CRO-MAGS

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Der letzte echte New Yorker

In der letzten Ausgabe stellten wir das turbulente Leben der lebenden NYHC-Legende Roger Miret vor. Mit Harley Flanagan stand uns im April ein weiterer Großmeister der New Yorker Hardcore-Szene Rede und Antwort. Der legendäre Frontmann der CRO-MAGS offenbart sich dabei als eloquenter, weltoffener und äußerst charismatischer Zeitgenosse. Wer mehr über die Corona-Zustände in seiner Heimatstadt, das neue Album „In The Beginning“, Träume über Lemmy von MOTÖRHEAD sowie die Toiletten im CBGB’s erfahren möchte, ist bei ihm an der richtigen Adresse.

Harley, schön dich in dieser turbulenten Zeit zu erreichen. Du bist eine der letzten NYHC-Legenden, die wirklich noch vor Ort leben. Wie sieht dein Tag unter Corona-Bedingungen derzeit aus?

Hier in NYC ist es viel, viel ruhiger als sonst. Auf der einen Seite ist das echt cool, vor allem weil deutlich weniger Verkehr ist. Aber es hat fast alles zu, so dass man nicht so viele Leute trifft, wenn man rausgeht. Wir haben das Glück, dass wir einen größeren Stadtpark hier um die Ecke haben, da kann man sich schnell mal die Beine vertreten. Ansonsten mache ich alles, was die ganze Welt derzeit macht: Die Zeit irgendwie rumkriegen. Bei mir ist das recht einfach, ich habe sowieso fast immer ein Instrument in der Hand. So wie jetzt, ich klimpere einfach mal auf dem Bass rum, spiele ein bisschen Drums oder versuche mich an neuen Killerriffs. Eben haben unser Drummer und ich noch ein bisschen via Skype gejammt.

Euer Bundesstaat sowie NYC sind ja heftig von der Corona-Pandemie betroffen. Ist jemand aus deinem Umfeld erkrankt, kennst du Leute, die Probleme dahingehend hatten?
Meine Schwiegermutter hatte COVID-19. Das Problem dabei ist, dass sie über siebzig ist. Aber sie hatte so gut wie keine Symptome und hat das echt problemlos überstanden. Laura, meine Frau, und ich waren natürlich in großer Sorge. Glücklicherweise ist das sehr glimpflich für sie und auch uns abgelaufen. Ansonsten gab es in der Nachbarschaft schon einige schlimme Bilder. Einige Leute, die ich seit Jahren kenne, sind abgeholt worden, weil es ihnen so schlecht ging. Wenn man sieht, wie alte Bekannte mit Beatmungsmasken in den Krankenwagen geschoben werden, ist das schon beängstigend.

Wie gehst du mit der Corona-Krise und solchen Bildern um?
Ja, das zu sehen braucht man nicht. Aber zum Glück waren das bislang Einzelfälle und bis auf die Schwiegermutter waren die Einschläge noch glücklicherweise entfernter. Ich selbst bin da etwas lockerer, denn ich habe in meinem Leben schon krassere Sachen durchgemacht. Letztens habe ich irgendwas gelesen, was absolut passte: „Wenn man die Toiletten vom CBGB’s benutzt hat, wird einem Corona nichts mehr anhaben können.“ Aber man ist nicht dagegen gefeit, dass es einen nicht doch erwischt. Zum Glück bin ich in meinem fortgeschrittenen Alter immer noch ganz fit.

Und das, obwohl du deinen Lieblingssport Jiu Jitsu momentan nur sporadisch ausüben kannst.
Ja, definitiv. Zur Zeit sind viel Ausdauertraining und einige Krafteinheiten für mich möglich. Kämpfe sind derzeit nicht drin. Mein Mentor Renzo Gracie zeigt uns via Skype oder YouTube einige Übungen, aber das ist nichts Halbes und nichts Ganzes. Wir sind alle Kämpfer und wollen uns miteinander messen. Unsere Dojo wird aktuell nicht benutzt, so dass Renzo es für einige Zeit der Stadt New York zur Verfügung gestellt hat. Es ist eine große Halle mit allen sanitären Einrichtungen. Bei der derzeitigen Situation war die Stadtverwaltung sehr dankbar dafür. Aber genau das macht doch die Philosophie von Kampfsportarten, trotz ihrer Härte, aus: Hilf dir und anderen. Jiu Jitsu war und ist eine große Kraftquelle für mich. Und natürlich ein immenser Fitnesspart in meinem Leben. Wie gesagt, zur Zeit nur unter Quarantänebedingungen.

Apropos Quarantäne: Wie viele Leute haben eigentlich eure „Quarantine“-Show gesehen und wie kam es dazu? War es nicht auch gespenstisch, ein komplettes Konzert ohne Publikum durchzuziehen?
Wir sollten eigentlich am 15. März in der Webster Hall zusammen mit BODY COUNT auftreten. Einen Tag vorher wurden alle Shows, darunter auch unsere, im Großraum New York abgesagt. Da meine Musikerkollegen bei CRO-MAGS zum Teil eine weite Anreise hatten, haben wir entschieden, dass wir eine spezielle Show ohne Publikum spielen wollen, die dann live ins Internet übertragen wird. Natürlich war das erst einmal eine komische Nummer, vor allem weil ich ja den Kontakt zum Publikum liebe. Ich halte mein Mikro den Leuten oft genug vor die Nase, damit sie unsere Songs mitsingen. Wenn du dir die Show ansiehst, wirst du einige lustige Kommentare von mir hören. Da ja keiner mitsingen konnte, habe ich die Leute animiert, an den richtigen Stellen Kommentare oder Emoticons zu posten. „Show me your emoticons“, das würde ich auf einer richtigen Show nie sagen, hahaha. Meiner Band habe ich auch vorher eingebläut, dass das eine richtige Show ist. Nur dass die Leute nun etwas weiter entfernt sitzen. Ich wollte nicht, dass jemand auf die Uhr schaut oder in der Nase bohrt, weil keiner guckt. Wir haben knapp 45 Minuten Vollgas gegeben und über 100.000 Menschen haben den Stream gesehen. Stell dir das vor! Das war die größte CRO-MAGS-Show aller Zeiten. Noch viel größer als das Dynamo Festival in Eindhoven, wo wir als WHITE DEVIL gespielt haben.

Bei der dieser Show standen mit „No one’s victim“ und „Don’t talk about it“ auch zwei brandneue Stücke auf der Setlist. Beide sind auch auf dem neuen Album „In The Beginning“ zu finden, wobei der erstgenannte bereits auf der „Don’t Give In“-7“ erschienen ist. Warum habt ihr einige Albumtracks vorab auf zwei Singles herausgebracht?
Frag doch mal die Plattenfirma, hahaha. Nein, das liegt daran, dass wir das Album eigentlich schon viel früher veröffentlichen wollten. Aber du kennst das ja: Es gibt Probleme hier, Schwierigkeiten da und Verzögerungen dort. Ruckzuck sind Monate vergangen und schließlich ist wieder ein Jahr rum. Dann kommt so ein beschissenes kleines Virus und stellt die ganze Welt auf den Kopf und schon wieder fehlt Zeit. Vor allem für die Leute da draußen, die auf neue Songs von uns warten. Und genau die wollten wir zufriedenstellen, indem wir einige Stücke des neuen Albums vorher veröffentlicht haben. Übrigens die gleiche Idee steckt hinter dem Gratissong „The final test“, den man sich runterladen konnte. Das war für die Fans. Im Vorfeld war eigentlich der Plan, dem Album nur eine Single voranzuschicken. Warum es zwei geworden sind, weiß ich eigentlich auch nicht mehr, wobei ich die beiden Singles sehr gelungen finde. Vor allem Sammler werden sich danach die Finger lecken.

Auf dem Album gibt es eine Reihe von Songs, die Fragen aufwerfen. Wie kam es zum Beispiel zur Zusammenarbeit mit Phil Campbell bei „From the grave“?
Weil mir Lemmy im Traum erschienen ist! Im Ernst, ich habe davon geträumt, mit ihm und Phil zusammen einen Song fürs neue Album aufzunehmen. Wir kennen uns ja schon lange und auf der „Overkill“-Tour habe ich MOTÖRHEAD hier in New York das erste Mal gesehen und die Jungs kennen gelernt. Ein paar Jahre später haben wir mit CRO-MAGS eine ganze Tour für sie als Supportband gespielt, das war Mitte der Achtziger Jahre. Es war großartig, mit einer derart krassen Band jeden Abend die Bühne zu teilen. Phil war und ist damals wie heute einer der ganz großen Gitarristen des Metal. Uns verbindet eine lange Freundschaft und seine Art zu spielen ist immer noch eine große Inspiration für mich. Ich wollte unbedingt, dass er auf „In The Beginning“ dabei ist und seine bluesigen Heavyriffs beisteuert. Er meinte nur: „Kein Problem“ und hat „From the grave“ einfach nur gekillt.

Der Song „Between wars“ sticht als Intrumentalstück auf dem neuen Album besonders heraus. Es handelt sich laut Informationen im Booklet zudem um die Titelmelodie eines gleichnamigen Films. Erzähl uns mehr.
„Between Wars“ behandelt in etwas anderer Form etwas, das wir gerade hier erleben: das Zurückkehren in ein normales Leben nach einem Breakdown. Der Film, den Tom Phillips gedreht hat, spricht das Thema posttraumatische Belastungsstörungen an und wie man mit ihnen umgeht. Harter Tobak auf jeden Fall und sehenswert. Vor allem da ich nicht nur Teile der Musik komponiert, sondern auch eine kleine Rolle gespielt habe. Harley goes Broadway. Nein, das ginge zu weit, aber es hat riesigen Spaß gemacht, mal vor der Kamera zu stehen. Der Film sollte eigentlich schon in den Kinos angelaufen sein, aber auch hier gab es wieder Probleme seitens des kleinen Corona-Bastards. Wir hoffen alle, dass es in nächster Zeit eine digitale Lösung gibt, da ja alle Kinos dicht sind.

Ein weiterer Song, der etwas anders auf „In The Beginning“ erscheint, ist „Two hours“. Rappst du da etwa?
Na ja, Rap würde ich das nicht nennen. Ich spreche beziehungsweise singe da einfach nur sehr schnell und wenn du wie ich dein ganzes Leben in einem urbanen Umfeld gelebt hast, vermischt man vieles einfach automatisch. Frühere HipHop-Sachen und älterer Hardcore haben mehr gemeinsam, als man denkt. Unterleg doch mal ein paar CRO-MAGS-Textzeilen mit dem richtigen Beat. Dann ist man schnell in ganz anderen Dimensionen. Ich finde generell, dass Rap, HipHop, R&B und auch Hardcore viele Elemente gemeinsam nutzen, nur unterschiedlich komponieren. Die Story hinter diesem Song ist aber viel interessanter. Meine Kinder und ich wollten nach dem Jiu Jitsu-Training noch eine Kleinigkeit essen. Während ich an der Bude bezahle, wird mein Sohn von einem echt üblen Typen angelabert. Er und seine zwei Kumpels waren schon ganz schön angesoffen und haben dann meinen Jungen angepöbelt. Natürlich bin ich sofort hin und habe mir auf dem Weg schon eine Strategie zurechtgelegt, wie ich die drei Kerle plattmache. Kurz bevor ich dem Ersten eine reinhauen will, macht es klick im Kopf: Was möchtest du in zwei Stunden tun? Möchtest du in einer schmierigen Polizeistation Rede und Antwort stehen für eine Schlägerei, womöglich mit Handschellen gefesselt? Oder willst du mit deinen Kids noch ’ne Runde quatschen, ein Eis essen und gemütlich fernsehen? Ich habe mich dann für letzteres entschieden und mich dem Typen gegenüber einfach nur klar ausgedrückt, dass er meinen Sohn in Ruhe lassen soll. Ich musste mich dafür zwar noch beschimpfen lassen, aber das war egal. Seitdem ist dies mein „Zwei-Stunden-Mantra“, das ich meinen Jiu-Jitsu-Schülerinnen und -Schülern beibringe. Genau diese Dinge, die mir damals in Sekundenbruchteilen durch den Kopf gingen, habe ich in diesem Song verarbeitet. Früher hätte ich das nicht gemacht, sondern wäre sofort an die Decke gegangen. Wie du siehst, können Menschen sich doch ändern.