AKNE KID JOE

Foto© by Kay Özdemir

Höher, schneller, Burnout

Bekannt geworden sind AKNE KID JOE als die Band mit dem Antifa-Tarifvertrag. Ironische Texte, witzige Posts in sozialen Netzwerken und skurrile Videoclips sind das Markenzeichen der Band aus Nürnberg. Vor acht Jahren haben sie sich in der Kneipe Arsch & Friedrich kennen gelernt und seitdem geht es steil bergauf. Spielten sie anfangs in autonomen Jugendzentren und besetzten Häusern, sind es inzwischen auch Clubs und große Festivals. Jetzt haben AKNE KID JOE ihr viertes Album raus, auf dem sie sich selbst und ihre Entwicklung reflektieren. „4 von 5“ erzählt vor allem auch von den Schattenseiten des Erfolgs. Warum nicht alles Gold ist, was glänzt, erzählen uns Sarah, Matti und Peter.

Vor knapp drei Jahren wart ihr mit eurem letzten Album „Die Jungs von AKJ“ auf dem Cover des Ox. Was ist seitdem passiert?

Matti: Das Album kam im August 2021 heraus und wir konnten Ende des Jahres einen Teil unserer Tour spielen, bis dann wieder ein halbes Jahr lang Lockdown war. Erst ab März 2022 ging es wieder los. Danach ist eigentlich viel zu viel passiert, weil wir zwischen März und September über fünfzig Shows gespielt haben und alle voll auf dem Zahnfleisch gegangen sind. Also die Zeit, in der wir keine Konzerte spielen konnten und zwei Alben veröffentlicht haben, wurde schnell abgelöst von einer Zeit, in der wir uns vierteilen mussten, um auf jeder Hochzeit zu tanzen.
Sarah: Wir haben zwei Touren gleichzeitig gespielt: Die Tour zum ersten Corona-Album und die Tour zum zweiten Corona-Album. Das waren alles Konzerte, die mehrfach ausgefallen sind und verschoben wurden. Aber die Songs, die wir gespielt haben, waren fast ausschließlich vom ersten Album, haha. Teilweise haben wir Konzerte gespielt, bei denen die Tickets schon zweieinhalb Jahre im Umlauf waren. Keiner hat mehr durchgeblickt, ob das ein Nachholkonzert oder eine neu angesetzte Show war. Vom Gefühl her haben wir alles gespielt, was ging. Auch da war nicht klar, wie es eigentlich weitergeht. Ist es jetzt vorbei oder geht es im Herbst wieder los mit dem Lockdown? Deswegen galt die Ansage: Ab März alles spielen, was möglich ist.

Das hört sich an wie eine Cola-Flasche, in die man ein Mentos-Bonbon steckt. Erst geht nichts, dann kommt alles auf einmal.
Matti: Krass war in dieser Zeit, dass null Planungssicherheit bestand. Die Konzerte konnten zwar stattfinden, aber wir haben uns jedes Mal getestet, bevor es losging, und früh diskutiert, ob man einen leichten Strich im Display sieht oder nicht. Dann sind wir schnell noch zum Bahnhof geflitzt und haben für 100 Euro einen PCR-Express-Test gemacht. Dann haben wir zwei Stunden gewartet und sind dann losgefahren. Es war auch ganz oft so, dass wir mit anderen Bands zusammengespielt hätten. Zum Beispiel unser Fünf-Jahre-Jubiläumskonzert in Berlin mit OIDORNO und DEAD END KIDS. Vor der Abfahrt war ich noch im Wald Gassi gehen und dann ruft mich Norman von OIDORNO an und sagt, der Sänger Tobi ist positiv. Was machen wir jetzt? Dann haben die sich spontan ein paar Leute gesucht, die sich die Texte draufgeschafft haben. Sarah hat einen Song übernommen, ich habe einen Song gesungen. Und so haben die das ganze Konzert ohne Sänger gespielt. Es war ganz oft so, dass die Show voll war, aber Planungssicherheit, ob es auch tatsächlich stattfindet, gab es eigentlich nie. Wir mussten auch wegen Corona-Fällen immer wieder Konzerte absagen.
Sarah: Es war auch die Zeit, in der die Kartenvorverkäufe komplett eingebrochen sind. Es gab damals viele Bands, die komplette Touren abgesagt haben. Weil die Leute noch ganz viele Tickets für verschobene Shows zu Hause hatten, weil keiner mehr Kohle hatte oder weil die Leute unsicher waren, ob das Konzert überhaupt stattfindet. Das war dann auch so ein Unsicherheitsfaktor. Man wusste erst, wenn man auf der Bühne stand, dass das Konzert wirklich stattfindet. Das war ein ganz komisches Gefühl. Es kann sein, dass wir an einem Wochenende in Berlin, Hamburg und Köln spielen, es kann aber auch sein, dass wir zu Hause sitzen und nichts zu tun haben. Eine wirklich weirde Zeit.
Matti: Es kam eine automatische Mail vom Ticketanbieter an Leute, die sich vor zweieinhalb Jahren ein Ticket gekauft hatten, dass die Show jetzt tatsächlich stattfindet. Außerdem gab es den Begriff der No-Show-Rate, den habe ich damals neu gelernt. Das bedeutet, dass Leute, die sich vor Ewigkeiten ein Ticket gekauft haben, doch nicht gekommen sind. Du konntest eigentlich nie damit rechnen, ob der Laden voll ist, selbst wenn der Vorverkauf gut gelaufen ist. Es konnte auch sein, dass ein Drittel der Leute überhaupt nicht auftaucht.

2023 hat sich alles wieder normalisiert. Im Oktober habt ihr dann eine mehrmonatige Konzertpause eingelegt. Auch was Social Media betrifft, habt ihr euch ziemlich rar gemacht. Das ist ungewöhnlich für euch. Warum war das so?
Matti: Der Umgang mit den sozialen Medien hängt uns momentan ein bisschen zum Hals raus. Das war eine Weile witzig, aber wir haben uns eben angewöhnt, nur noch etwas zu erzählen, wenn es wirklich etwas zu erzählen gibt. In dieser Zeit gab es einfach nichts zu erzählen. Mit aller Kraft einem Algorithmus hinterherzuhecheln und ständig irgendwelche Videos zu machen, war uns auf Dauer zu anstrengend. Diese Entwicklung sind wir nicht mehr mitgegangen.
Sarah: Wir haben 2023 nicht so viel gespielt wie im Jahr zuvor, aber wir waren zum Beispiel mit den DONOTS auf Tour und im Sommer bei einigen Festivals. Es war ein bewusster Plan, bis Oktober zu spielen und dann Pause zu machen. Wir haben uns entschieden, ein halbes Jahr Abstand von der Band zu nehmen, soziale Medien inklusive, um uns zu besinnen und irgendwann das neue Album anzugehen.
Matti: Aufgenommen haben wir das Album Anfang 2023. Nach dem Ende der Aufnahmen haben wir aber beschlossen, dass wir dem Ganzen noch ein bisschen Zeit geben und im Herbst noch mal drüber gehen.
Peter: In der Pause ist wenig bei AKNE KID JOE passiert. Wir hatten auch mal Zeit, uns mit Leuten zu treffen, die wir in den letzten zwei Jahren nicht sehen konnten, weil wir so viel unterwegs waren. Es war gut, dass in diesen Monaten die Band so weit weg war.
Matti: Ich hatte Leute, die ich wirklich mag und lange regelmäßig getroffen habe, vier Jahre lang nicht mehr gesehen. Erst war die Pandemie, da haben wir uns aus den Augen verloren, und als es wieder losging, waren wir jedes Wochenende unterwegs. Die psychische Belastbarkeitsgrenze war auf jeden Fall überschritten. An diesem Punkt haben wir uns entschlossen, einen Gang zurückzuschalten und mit der Band erst wieder weiterzumachen, wenn die Akkus wieder voller sind.

Es gab in den letzten Jahren immer Interesse an AKNE KID JOE. Wie habt ihr das alles mit eurem Berufsleben und euren Familien unter einen Hut gebracht?
Peter: Als wir angefangen haben, kam eine Anfrage aus irgendeinem Jugendzentrum für die Folgewoche und wir haben natürlich spontan zugesagt. Jetzt bedarf es sehr viel Planung für die Konzerte. Aber da sind wir ganz gut aufgestellt, deshalb funktioniert das auch. Natürlich braucht man auch den passenden Job dazu. Wir sind aber alle dementsprechend flexibel.
Matti: Sarah und ich arbeiten Teilzeit im Z-Bau, einem Kulturzentrum in Nürnberg. Peter ist als Tätowierer selbstständig und kann sich das gut einteilen. René, der bis jetzt mitgespielt hat, hat studiert. Jetzt ist er allerdings mit seinem Studium fertig und hat vor zu arbeiten. Deshalb ist ihm die Band zu viel geworden. Unser neuer Schlagzeuger Sebastian arbeitet auch Teilzeit und kann das ganz gut mit seinem Job vereinbaren. Also Vollzeit zu arbeiten, eine Familie zu haben und viel mit einer Band unterwegs zu sein, ist sehr schwer.
Sarah: Ich habe deswegen meinen Job in einem Jugendzentrum gekündigt und einen neuen Job mit weniger Stunden angefangen. Es ging einfach nicht mehr. Außerdem ist zu viel Lohnarbeit sowieso nicht gesund. Jeder sollte weniger arbeiten, finde ich. Das ist einfach der Kompromiss, den man eingeht. Es gibt auch viele Leute, die in Bands sind und nur samstags spielen können, weil sie freitags lang arbeiten müssen. Da sind wir schon in einer guten Position. Auch weil uns allen die Band gleichermaßen wichtig ist. Jeder versucht, sein Privatleben und sein Arbeitsleben mit der Band zu vereinbaren. Da gehören auch die Partner:innen dazu, die alle Dinge organisieren in der Zeit, in der man nicht da ist. Deshalb muss man sich überlegen, wie man das alles zurückgeben kann, in der Zeit, in der man da ist. Dafür sind die Pausen, die wir einlegen, immer extrem wichtig. Um einen gewissen Ausgleich im Privatleben zu schaffen. Dass man nicht sagt: Ich bin jedes Wochenende weg und du machst den Rest.
Matti: Als wir alles noch selbst organisiert haben, lief es viel spontaner ab. Egal, welche Anfrage kam, wir sind einfach hingefahren. Dann sind wir mit dem Wohnmobil nach Rostock gedüst und mit 300 Euro Minus zurückgekommen. Hauptsache, es war cool. Inzwischen läuft alles mit mehr Vorplanung. Sjard, der das Booking bei Audiolith für uns macht, schickt uns die Termine weit im Voraus. Damit ist das sehr gut planbar für uns. Wir können uns vorher Zeiten festlegen, die wir für Urlaub oder Familie blocken wollen. 2022 haben wir zum Beispiel zwei Monate lang jedes Wochenende gespielt. Das war einfach zu viel auf Dauer. Deshalb haben wir beschlossen, dass wir maximal drei Wochenenden im Monat Konzerte spielen wollen. Dann muss auch eins frei sein. Wir haben es so justiert, wie es für uns gesund ist, aber es bleibt ein stetiger Prozess zu schauen, wie die Kapazitäten gerade sind. Momentan fühlt es sich gut an. Ich habe auch nicht mehr diese krasse FOMO. Diese Angst, etwas zu verpassen, nur weil wir irgendwo nicht spielen. Jetzt kann ich trotzdem ruhig schlafen.
Sarah: Außerdem ist ein lustiger Nebeneffekt, dass man weiß, was man im April 2025 machen wird: „An diesem Wochenende kann ich nicht, weil ich mit AKJ unterwegs bin.“ Das ist schon witzig, wenn man mit seinen Freunden den Terminkalender vergleicht. Die planen maximal zwei Monate im Voraus und ich ein ganzes Jahr.
Peter: Es ist auch krass, wenn man am Sonntag mit der Familie beim Essen sitzt und deine Schwester plötzlich sagt: Ich heirate. Das Erste, was in meinem Kopf dann vorgeht ist: Fuck, hoffentlich haben wir da kein Konzert. Weil das alles schon so weit im Voraus geplant ist.

Ihr habt es eben erwähnt, es gab einen Besetzungswechsel bei AKNE KID JOE. René ist ausgestiegen, mit Sebastian habt ihr einen neuen Schlagzeuger. Inzwischen den vierten. Wie kam es dazu?
Sarah: René hat uns Anfang des Jahres Bescheid gesagt, dass er aussteigen will. Weil sich bei ihm privat einiges verändert hat und der zeitintensive Bandalltag nicht mehr in sein Leben passt. Wir hatten aber sehr viel Vorlauf, einen Nachfolger zu finden. Das Album war gerade fertig und die Proben für die neuen Songs standen jetzt erst an. Das lief also alles ohne böses Blut ab.
Matti: Er hat uns auch angeboten, dass er so lange mitspielt, bis wir einen Ersatz haben. Dass wir so schnell einen Nachfolger gefunden haben, war großes Glück. Peter kannte Sebastian vom Tätowieren. Sebastian hatte ihm erzählt, dass er Schlagzeug spielt. Dann haben wir ihn gleich gefragt und er hat sofort zugesagt. Dann kam heraus, dass er in der gleichen Straße wohnt wie ich. Wir haben uns abends in der Kneipe getroffen und es hat von Anfang an gut gematcht. Er war sehr fleißig und hat sofort alle Songs gelernt. Das ist alles. Ich bin mir sicher, das wird gut. Die letzten zwei Jahre mit René waren aber auch sehr cool. Das Hauptproblem war, jemanden zu finden, der sagt: Kein Problem für mich, dieses Jahr dreißig Konzerte zu spielen, die alle schon fix sind. Sebastian hat einfach bei jedem Termin Zeit und ist unglaublich flexibel. Wir können alle Konzerte spielen, das ist ein toller Glücksgriff.

Die Pause bei euch ist vorbei, euer neues Album „4 von 5“ kommt. Wofür steht der Titel? Das klingt fast wie eine Prophezeiung. Vor allem, weil es auch einen Song gibt, der heißt „Lass die Band auflösen, aber vorher noch ein Weihnachtsalbum rausbringen“. Ist das Ende von AKNE KID JOE mit diesem Album schon eingeläutet?
Matti: Was soll ich sagen, wir müssen die Leute da im Unklaren lassen. Es wäre schon ein genialer Move, das genauso zu machen. Das ist das vorletzte Album, dann kommt ein Weihnachtsalbum und dann ist es vorbei, haha.

Es gab ja schon diverse Bands, die angekündigt haben, ein geniales Album aufzunehmen und sich dann aufzulösen. Die meisten davon gibt es immer noch.
Sarah: Unser geniales Album war unser erstes Album. Danach ging es nur noch bergab, haha.
Matti: Ich wage es nicht, mit einer gewissen Prognose aufzuräumen oder sie zu bestätigen. Schauen wir einfach, was passiert. Vielleicht kommt ein Weihnachtsalbum und dann kommt ein weiteres Album, das dann „6 von 5“ heißt? Oder „8 von 10“? Vielleicht geht es auch einfach nur um die Bewertung mit Sternen?

Der erste Song auf dem Album heißt „Self-titled“, da habt ihr einen spöttischen Blick auf euch selbst gerichtet und erzählt von eurem Erfolgskonzept. Haben die letzten Jahre den Impuls für den Song gegeben?
Matti: Wir haben schon oft selbstironische Songs herausgebracht. Natürlich war die Bandgründung kein Businessplan, bei dem wir die einzelnen Zutaten für eine erfolgreiche Punkband abgehakt haben. Songs gegen Nazis machen und vielleicht eine Frau in der Band haben. Das ist alles ganz zufällig passiert bei uns, aber wir fanden es im Nachhinein witzig, dass alles so als Geschichte zu erzählen. Dass es alles mit Kalkül genauso war. Wie so eine Startup-Gründung. Welche Gewürze braucht man, damit das Ganze am Ende gut schmeckt?
Sarah: Nachdem wir schon sieben Jahre Teil der Punk-Szene und des Musikbusiness sind, sind wir natürlich schon ernüchtert. Wir haben genau dieses Erfolgsrezept bei der einen oder anderen Band schon so gesehen. Es ist nicht so, als würde es das nicht geben, dass mit Kalkül Bands gegründet werden. Dann wird noch eine Frau gesucht, weil man heute keine Band mehr ohne Frau starten kann. Dann kommen auch die großen Festivals, wenn eine Frau dabei ist. Ohne Namen zu nennen, aber es ist kein Geheimnis, dass es so etwas gibt.
Matti: Es gibt auch genügend Bands, die politische Songs machen, weil solche Parolen super ankommen. Es gibt viele Bands, die auf mich sehr unauthentisch wirken, die wissen, was sie ihrem Publikum erzählen müssen, damit sie Applaus erhalten. Da wird schon oft das Wasser ans Meer getragen.
Sarah: Oder wenn Bands Songs zu Terminen herausbringen, an denen es weltpolitisch gut passt: Jetzt startet die Fußball-WM in Katar, da veröffentlichen wir zum ersten Spiel der deutschen Mannschaft noch einen Song gegen das Gastgeberland. Da steckt für mich schon eine gehörige Prise Kalkül dahinter. Deshalb fanden wir es lustig zu sagen: Bei uns ist auch alles Kalkül.

Auf der anderen Seite ist es doch schön, dass Bands bei Festivals eher gebucht werden, wenn eine Frau dabei ist. Dann haben die Forderungen nach mehr Frauen auf der Bühne doch etwas erreicht. Dazu habt ihr auch beigetragen, oder?
Sarah: Ich habe auf jeden Fall den Eindruck, dass es so ist. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal an einem Festivaltag mit mehreren Bands die einzige Frau auf der Bühne war. Das war am Anfang von AKJ noch Standard. Das heißt, da hat sich wirklich innerhalb der letzten sieben Jahre extrem viel getan. Ich glaube aber trotzdem auch, dass es so ein Bubble-Ding ist und dass es auch innerhalb von Punk Szenen gibt, wo es noch gar nicht so ist. Man kann auf jeden Fall sagen, dass das ganze Thema schon viel mainstreamiger geworden ist. Ganz viele haben erkannt, dass es nicht nur darum geht, Frauen sichtbarer zu machen, sondern dass es vielleicht auch einen wirtschaftlichen Vorteil bringt. Da kann man sich wieder überlegen: Wie cool ist das? Da geht es um Feminismus als Marke, aber das ist wieder eine andere Diskussion. Es steht auf jeden Fall fest, dass es inzwischen sehr viel mehr Bands gibt, in denen Frauen mitspielen. Ich finde das überhaupt nicht mehr exotisch. Dazu haben viele Leute beigetragen, indem sie beim Booking darauf geachtet oder bei Vorbands nicht nur Typen ausgesucht haben. Da ist auf jeden Fall schon viel Arbeit geleistet worden, die sich ausgezahlt hat. Es darf gerne so weitergehen.
Matti: Der Songtext sollte auch nicht zynisch klingen. Es ist cool, wenn die Leute darauf schauen, dass sie nicht nur mit ihren Kumpels eine Band gründen. Gegen das Prinzip ist gar nichts einzuwenden. Das Ox hat sich ja auch weiterentwickelt. Wie viele Bands mit diverserem Line-up habt ihr inzwischen im Heft? Das sah vor ein paar Jahren auch noch anders aus.

Das erinnert mich an diese einstige Diskussion um die Deutschquote im Radio. Zu diesem Zeitpunkt wurden fast nur englischsprachige Songs gespielt. Und jetzt gibt es eine große Landschaft an deutschsprachigen Bands, die erfolgreich sind.
Sarah: Solche Entwicklungen brauchen Zeit. Ich würde nicht sagen, dass so etwas von ganz allein kommt. Extrem viele Leute haben jahrelang dafür gekämpft. Die wurden am Anfang noch belächelt und nicht gehört. Es gibt also sehr aktive Menschen in der Szene, die einen großen Anteil daran haben, dass es jetzt so ist. Das ist auf jeden Fall eine gute Entwicklung.

Im letzten Sommer habt ihr auf großen Festivals wie Southside oder Hurricane gespielt. Sind solche Auftritte inzwischen Routine?
Matti: Dieses Wochenende mit Southside und Hurricane war eine geile Erfahrung für uns. Wir haben uns einen Bus mit Freunden und Freundinnen vollgeladen. Denen haben wir dann Jobs wie Stagehand oder Gitarrentechniker gegeben. Im Endeffekt sind wir zwei Tage durch die Gegend gefahren und haben mit QUEENS OF THE STONE AGE irgendwo gespielt. Das war absurd und für mich eine völlig fremde Welt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich in dieser Welt jemals so ankomme, dass es für mich Routine wird. Ich glaube, da sind wir auch die falsche Band. Aber es ist cool, da mal reinzuschnuppern. Für mich war es eines der besten Wochenenden, die wir bis jetzt mit der Band hatten. Das habe ich aber auch erst im Nachhinein registriert. Währenddessen war ich schon sehr angespannt und habe mich gefragt: Was geht da ab? Bei der Tour mit den DONOTS dachte ich am Anfang: Passen wir da überhaupt rein? Ist das ein gutes Match? Aber es war dann übelst cool. Die haben uns von der ersten Sekunde an das Gefühl gegeben, dass wir herzlich willkommen sind. Wir hatten im Jahr zuvor schon beim Grand Münster Slam gespielt. Die haben uns mit offenen Armen empfangen und waren supernett. Wir haben mit denen schon am Nachmittag im Backstage Bier getrunken. Mit Ingo und Guido sind wir immer noch im wöchentlichen Austausch. Die Zweifel, ob wir in so einem Setting überhaupt stattfinden können, wurden uns sofort genommen. Das war beim Publikum genauso. Wir haben jeden Abend vor mehreren tausend Leuten gespielt und die Resonanz war super. Das hat mich krass überrascht.
Sarah: Ich fand es vor allem wegen der Leute bemerkenswert, die zu DONOTS gekommen sind. Die DONOTS haben extrem nette Fans. Als wir mit TERRORGRUPPE unterwegs waren, war das ganz anders. Das hat auch voll Spaß gemacht, aber man hat schon gemerkt, da stehen die Punks, die wegen TERRORGRUPPE da sind und sich einen Scheiß für uns interessieren. Die freuen sich, wenn du endlich von der Bühne gehst und ihre Band beginnt. Die DONOTS spielen einfach vor 4.000 Leuten und selbst wenn bei uns nur 2.000 Leute voll mitgehen, sind das die größten Shows, die wir bisher gespielt haben, abgesehen von Festivals natürlich. Ich liebe die Mischung aus kleinen Clubs und größeren Hallen. Letztes Jahr haben wir auch im Coney Island in Leipzig gespielt und da hatte ich voll Bock drauf. Es war voll geil, auch wieder in so einem Laden zu spielen und nicht nur in irgendeiner Basketball-Halle in Hamburg. Das ist vom Flair her ein kompletter Unterschied, aber ich kann beidem etwas abgewinnen.
Matti: Die Show von DONOTS ist natürlich wahnsinnig ausgecheckt. Die spielen zweieinhalb Stunden und lassen sich für jeden Abend etwas Neues einfallen. Erst gibt es einen Zauberer, dann wird jemand im Moshpit tätowiert, dann Stagediving mit einem Sofa oder SPORTFREUNDE STILLER tauchen plötzlich auf. Die Ansagen sind auch immer individuell. Die machen das extrem gut. Wir sind im Vergleich dazu keine Rockstar-Entertainer. Deshalb finde ich auch, dass ein Konzert von uns in einem 200er-Laden cooler ist als in einer großen Halle. Wir sind schließlich nicht die DONOTS. Wir waren aber alle positiv überrascht und denken noch selig an diese Tour zurück. Das ist nicht selbstverständlich. Ich glaube, es gibt genug Support-Touren, bei denen dich die Hauptband nicht mit dem Arsch anschaut.

Bei der Tour zum neuen Album gibt es Tickets in drei Preiskategorien. Warum macht ihr das?
Sarah: Der Hintergrund ist, dass durch die Inflation und die Preisspirale in den letzten zwei Jahren auch die Konzerttickets so krass teuer geworden sind. Wir sehen das, weil Matti und ich im Z-Bau arbeiten, einem großen Kulturzentrum in Nürnberg. Ich verstehe nicht, wie man selbst für kleine Bands inzwischen 25 Euro verlangen kann. Das kann sich doch kein Mensch mehr leisten. Und die Clubs können sich diese Shows nicht mehr leisten, weil nur noch zwanzig Leute kommen. Das heißt, diese Preisspirale gilt für alle Seiten. Für die Clubs, für die Bands und fürs Publikum. Aber es kann nicht der Weg sein, dass alles immer teurer wird. Und dadurch alle ausgeschlossen werden, die sich das nicht mehr leisten können. Deshalb war es uns wichtig, einen Weg zu finden, diesem Problem konstruktiv zu begegnen. Bei uns gibt es drei Preiskategorien, in die sich unsere Gäste selbst einteilen können: im Vorverkauf bekommt man Tickets für 18, 23 und 26 Euro. Der Normalpreis ist 23 Euro. Damit sind nach unserer Kalkulation alle Kosten von Band, Venue und Agentur gedeckt. Wer sich ein Ticket für 26 Euro kauft, übernimmt freiwillig einen Teil vom 18-Euro-Ticket. So lautet der Plan und wir wollen einfach ausprobieren, ob er aufgeht. Uns war es einfach wichtig, weil wir große Angst davor, dass wir eine Tour spielen und es nur wenige Leute kommen, weil viele es sich einfach nicht leisten können. Also nicht, weil uns keiner mehr leiden kann oder sehen will, sondern tatsächlich, weil es der Geldbeutel einfach nicht mehr hergibt.

Mein Lieblingssong auf der neuen Scheibe ist „50/50“, dabei handelt es sich auch um die erste Single. Der Song hat eine tolle Hook. Worum geht’s in dem Text? Dass man im Leben immer die Qual der Wahl hat?
Matti: Ich finde, es gibt immer so eine Lose-Lose-Situation, haha. Der Song ist sehr spontan entstanden. Einen Tag vor dem Studio saß ich in meinem Wohnzimmer und habe den schnell aufgeschrieben. Es ist wenig Text, aber es geht darum, dass man immer die Qual der Wahl hat und eigentlich nichts davon richtig geil ist. Ich bin ein zynischer Typ, es gehört zu meinem Wesen, dass ich vieles beschissen finde und mich über vieles aufrege. Dass ich so ein Nihilist bin. Dieser Attitude entspricht dieser Song ganz gut.

Das klingt nach Murphy’s Law: Das Butterbrot fällt immer auf die beschmierte Seite. Ich habe den Eindruck, dass ihr auf dem neuen Album intensive Nabelschau betreibt. Sonst habt ihr eher auf die Menschen um euch herum oder auf Politik und Gesellschaft geschaut. Ist das so?
Matti: Die Texte sind in einer Zeit entstanden, in der es mir nicht so gut ging. Es gibt auch Bands, die machen zehn Alben und es geht immer gegen Nazis. Das hätten wir auch machen können, aber vielleicht haben wir das schon herübergebracht, wie unsere Meinung diesbezüglich ist. Deshalb sind die politischen Ansätze auf diesem Album auch ein bisschen subtiler, würde ich sagen. Aber es gibt natürlich auch politische Songs auf dem Album, neben den ganzen persönlichen Songs. Hauptsächlich haben die Texte mit der Zeit zu tun, in der ich mich mehr mit mir befasst habe. Dein Eindruck stimmt also.

Zum Beispiel im Song „Legende am Glas“. Da geht es vor allem um dein Trinkverhalten, oder?
Matti: Es ist eine Mischung aus Milieustudie, Sauf-Verherrlichung und Leben am seelischen Abgrund. Es geht um eine Person, die deutliche Parallelen zu mir hat, gerade einen Blues schiebt, in die Kneipe geht, sich vier Gin Tonics reinhaut und dann ist auf einmal alles geil. Aber am Ende des Tages ist er eigentlich eine arme Sau. Das ist eigentlich der Sinn dieses Songs. Ich war selbst immer wieder in solchen Phasen, in denen ich drei oder vier Tage lang nicht aus dem Bett gekommen bin, weil es mir voll beschissen ging. Aber wenn ich am Wochenende total besoffen war, dann war es auf einmal richtig geil. Das ist ein wenig nachhaltiger Gemütszustand. Und der Song ist der Versuch, diesen Zustand zu beschreiben.
Sarah: Ich finde diesen Song so cool, weil viele Leute aus ihrem Umfeld auch so eine Person kennen. Gerade seit Corona kenne ich sehr viele Leute, denen es psychisch einfach nicht gut geht. Je älter wir werden, desto schlimmer wird es, weil die Belastungen zunehmen. Der Song beschreibt eine Momentaufnahme, wie solche Leute trotzdem funktionieren und eine gute Zeit haben können. Obwohl sie am nächsten Tag wieder eine arme Sau sind. Das ist sehr relatable. Mir fallen inklusive mir mehrere Personen ein, die man darin sehen könnte.

Sehr persönlich wird es im Song „Wer hat die Telefonnummer von Bobby McFerrin?“ Da geht es um eure psychischen Probleme und um das Ringen um Hilfe. Wie schlimm war oder ist die Situation?
Sarah: Matti und ich saßen da eigentlich im selben Boot, wir haben beide diesen Prozess hinter uns. Erst war ich depressiv, habe es nicht mehr geschafft und Matti hat versucht, mir Hilfe zu beschaffen. Dann war es umgekehrt. Jede Person, die an diesen Punkt kommt, an dem sie nicht mehr kann und Unterstützung braucht, würde es nicht mal schaffen, wenn sie gesund ist. Wie soll es jemand schaffen, der so depressiv ist, dass er nicht mal aus dem Bett kommt, bei zig Ärzt:innen anzurufen und dann überall nur Absagen zu bekommen? Ich weiß noch, wie krass das war und dass ich mich wie der letzte Idiot gefühlt habe, weil ich das nicht hinbekommen habe. Ohne bestimmte Leute in meinem Umfeld hätte ich das nie geschafft. Unser Gesundheitssystem ist das Allerletzte. Als es mir ein bisschen besser ging, hatte Matti seinen Absturz und ich habe stundenlang für ihn telefoniert. Überall kam die Ansage: Sorry, ich setze Sie auf die Warteliste, wir rufen in neun Monaten zurück. Aber in neun Monaten ist unklar, ob es die Person überhaupt noch gibt. Jeder, der das durchgemacht hat, kann von ähnlichen Erlebnissen berichten. Deshalb verstehe ich nicht, warum das immer noch so ist. Das ist allgemein als Problem bekannt. Eigentlich müsste in jeder Hausarztpraxis eine Art Sozialbegleiterin arbeiten, die dich an die Hand nimmt, wenn du deine Diagnose bekommst. Die mit dir einen Therapeuten sucht, das wäre der richtige Weg. Stattdessen sind die Leute auf sich allein gestellt. Ich will gar nicht wissen, wie viele Menschen es wegen dieser Situation nicht schaffen. Weil sie nicht rechtzeitig Hilfe bekommen. Das ist einfach fahrlässig.
Matti: Am Ende des Tages ist es außerdem eine Geldfrage. Wenn du selbst eine Therapie bezahlen kannst und nicht auf eine Kassenleistung angewiesen bist, findest du schneller einen Platz. Genauso ist es für Psychotherapeut:innen. Wenn du bereit bist, in diesem Beruf zu arbeiten, musst du deine Kassenzulassung auch erst mal für teures Geld erkaufen. Die ganze Ausbildung ist schon arschteuer. Die sind übelst verschuldet, wenn sie fertig sind. Bei mir hat sich diese Situation über Monate hingezogen und letztendlich bin ich im September 2022 aus dem Tourbus heraus fast direkt in die Tagesklinik hineingestolpert. In dieser Zeit habe ich diesen Song von Bobby McFerrin gehört und da geht es um ein Hilfsangebot. „Don’t worry, be happy. When you worry, call me, I give you my phone number.“ Da dachte ich mir, das ist doch ein tolles Angebot, ihn anzurufen, wenn es mir schlecht geht. Aber wer hat schon seine Telefonnummer?

Die Band hat auch eine große Rolle gespielt, dass ihr an diesen Punkt gekommen seid. Habt ihr daraus Konsequenzen gezogen?
Matti: Wir haben erkannt, wie wichtig freie Zeit für uns ist. Ich glaube nicht, dass die Tatsache, dass wir in einer Band sind, dazu geführt hat. Alles, was man zu viel tut, kann Ursache dafür sein. Wahrscheinlich wäre es mir auch so gegangen, wenn ich jede Woche fünfzig Stunden arbeiten würde. Ich glaube, es war einfach insgesamt zu viel für uns. Da hat dazu gehört, dass man die Dinge, die man gerade macht, nicht mehr wertschätzen kann. Eigentlich ist diese Band voll cool, mir macht das viel Spaß. Aber in diesem Zeitraum hatte ich keine Kapazitäten mehr, um Freude zu empfinden. Wir haben zum Beispiel beim Highfield Festival gespielt und das Gefühl, als ich auf die Bühne gegangen bin, war als ob ich meine Steuererklärung machen müsste. Das muss jetzt einfach gemacht werden und fertig. Das nicht mehr genießen zu können, kam einfach durch die Überdosis.
Peter: Vor fünf Jahren haben wir uns nach jedem Auftritt übelst was gegönnt. Wenn es die Band lange geben soll, dann kannst du das auch nicht immer machen. Das mussten wir auch erst mal lernen. Dass man besser mit allem haushalten muss. Mit der Zeit oder eben mit dem Körper.
Matti: In den ersten Jahren, in denen wir auf Tour waren, haben wir das Konzert gespielt und waren anschließend noch bin zum nächsten Morgen unterwegs. Dann haben wir zwei Stunden irgendwo gepennt und sind wieder aufgestanden. Das haben wir zwei oder drei Tage am Stück gemacht, sind zurückgekommen und haben vier Tage lang gearbeitet. Und dann ging es wieder los. Dass das auf Dauer ungesund ist, ist nachvollziehbar, denke ich. Deshalb haben wir uns entschieden, alles besser einzuteilen. Und damit meine ich auch den Grad des Absturzes während so einer Tour. Wir haben alle immer noch Bock darauf, aber vielleicht ist es doch nicht so schlau, sich gleich am ersten Tourtag auszuknipsen, weil man weiß, an den nächsten Tage muss man auch noch abliefern. Ich glaube, da spielen die sozialen Medien auch eine große Rolle. Dieses ständige Präsent-sein-Müssen strengt unheimlich an. Man verkauft die ganze Zeit ein Produkt. Oder zumindest hat man das Gefühl, dass man das machen muss. Man tritt an, um mit Leuten, die man mag, Mucke zu machen, und dann geht es irgendwann vor allem darum, dass man Konzerttickets oder Alben verkaufen muss. Man muss immer aufpassen, dass man im Algorithmus nicht untergeht. Wie funktioniert das? Nur noch Videos hochladen und keine Fotos. Oder keine Fotos mehr hochladen, auf denen man nicht selbst zu sehen ist. Man vergleicht sich ständig unterbewusst mit anderen Bands, die das auch alle machen. Am Ende des Tages machen alle den gleichen Scheiß und es juckt trotzdem keine Sau. Die Konsequenz, auf das alles zu scheißen, haben wir jetzt gelernt. Wir haben gemerkt, dass das alles nicht nachhaltig ist. Weder für unsere Psyche noch für irgendwas, was wir mit dieser Band wollen. Bei diesem Release haben wir gezielt gesagt, wir bringen nur ein Video heraus und das war’s. Wir machen keine großen Social-Media-Kampagnen mehr, sondern investieren Geld in eine Stadtplakatierung. Da ist dann zu lesen, dass wir ein neues Album haben. Vielleicht ist das auch ein Weg, der uns psychisch weniger belastet. Wenn wir nicht mitmachen bei dem, was dir irgendwelche Rockstar-Coaching-Vollidioten erzählen wollen.
Sarah: Wir genießen einfach dieses Gefühl, nicht mehr jedem gerecht werden zu müssen. Das war ein langer Prozess. Jahrelang haben wir allen geantwortet, die uns auf Facebook oder Insta angeschrieben haben. Egal, worum es ging. Da kamen zum Teil liebe Nachrichten, aber auch Messages, wo man sich fragt: Was willst du eigentlich von mir? Trotzdem haben wir jeder Person zurückgeschrieben. Diesen Anspruch haben wir nicht mehr. Wir machen nur noch das, worauf wir Bock haben. Es ist nicht so, dass wir uns komplett verweigern, aber wir haben gemerkt: Wenn wir so weitermachen, haben wir keinen Spaß mehr an dieser Band. Dann war es das vielleicht wirklich bald mit AKNE KID JOE. Deshalb nehmen wir jetzt lieber den Fuß vom Gas und sind nicht in allen Playlists dabei. Oder haben nicht den krass guten Vorverkauf abgeliefert.
Matti: Wir haben zum Glück ein Umfeld, egal, ob Booking oder Label, die das voll verstehen. Klar muss man überall Kompromisse finden, dann postet man eben noch mal eine Konzertübersicht, weil die Vorverkäufe nicht so gut angelaufen sind. Aber trotzdem haben die volles Verständnis dafür, dass man nicht nach diesem Schema vorgeht, nach dem alle vorgehen. Als wir Alex von Kidnap Music angekündigt haben, dass wir nur ein Video zum Album machen und stattdessen in Plattenläden und in Großstädten plakatieren lassen wollen, hat er gesagt: Habe ich noch nie gemacht, finde ich aber cool, dass ihr den analogeren Oldschool-Weg geht. Wir fanden es geil, dass er da so offen ist und nicht sagt: Leute, seid ihr wahnsinnig? Wir investieren einen Batzen Geld in Playlist-Pitching, deshalb müssen jede Woche drei Reels zu diesem Album erscheinen. Sonst machen wir gar nichts mehr. Alex hatte da volles Verständnis für uns und bei Sjard von Audiolith Booking war es ähnlich. Ursprünglich war der Plan, das Album Anfang 2024 zu veröffentlichen und damit gleich auf Tour zu gehen. Die war schon fertig gebucht. Aber wir haben gesagt: Boah, das schaffen wir nicht. Und Sjard hat einfach gesagt: Überhaupt kein Problem. Kein Stress. Ich verschiebe euch die komplette Tour. Der hätte auch sagen können: Seid ihr dumm? Ich habe da viel Arbeit reingesteckt. Ich würde also schon sagen, dass der Druck, der auf uns lastet, mit den Leuten, die wir uns ausgesucht haben, voll passt.

Lasst uns über die Musik reden. Im Netz habt ihr Witze über ein Reggae-Dub-Album gemacht. Diesmal kommen die Melodien besser zur Geltung, finde ich. Ihr habt musikalisch einen großen Schritt nach vorne gemacht.
Peter: Ich finde es super, dass du das sagst. Ich wollte einmal von jemandem hören, dass ihm unsere Songs gefallen und nicht nur die Texte, haha. Wir haben es diesmal auch komplett anders angepackt als die Alben zuvor. Vorher haben wir uns zu zweit oder zu dritt in unsere Kammer eingeschlossen und das step by step aufgenommen. Wir hatten aber keinen einzigen Song vorher gemeinsam gespielt. Das ist alles im Studio entstanden, bis auf die erste Platte, da war das noch anders. Da haben wir die ganzen Songs ein Jahr lang live gespielt und dann aufgenommen. Genau da wollten wir musikalisch wieder hin. Deshalb haben wir uns bewusst entschieden, nicht alles selbst zu machen, und uns für zwei Wochen in einem Studio bei einem Kumpel eingemietet. Matti kam wie immer mit den fertigen Texten und Songideen und wir haben dann gemeinsam als Band Musik gemacht. Und nicht alles einfach abgearbeitet, wie wir es gewohnt sind. Ich fand es sehr cool, dass wir diesmal viel bewusster musiziert haben. Es war auch gut, dass wir uns jemand Externes ins Boot geholt haben, der auch mal sagen kann, wenn etwas scheiße ist.

Ich habe auch den Eindruck, dass ihr euch an den Instrumenten verbessert habt. Ihr seid alle Autodidakten, die sich alles selbst beigebracht haben.
Peter: Wir haben bis kurz vor den Burnout gespielt, da lernt man irgendwann sein Instrument. Vielleicht liegt es daran. Ich kann immer noch nicht so viel, da stehen immer noch die Noten auf dem Keyboard, aber Matti ist schon sehr gut geworden an der Gitarre.
Matti: Danke, Leute, haha. Ihr postet doch immer so Kacheln beim Ox, auf denen einzelne Zitate herausgehoben werden. Ich hätte gerne, dass da die Aussage von Peter steht: „Ich finde, Matti ist sehr gut an seiner Gitarre geworden.“ Haha. Unser letztes Album „Die Jungs von AKJ“ ist sehr schnell und steril entstanden. In ein paar Wochen war alles fertig und dann haben wir das step by step aufgenommen. Das war ein Schnellschuss. Vielleicht hatte das auch zur Folge, dass es etwas uninspiriert war, was das musikalische Arrangement betrifft. Für das neue Album haben wir uns mehr Zeit gelassen. Es ist immer noch eine ziemliche Punk-Platte mit ordentlich Druck, würde ich sagen, aber es ist kein Standard-Deutschpunk. Es gibt mehr Akkordwechsel und mehr unterschiedliche Teile. Wir hatten vorher Songs mit zwei Akkorden in der Strophe und drei Akkorden im Refrain. Das wars. Die gibt’s auf dem Album auch, aber eben auch andere Songs. Schön zu hören, dass wir uns weiterentwickelt haben.
Peter: Auch soundmäßig haben wir uns mehr Gedanken gemacht. Gerade bei den Gitarren. Bei den letzten Alben haben wir das Kabel einfach im PC eingestöpselt und das ganze Album mit einem Sound aufgenommen. Das war auch cool, alles so naiv anzugehen, aber diesmal war es eben anders. Gestartet sind wir ähnlich und dann haben wir gemerkt, dass uns das nicht so abholt. Dann haben wir uns Gedanken darüber gemacht, dass man auch am Gitarrensound etwas ändern kann. Dann hat sich Matti so ein Rockstar-Pedal geholt, was ihm auch übelst peinlich ist. Aber da sind jetzt eben vier verschiedene Gitarrensounds drauf und nicht nur einer für das gesamte Album. Das macht schon was her.
Matti: Das Grundgerüst für die Songs haben wir diesmal live eingespielt. Es gibt Songs, in denen die Gitarre und das Schlagzeug wie aus einem Guss klingen. Das war bei den Vorgängeralben nicht so. Da haben wir alles mit einem E-Drumset vorproduziert und am Schluss hat der Schlagzeuger drüber gespielt. Das machte das Ganze deutlich steriler.
Sarah: Beim Gesang hört man es auch krass, finde ich. Bisher haben wir ins Mikro geschrien, so gut wir eben konnten. Jetzt gibt es plötzlich Melodien und Matti und ich singen zwei verschiedene Sachen. Den gleichen Text, aber zwei verschiedene Melodien. Das gab es vorher alles nicht. Das ist schon eine krasse Weiterentwicklung. Aber jedes Mal, wenn wir live alte Songs wie „Markus Erlöser“ spielen, denke ich mir: Genial!
Matti: Wir haben das Album bei Florian Helleken in Hersbruck bei Nürnberg aufgenommen und dessen Impact hört man brutal, finde ich. Der hat uns immer wieder auf Sachen hingewiesen, die das Album viel besser gemacht haben. Wir wären nie darauf gekommen, Percussion einzusetzen. Wie viele Shaker oder Schellenkränze sind jetzt auf dem Album zu hören? Ich weiß es gar nicht. Das nimmt man vielleicht gar nicht so wahr, macht es aber trotzdem irgendwie anders. Damit hatte Flo einen guten Einfluss auf die Entstehung des Albums.

Das Studio, in dem ihr aufgenommen habt, heißt Hersbrooklyn Recordings. Welchen Bezug habt ihr zu Bands der sogenannten Hersbrucker Schule wie ROBOCOP KRAUS, SCHUBSEN oder THE AUDIENCE?
Matti: Hersbruck ist gleich ums Eck und die Hersbrucker Schule wohnt inzwischen fast komplett in Nürnberg. Man kennt sich einfach. Jeder, der in Nürnberg Musik macht, kennt die Bands der Hersbrucker Schule. Ich habe den Höhenflug von ROBOCOP KRAUS, von dem die Leute heute noch erzählen, nicht selbst mitbekommen, weil ich da noch bei meinen Eltern in der Nähe von Ulm gewohnt habe. Ich habe das erst im Nachhinein erfahren, ich bin ein paar Jahre zu spät nach Nürnberg gekommen. Aber das ist natürlich immer noch voll das Ding hier. Und natürlich sind die einzelnen Leute immer noch präsent. Die hatten alle noch sieben Nebenprojekte, so ist alles miteinander verwoben. Einige Leute wie Flo, der früher bei THE AUDIENCE Schlagzeug gespielt hat, oder Robert von SCHUBSEN sind einfach sehr gute Freunde. Die sehen wir regelmäßig und pflegen eine enge Verbindung.
Matti: Ich bin auch zugezogen und kannte ROBOCOP KRAUS nur aus dem Musikfernsehen. Ich bin 2008 nach Nürnberg gekommen und habe gleich im ersten Jahr im K4-Festsaal ... AND YOU WILL KNOW US BY THE TRAIL OF DEAD gesehen und im Vorprogramm waren eben THE AUDIENCE. Ich kannte niemanden von denen und fand es mega cool. Ich stehe schon auf diesen Indie-Sound, aber ich würde nicht sagen, dass die Hersbrucker Schule einen Einfluss auf unseren Sound hatte. Aber die Geschichten, die man hört, sind natürlich beeindruckend. Ein Kaff mit knapp 12.000 Einwohnern hatte mit ROBOCOP KRAUS und THE AUDIENCE gleich zwei Bands, die europaweit auf Tour gehen. ROBOCOP KRAUS hatten sogar einen Vertrag bei Epitaph und waren mit ART BRUT in den Staaten unterwegs. Das ist schon krass.

Ein zentrales Thema der letzten Jahre sprecht ihr in dem Stück „Spaltung der Gesellschaft“ an. Ist das ein Verweis auf den Song „Alles was ich will (Nur die Regierung stürzen)“ von DIE GOLDENEN ZITRONEN?
Matti: Der Bezug zu DIE GOLDENEN ZITRONEN ist Zufall. Die Spaltung der Gesellschaft ist eigentlich kein erstrebenswertes Ziel. Dass wir aber in dem Song singen „Alles, was wir wollen, ist die Spaltung der Gesellschaft“ drückt all den Frust aus, den wir aus der Corona-Pandemie und der politischen Entwicklung dieser Zeit mitgenommen haben. Deshalb wollten wir auch keinen dialogfreudigen Song liefern, mit dem wir uns alle die Hände reichen. Es ging eher darum zu sagen: Macht einfach euren Scheiß, wir haben da keinen Bock mehr drauf. Am besten ist, man geht getrennte Wege. Das ist aber in der Realität nicht umsetzbar, es war einfach ein frustriertes Gedankenspiel. Dieser Song ist genau an die Leute adressiert, die wir alle kennen: Corona-Leugner, Schwurbler, Trump-Wähler und Leute, die „Lügenpresse“ schreien. Einfach Leute, die man mit Argumenten nicht mehr erreichen kann.

Die große Frage lautet trotzdem: Wie kann man all die Querdenker nach dem Ende der Corona-Pandemie wieder einfangen? Das wird ja immer schlimmer.
Matti: Natürlich wäre es wichtig, dieses Problem in den Griff zu bekommen, aber ich habe keine Patentlösung dafür. Bei mir hat schon so viel Resignation eingesetzt, dass ich einfach aufgegeben habe. Alle Ansätze, aufeinander zuzugehen, funktionieren einfach nicht. Dieser Song ist das Resultat dieser Resignation. Schau dir doch die USA an. Für die eine Hälfte ist es eine Katastrophe, wenn Trump wieder Präsident wird, für die andere Hälfte ist es eine Katastrophe, wenn er nicht wiedergewählt wird. Trump selbst kann eigentlich machen, was er will. Der könnte auf dem Times Square jemanden erschießen und die Leute würden sagen: Fake News! Man will ihm irgendwas anhängen! Wie soll man solchen Sachen noch begegnen?
Sarah: Wenn man sagt, die Gesellschaft ist aufgeteilt in AfD und die anderen und dazwischen ist der Riss, dann ist das schon längst nicht mehr so, weil das so krass von den ganzen Parteien aufgeweicht wurde. Also von CSU, SPD und FDP, die sich die ganze Zeit nach rechts anbiedern, um genau diesen Graben zu schließen und Wählergruppen zu erreichen. Aber es wird nicht besser, sondern immer schlimmer. Die komplette Politik wird dadurch nach rechts verschoben und deshalb existiert diese vielzitierte Brandmauer praktisch nicht mehr. Vielleicht muss man auch wieder konsequent sein und nicht versuchen, mit Leuten ins Gespräch zu kommen oder Ängste wahrzunehmen. In der Hoffnung, dass man irgendjemanden noch überzeugen kann. Einige von diesen Menschen sind einfach lost und richtig rechtsextreme Arschlöcher. Ich wüsste nicht, warum wir eine Gesellschaft haben sollen, wo diese Leute Teil davon sein sollen. Vielleicht ist dieser Graben nicht ausschließlich ein schlechtes Symbol, sondern auch die moralische Abgrenzung zu Arschlöchern.

Ein letzter Song ist mir noch aufgefallen: „Jason Lee ist nicht mehr bei Scientology“. Warum berührt euch dieser Hollywood-Star?
Matti: Jason Lee ist berühmt geworden als Skateboard-Profi, ist dann eben Schauspieler geworden und hat in sehr coolen Filmen mitgespielt. Irgendwann hat er die Hauptrolle in der Serie „My Name is Earl“ übernommen. Die fand ich super, ich komme immer noch nicht darüber hinweg, dass die mit einem Cliffhanger aufhört und die nächste Staffel nie produziert wurde. Ich habe das voll gesuchtet und war Riesenfan von Jason Lee und dieser Serie. Irgendwann habe ich dann gelesen, dass Jason Lee bei Scientology ist. Das hat mir die Serie natürlich versaut, weil ich eben einen kleinen Jason Lee-Crush hatte. Dann habe ich während einer Fahrt zu einem Festival zufällig in seinem Wikipedia-Eintrag gelesen, dass er Scientology verlassen hat. Das haben wir alle abgefeiert. So ist dieser Song entstanden. Der Text besteht nur aus drei Zeilen. Als großer Jason Lee-Fan bin ich sehr froh, dass er nicht mehr bei Scientology ist.

Wenn wir schon von dunklen Mächten sprechen ... Kein AKNE KID JOE-Interview ohne Frage nach Markus Söder. Was sagt ihr zu Söders Genderverbot in Bayern?
Sarah: Was soll man dazu sagen? Markus Söder macht einfach Markus Söder-Sachen. Er ist ein populistisches Arschloch. Er ist ein Wendehals und sucht immer nach Themen, auf die er aufspringen kann. Dieses Genderverbot ist lächerlich. Er ist derjenige, der permanent die Grünen als Verbotspartei beschimpft. Aber der Einzige, der irgendwelche Sprachregeln aufstellt, ist doch Markus Söder und seine CSU. Das ist so absurd, dass man gar nichts dazu sagen möchte. Es ist wieder ein politischer Coup, den er da gelandet hat, weil er damit wieder in aller Munde ist. Das ist lächerlich. Mal abgesehen davon, dass ich gar nicht weiß, wie die das umsetzen wollen. Wollen sie etwa die Lehrkräfte verhaften, die sich verweigern? Oder bekommen die ein Bußgeld? Das passt in die politische Propaganda, die dieser Typ auf allen Linien fährt. Ob es das Genderverbot ist oder die bayerische Härte gegen die Cannabis-Legalisierung. Das ist genau die Strategie, die die CSU seit Jahr und Tag fährt. Markus Söder ist einfach der König des Opportunismus, mich überraschen solche Aktionen überhaupt nicht mehr. Es würde helfen, wenn die Leute in Bayern bei der nächsten Wahl nicht mehr CSU wählen. Aber sie machen es trotzdem wieder.
Matti: Ich denke, es gibt auch genug Leute in Bayern, die Markus Söder und die CSU gut finden. Die wählen nicht seit Jahrzehnten die CSU oder jetzt auch die Freien Wähler und wundern sich dann. Die wählen die genau aus dem Grund. Ich kann mich noch gut an die Debatte erinnern, als die Grünen einen vegetarischen Tag in den Kantinen gefordert haben. Dann sind alle CSU-Schädel ausgerastet und haben geschrien: Man verbietet uns das Fleischessen! Vor Söders Genderverbot wurde auch niemand gezwungen zu gendern. Aber wenn du dir Studien anschaust, macht es durchaus Sinn, darüber zu sprechen, ob Gendern sinnvoll ist. Leute, die dagegen sind, sagen: Beim generischen Maskulinum sind alle gemeint. Wenn es heißt: der Arzt oder der Fußballer, dann meint man damit auch die Ärztin oder die Fußballerin. Aber de facto ist es schon so, dass die meisten Leute an den männlichen Arzt denken oder an den männlichen Fußballer. Wenn man gendert, könnte man das ein bisschen auflösen.

Wir leben generell in einem Zeitalter der Empörung. Ich finde das sehr anstrengend. Was haltet ihr von der Aufregung um die rosafarbenen Auswärtstrikots vom DFB?
Matti: Ich verstehe die ganze Aufregung nicht. Clubs wie Inter Miami spielen immer in Rosa. Und auch Clubs in Italien wie Juventus Turin oder AC Florenz haben schon seit Jahren Trikots, die rosa oder lila sind. Bekannte Torhüter wie Gianluigi Buffon oder Manuel Neuer spielen auch immer wieder in pinken Trikots. Ich habe das gar nicht so mitbekommen, weil ich mich vielleicht in einer sehr aufgeklärten Fußball-Bubble bewege. Umso bemerkenswerter ist es, dass sich diese Rosa-Lila-Trikots besser verkaufen als alle anderen Auswärtstrikots vom DFB. Das war dann wohl eher ein Aufschrei in den sozialen Medien, angefeuert durch die Springer-Presse. Ich fand viel interessanter, dass sie hintendrauf die Zahl 44 gepackt haben, die aussieht wie eine SS-Rune. Das hört sich ziemlich nach „50/50“ an, haha. Ich habe diese Trikots gesehen und mir gedacht, die bestellen sich bestimmt die ganzen Faschos eins mit der 44. Dann wurde der Fauxpas aber relativ schnell bemerkt und die Nummern einkassiert. Da frage ich mich: Wie kann das einer Design-Agentur bei Adidas durchrutschen?

In ein paar Wochen startet die Fußball-EM in Deutschland. Hochkonjunktur für alle Schland-Fans. Wie steht ihr zu diesem Event? Habt ihr Angst vor dem nächsten Sommermärchen?
Matti: Wahrscheinlich würde es im Ox besser ankommen, wenn ich sagen würde: Mir ist das alles komplett scheißegal. Aber ich bin ein fußballinteressierter Mensch und verfolge so ein Turnier schon ziemlich intensiv. Ich kann mich auch noch gut an 2006 erinnern, an Fanmeilen und diese Deutsch-Duseligkeit. Das ist natürlich eklig und widerstrebt mir. Aber abgesehen davon, freue ich mich auf so ein Turnier und habe Lust, mir die Spiele anzuschauen. Ich drücke keinem Team leidenschaftlich die Daumen, aber ich fände es cool, wenn England in Deutschland Europameister wird. Das fände ich schon witzig. Das deutsche Team ist zwar inzwischen eine echte Multikulti-Truppe mit jeder Menge Migrationshintergrund, aber ich sehe schon die Gefahr, dass es in so einen unreflektierten Alltagsrassismus abdriftet. Ich kann mir vorstellen, dass wenn es gegen Italien geht, wieder über die „Spaghettifresser“ geschimpft wird. So eine Art der Abgrenzung, wenn man sich über andere stellt. Dieses Gefahrenpotenzial hat der Fußball schon. Dass so ein Party-Patriotismus im Zuge so eines Turniers entsteht. Dem möchte ich mich entziehen.
Sarah: Mir graust es vor dieser Fußball-EM, wenn ich an diese Autos denke mit den ganzen Deutschlandfahnen. 2006 gab es Aufrufe aus der linken Szene, so viele Fähnchen wie möglich einzusammeln und auf großen Haufen zu verbrennen. „Deutschland knicken“, hieß das Motto damals. Darüber hat sich die CSU auch richtig empört. Ich fände es cool, wenn es das wieder geben würde, aber sonst muss ich sagen: Das wird leider nicht meine Lieblingszeit des Jahres. Trotzdem hoffe ich auch, dass England Europameister wird, haha.

Im September 2024 sind Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Fühlt ihr euch unwohl im Hinblick auf die AfD und die aktuelle Stimmung im Land?
Sarah: Die Entwicklung ist in vollem Gange, die ist auch nicht mehr zu stoppen. Man sieht das auch in anderen europäischen Ländern wie Italien oder den Niederlanden. Das ist leider kein rein deutsches Phänomen. Die AfD wird die stärkste Partei in diesen Bundesländern werden. Das wird der erste Dammbruch sein, den man auf Landtagsebene hat. Die CDU wird vermutlich ihr Versprechen brechen, keine Koalition mit denen einzugehen. Das bahnt sich jetzt schon überall an. Das kann Friedrich Merz noch so oft abstreiten. Weil die immer Angst um ihren Arsch haben und die eine oder andere Wählerstimme abgreifen wollen. Das ist in meinen Augen das Schlimme. Auch 1933 haben es die Nazis nicht allein geschafft, auch damals gab es Leute, die denen geholfen haben. Die diese Gefahr einfach unterschätzt und belächelt haben. Offensichtlich haben wir in Deutschland nicht sehr viel aus der Geschichte gelernt. Auch wenn es die ganze Zeit behauptet wird. Wir stehen wieder an der gleichen Schwelle wie vor nicht einmal hundert Jahren. Ich bin fassungslos und habe sehr große Bauchschmerzen, wenn ich an die nächsten Wahlen denke. Und all die Leute, die im Osten wohnen und cool sind, tun mir leid. Die haben jetzt schon einen krassen Alltag dort. Die haben jeden Tag Nazis vor der Fresse und werden bedroht. Für diese Menschen wird es super schlimm. Ich kann mir das gar nicht ausmalen, wie das wird. Es kommen schwere Zeiten auf uns zu.

Welche Optionen gibt es, wenn die AfD auch im Bund in Regierungsverantwortung kommen würde?
Matti: Wir sehen es aus der linken Perspektive, aber viel schlimmer werden die Leute betroffen sein, die Migrationshintergrund oder Asyl-Status haben. Leute, die queer sind. Es gibt Minderheiten, die von so einem Worst-Case-Szenario sehr viel schneller betroffen sein werden als wir. Ich mache mir keine konkreten Gedanken, wie das sein wird, ich will mir das nicht ausmalen. Deshalb haben diese großen Demos nach Bekanntwerden der Remigrationspläne der Rechten auch sehr gutgetan. Dass es nicht nur eine Doom-Stimmung gibt. Dass noch genug Leute aus der normalen Bevölkerung da sind, die sagen: Nicht mit uns. Das ist eine kleine Hoffnung, an die ich mich klammere.
Sarah: Ich kenne Menschen mit Migrationshintergrund, die sich konkret auf diesen Fall vorbereiten. Es werden Strukturen aufgebaut und Pläne geschmiedet, wie man möglichst schnell hier rauskommt, wenn plötzlich die AfD an der Macht ist. Es gibt einige Personengruppen in Deutschland, die sich zu Recht davor fürchten. Vor zehn Jahren, als die AfD entstanden ist, wurde sie bekannt als Euro-Kritiker-Partei, da habe ich die auch noch verharmlost und unterschätzt. Wie krass die in den vergangenen zehn Jahren eskaliert sind, macht mir schon Angst. Wie groß sind die dann in zehn Jahren? Normalerweise dauern solche Prozesse Jahrzehnte und die haben es in zehn Jahren von null auf hundert geschafft. Deshalb bin ich sehr pessimistisch und finde es nicht übertrieben, wenn Leute an solchen Notfallplänen arbeiten.

Eure Waffe dagegen war immer die Ironie. Ihr habt in euren Songs über alles Witze gemacht. Zum Beispiel die Sache mit dem Antifa-Tarifvertrag. Gibt es immer noch Leute, die eure Ironie nicht verstehen?
Matti: Es gibt sehr viele Menschen, die keine Ironie verstehen. Das ist auch immer abhängig vom Medium, in dem die Botschaft transportiert wird. Schriftlich ist Ironie für viele Leute viel schwerer zu erfassen als zum Beispiel in einem Video oder auf der Bühne. Oder wenn die Mimik noch dazukommt. Es gibt Leute, die sich damit schwertun. Beim Song „What AfD thinks we do“ war es aber nicht so, dass die Leute von rechts die Ironie nicht verstanden haben. Das hat denen einfach in die politische Agenda gepasst, deshalb haben sie den Song als Beweis für ihre wirren Thesen verwendet und gepostet.

Spürt ihr auch Gegenwind aus der Punk-Szene? Dass es da Leute gibt, die euch überhaupt nicht leiden können?
Matti: Dass nicht alle Leute cool finden, was wir machen, ist ganz normal. Das ist einfach Geschmackssache. Wahrscheinlich finden viele die Mucke scheiße und halten unseren Namen für einen schlechten Witz. Wie wir mittlerweile auch, haha. Wir gestehen jedem zu, uns beschissen zu finden. Wie viele Bands finde ich beschissen?
Sarah: Auf Social Media lesen wir immer wieder, dass jemand einen gehässigen Kommentar abgibt. Zum Teil sogar Leute, die ich cool finde. Das gibt mir schon einen Stich ins Herz. Andererseits denke ich mir, dann ist es einfach so. Ich finde es sowieso krass, wie viele Leute uns cool finden. Ich hätte niemals damit gerechnet, dass es so viele Leute gibt, die etwas gut finden, das ich mache. Für mich ist das also voll okay und beruht in einigen Fällen auch auf Gegenseitigkeit.
Matti: Punk ist eine Generationenfrage. Davon nehme ich mich auch nicht aus. Wenn uns irgendwelche älteren Punks scheiße finden, stelle ich fest, dass ich 19-Jährige auch manchmal scheiße finde. Wir sitzen einfach fest zwischen Boomer-Generation und Generation Z. Auf Facebook gibt es eine Seite, die heißt „Oberkörperfrei im Punk“, die haben es sich zur Aufgabe gemacht, alte Werte zu vertreten und alles beschissen zu finden, was woke ist. Ganz schlimm. Da sind wir auch in die Schusslinie geraten. Dort sind wir die Band, die Lieder gegen Deutschland macht und sich von der Bundesregierung die Finanzspritze in den Arsch jagen lässt. Weil wir von der Initiative Musik gefördert werden. Oder die regen sich auf über Bands wie POGENDROBLEM, die einen Song namens „Shirt an“ geschrieben haben. Denn diese verweichlichten Punks wollen ihnen verbieten, bei Konzerten ihre T-Shirts auszuziehen. Solche Leute gibt es, die finden uns auch beschissen. Für uns ist das völlig in Ordnung. Wir finden die genauso beschissen.

Zusammen mit POGENDROBLEM oder TEAM SCHEISSE gehört ihr jedenfalls zu einer neuen Generation deutschsprachiger Punkbands. Ist Punk mitfühlender und achtsamer geworden?
Sarah: Diese Entwicklung hat schon vor uns angefangen. Ich finde auch nicht, dass wir uns da im Epizentrum befinden. Es gibt jede Menge neue Bands, die Sachen anders machen als wir. Das spiegelt einfach die Gesellschaft insgesamt wieder. Auch innerhalb der linken Szene werden jetzt Themen diskutiert, die da vor zehn oder zwanzig Jahren noch keine Rolle gespielt haben. Das ganze Genderthema wird anders diskutiert als damals. Es wäre doch auch komisch, wenn die Entwicklung nicht im Punk ankommen würde. Natürlich verändert sich dadurch die Szene und natürlich werden andere Werte wichtiger. Früher war diese Anti-Haltung sehr wichtig. Heute geht es eher um Konsens und darum, dass sich alle Leute wohl fühlen. Aber ich finde es schlimm, dass sich Leute dadurch provoziert fühlen. Sollen doch alle Leute so leben, wie sie es für richtig halten. Dieses ständige Herumstänkern gegen alle, die es ein bisschen anders machen, geht mir auf den Sack. Es gibt jedes Wochenende Punk-Konzerte, wo es genauso läuft, wie die das seit dreißig Jahren wollen. Sollen sie doch einfach dahin gehen. Dass Zwanzigjährige heute Dinge anders machen als Fünfzigjährige ist einfach der ganz normale Lauf der Dinge. Es wäre auch komisch, wenn es anders wäre. Deshalb verstehe ich die ganze Aufregung nicht.
Matti: Wir sind irgendwo dazwischen, wir sind alle Mitte dreißig. Ich würde mich nicht mit freiem Oberkörper auf die Bühne stellen, aber wenn ich eine Band sehe, die das macht, ist das auch okay für mich. Ich will damit sagen: Wir machen einfach unser Ding, wie wir das eben machen. Und vielleicht steht das für irgendwas und wir transportieren unsere Werte. Aber wir führen nicht mit Vehemenz einen Kampf für oder gegen etwas. Wir sind keine Band, die sagt: Jetzt gibt es hier einen FLINTA*-Pit. Wenn TEAM SCHEISSE und 24/7 DIVA HEAVEN eine FLINTA*-Only-Tour machen wollen, sollen die das machen. Die Shows waren ausverkauft, das Feedback war gut. Ist doch super. Sollen sie gerne wieder machen. Ich glaube aber nicht, dass wir so eine Tour spielen werden. Das heißt aber auch nicht, dass wir das blöd finden. Von mir aus gibt es keine Einwände. Und wenn TEAM SCHEISSE in drei Jahren sagen, wir spielen alle mit freiem Oberkörper, dann ist mir das auch scheißegal, haha.

In der Punk-Szene gibt es immer wieder Diskussionen, in denen sich alle heillos verzetteln. Zum Beispiel in der Debatte um den Nahostkonflikt. Wie seht ihr das?
Matti: Ich glaube, dass viele Leute den Nahostkonflikt mit einem Fußballspiel verwechseln, bei dem man sich bedingungslos auf eine Seite schlagen muss. Das ist meiner Meinung nach ein großer Fehler. Wichtig wäre es zu sagen, man steht auf der Seite der Opfer, egal, auf welcher Seite. Diesen Konflikt gibt schon seit Jahrzehnten mit aggressiver Siedlungspolitik, schrecklichen Selbstmordattentaten und vielen schlimmen Dingen. Aber durch die Ereignisse am 7. Oktober 2023 hat sich dieser Konflikt noch einmal zugespitzt. Das war ein barbarisches Attentat auf die jüdische Bevölkerung durch die Hamas. Das Schlimmste seit dem Holocaust. Das ganze Ausmaß entzieht sich unserer Vorstellungskraft. Auf der anderen Seite gehört das Leid der Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen genauso dazu. Das kann sich auch niemand von uns vorstellen. Ich fände es einfach gut, wenn man sich zu diesem Thema äußert, dass man sagt: Die Hamas ist untragbar. Diesen Angriff gilt es genauso zu verurteilen wie die zivilen Opfer im Gaza-Streifen. Wir waren neulich beim Konzert von IDLES in München. Ihr Sänger Joe Talbot hat das ganze Konzert über „Free Palestine“ gerufen, Sprechchöre angefacht oder Parolen in die Texte eingebunden. Kann er ruhig machen, ist nichts dagegen zu sagen. Was mir aber das Konzert und auch die IDLES komplett versaut hat, war der Umstand, dass er kein einziges Mal den Terroranschlag vom 7. Oktober erwähnt hat. Hätte er nur einmal „Fuck Hamas“ geschrien, hätte er zumindest ein kleines Gleichgewicht geschaffen. Aber so war das einfach eine total unreflektierte Nummer. Das Konzert war für mich eigentlich eine Frechheit. Wenn ich mir vorstelle, dass auch nur eine jüdische Person im Publikum war, dann hat die sich mit Sicherheit unwohl gefühlt.
Sarah: Meine Insta-Bubble besteht zu gleichen Teilen aus Leuten, die solidarisch mit Israel und solidarisch mit Palästina sind. Entweder so oder so. Und alle werfen sich gegenseitig vor, man spreche zu wenig über die Opfer auf der jeweiligen Seite. Das ist einfach null konstruktiv. Ich habe das Gefühl, die Seiten verhärten sich. Sowohl Israelis als auch Palästinenser leben seit dem 7. Oktober in purer Angst und von irgendwelchen weißen Kartoffeln wird so eine Stellvertreterdebatte geführt, bei der die sich auf Insta zerfleischen. Das bringt überhaupt nichts. Vielleicht wäre es langsam an der Zeit, dass die Leute aufhören, sich zu jedem Scheiß zu äußern. Nicht jeder muss zu allem etwas sagen.

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Diskografie
„Karate Kid Joe“ (LP, Kidnap Music, 2018) • „Die große Palmöllüge“ (LP/CD, Kidnap Music, 2020) • „Die Jungs von AKJ“ (LP/CD, Kidnap Music, 2021) • „4 von 5“ (LP/CD, Kidnap Music, 2024)