvisation arbeiten oder klassische Kompositionen nutzen, dazwischen gibt es nicht viel. Ich kann ja auch nicht alle Leute auf die Bühne bringen, die auf der Platte mitgewirkt haben, dadurch würde es viel zu viele unterschiedliche kompositorische Elemente geben. Es müsste sich deshalb um ein völlig anderes Line-up handeln.
In „Amplified Gesture“, dem kleinen Film, den du zu der Platte produziert hast, gibt es einige interessante Zitate. So sagt etwa Keith Rowe, es ginge ihm darum, Musik zu schaffen, die es in der bisherigen Geschichte noch nicht gegeben hat. Inwieweit ist das überhaupt noch möglich?
Damit bezog er sich natürlich vor allem auf die 60er Jahre. Ich denke schon, dass seine Band AMM damals für einige Innovationen verantwortlich war, die später zahlreiche Musiker beeinflusst haben. Und in den letzten zehn, fünfzehn Jahren gab es viele Musiker, die dort angeknüpft haben, wo AMM aufgehört haben und diese Form von Improvisation am Leben erhalten. Zumal wegen neuer technischer Entwicklungen auch ganz neue Elemente eingebracht werden konnten, die man zuvor noch nicht gehört hat.
War der Jazz in den Sechzigern also quasi die Musik, wo zuletzt noch etwas wirklich Neues passiert ist?
In dieser Zeit bestimmt. Was AMM damals im Sinn hatten, war ja nicht das Nacheifern ihrer Idole, also afroamerikanischen Jazzmusikern. Denn sie sagten sich: Was haben wir weißen britischen Jungs wirklich mit denen gemeinsam, wir müssen unsere eigene Identität finden. Und damit scheinen sie Erfolg gehabt zu haben. Keith sagt ja auch noch in dem Film, dass es für einen Gitarristen in den Sechzigern noch relativ einfach war, seinen eigenen Stil zu entwickeln, und es gab auch viele Musiker, denen das gelang. Heute ist das viel schwieriger, aber wenn du dich eher unkonventionellen Instrumenten zuwendest, kann man immer noch sehr innovativ sein.
Das andere Zitat stammt von Christian Fennesz, für den Musik eine instinktive, höfliche Konversation zwischen Musikern darstellt. Welche Bedeutung hatte das für „Manafon“?
Die eigentliche Konversation fand im Studio zwischen den Musikern statt, woran ich nicht in traditioneller Weise beteiligt war. Der gesamte Prozess lief sehr demokratisch ab. Was letztendlich nicht demokratisch war, dass sie mir am Ende des Tages diese Musik aushändigten und mich damit machen ließen, was ich wollte. Denn ab diesem Punkt dirigierte ich das Material in eine bestimmte Richtung. Ich glaube aber, dass alles, was ich in dieser Hinsicht getan habe, von der Improvisation angeregt wurde.
Und wo steht bei dieser Konversation der Zuhörer, spielt er zu diesem Zeitpunkt überhaupt eine Rolle?
Der Kern dieses Projekts ist die Konversation zwischen den Musikern, ansonsten würde es keinen Sinn machen, das ist ja kein maßloser Prozess. Aber da der Erzähler dabei so in den Vordergrund tritt, ergibt sich auch eine intime Beziehung zwischen ihm und dem Zuhörer, genauso bekommt man ein Gefühl für die Isolation des Erzählers. In jedem Kunstwerk von Bedeutung geht es um diesen Dialog, was aber nicht heißt, dass man dabei mit bestimmten Publikumserwartungen im Hinterkopf Kompromisse eingehen würde. Man muss hoffen, dass das Werk sein Publikum findet.
Seit 2003 bist du nicht nur alleine Musiker, sondern mit Samadhisound auch Labelbetreiber. Wie erfährst du persönlich die andauernde Krisenstimmung der Musikindustrie? Interessanterweise hast du dich ja schon sehr früh zu der DRM-freien Vermarktung von Musik bekannt.
An sich ist es kein Problem für uns, aber das kann sich natürlich schnell ändern. Wir haben eine sehr loyale Basis, die es nicht sonderlich schätzt, dass man alles umsonst herunterladen kann, denn irgendwann wird es niemanden mehr geben, der noch Sachen produziert. Momentan ist alles im Wandel begriffen und jeder hat tolle, neue Ideen, wie man weiterhin seinen Lebensunterhalt als Musiker bestreiten kann. Mal sehen, wie viele das durchhalten. Ich für meinen Teil produziere Musik, die ich wirklich spannend finde. Aber vielleicht ist es ja ein Relikt des 21. Jahrhunderts, ein Plattenlabel zu betreiben, das nicht mehr überlebensfähig ist. Ich meine, ich bin kein Geschäftsmann, das hatte ich für mich nicht vorhergesehen, aber so lange es machbar ist, will ich das Label am Leben erhalten. Weniger für mich als für die anderen Künstler, deren Werk eine Qualität besitzt, die ich mit dem Rest der Welt teilen möchte. Wenn wir dabei Geld verlieren würden, würde ich es wohl auch anders betrachten. Was die andere Perspektive betrifft, ich habe ja 25 Jahre für ein Majorlabel gearbeitet und dort nicht wirklich viel Geld verdient, haha. Ich verdiene mehr daran, meine Platten selbst zu veröffentlichen als über Virgin, trotz der ganzen Promotion und deren Vertriebsstrukturen im Hintergrund, was sich finanziell nicht wirklich ausgezahlt hat. Das Verschwinden der Majorlabels ist eigentlich nicht vorstellbar, aber das Problem, dass Leute nicht mehr dazu bereit sind, für die Musik zu bezahlen, die sie herunterladen, was ja auch Film oder Literatur betrifft, wird nicht einfach von selbst verschwinden und immer mehr Künstler weltweit betreffen.
Kann für dich ein mp3-Track überhaupt ein künstlerisches Werk angemessen repräsentieren?
Ich habe immer die visuelle Präsentation von Musik durch die Verpackung genossen und mir gefällt das immer noch sehr. Aber früher haben wir uns auch Sachen auf Audiokassette angehört, das war auch nicht besser als mp3. Viele Leute schauen sich Reproduktionen von Kunstwerken in Büchern oder auf dem Computermonitor an. Ist das vergleichbar damit, in einem Museum zu stehen und sich das echte Werk anzuschauen? Und dennoch gibt es viele Künstler, die eben keinen Zugriff auf das Original-Kunstwerk haben, aber durch schlechte Reproduktionen inspiriert werden, möglicherweise genauso wie andere Künstler, die darauf Zugriff haben.[/b]
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