AFI

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Musikalische Vergletscherung

Ein Interview mit einer Band, die einem sehr viel bedeutet, ist nie einfach. Soll es gut sein, muss man eine gewisse Distanz aufbauen können. Soll es interessant sein, darf man nicht zuviel Insiderwissen einfließen lassen. Hat man dies geschafft, ergibt sich das nächste Problem. Man fängt hundertmal an, den Text zu schreiben, und irgendetwas passt einem immer wieder nicht daran. Schließlich soll dieser Text doch erst recht was Besonderes werden. Mit diesen Schwierigkeiten hatte ich im Falle von AFI zu kämpfen. Am 6.6.06 (ein Zufall, beteuern alle) ist mit "Decemberunderground" nach drei Jahren der Nachfolger zum bislang erfolgreichsten Album "Sing The Sorrow" erschienen. Mehr als Grund genug, sich durch die oben beschriebene Situation zu quälen.


Es ist Anfang Juni, und selbst in Kalifornien scheint nicht jeden Tag die Sonne. Man könnte fast meinen, die Wolken über der Bay Area hätten sich zusammengezogen, um einen besseren Hintergrund für mein Gespräch mit Sänger Davey Havok abzugeben. Schließlich soll in diesen Tagen, da es in Deutschland endlich Sommer wird, der Winter wieder Einzug halten, zumindest in musikalischer Hinsicht, dank des neuen Albums "Decemberunderground". Wir haben uns in einem Café in Berkeley getroffen, unweit des alten umgebauten Warenhauses, das vor Jahren der Band und einigen Freunden als Haus diente. Davey sitzt mir gegenüber, ganz in schwarz gekleidet und perfekt geschminkt, so wie man es von ihm erwartet. Schließlich hatten AFI seinem Aussehen einst die Bezeichnung "Goth-Punk" zu verdanken. Was weniger zu seinem Aussehen und der vermeintlichen Rolle passt, sind die Fröhlichkeit und das Lachen, aber auch ein leicht verlegener Blick, als ich ihn danach frage, ob er sich mittlerweile daran gewöhnt habe, sein Foto auf einem Zeitschriftencover nach dem anderen zu sehen. Nein, offensichtlich noch nicht. "AFI sind in den letzten Jahren immer größer geworden", setzt Davey zu einem Erklärungsversuch an, "aber wir sind immer noch dieselben wie früher. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, was für ein Schock es für mich war, zum ersten Mal ein Lied von uns im Radio zu hören. Wenn man sich dann auf so einem Cover sieht, ist das noch intensiver. Musik ist wenigstens anonym, Fotos dagegen zeigen alles und machen einen verletzbar."

Passt dieser Gedanke wirklich zu jemandem, der das Haus nicht ohne Schminke verlässt und dessen Band gerade auf dem besten Weg ist, die US-Charts zu stürmen? Das Make-up sei für ihn einfach schon seit Jahren Bestandteil seines Aussehens, so wie andere eben bestimmte Kleidungsstücke bevorzugen. Und die steigenden Verkaufszahlen von AFI sind letztendlich die Belohnung für jahrelange harte Arbeit, auch wenn Davey das so nicht ausdrücken würde. Natürlich ist er sich bewusst, dass besonders selbst ernannte "Punkwächter" ihre Probleme mit einer Band haben, deren Album sich über eine Million Mal verkauft, wie beim Vorgänger "Sing The Sorrow" geschehen. Und wenn sich die Wege der Band immer mehr vom Punkrock oder Hardcore entfernen, ist alles verloren. Aber er mache sich in dieser Hinsicht nicht so viele Gedanken, denn man habe "nie versucht, Songs so zu schreiben, dass sie sich besonders gut verkaufen. Wenn wir kommerzielle Musik machen wollten und es unser Ziel gewesen wäre, Rockstars zu werden, dann hätten wir vor Jahren angefangen, Musik für das entsprechende Publikum zu schreiben. Davon abgesehen, dass so ein Vorhaben eigentlich immer scheitert."

Vielmehr ist die Band von Anfang an bemüht, sich von Aufnahme zu Aufnahme weiterzuentwickeln. Schaut man sich die bisherigen sechs Alben an, merkt man schnell, dass es keine zwei gibt, die sich gleichen. Nachdem das Album zuvor die Messlatte besonders hoch gesetzt hatte, war es für Davey umso wichtiger, bei den Arbeiten an "Decemberunderground" dem Klangbild der Band wieder neue Aspekte hinzuzufügen. Ein neues Album hinge für ihn und die anderen Mitglieder von AFI immer mit neuen Herausforderungen zusammen. Wohingegen NOFX bezüglich des letzten Albums einräumten, dass sie sich nur zu 60 Prozent angestrengt haben, dies aber okay sei, weil sie immer noch Punk sind. Und sie haben Recht, denn das ist genau das, was NOFX-Fans wollen. AFI dagegen sind sich bewusst, dass viele ihrer Fans mittlerweile von ihnen erwarten, etwas Neues präsentiert zu bekommen: "Ich habe Angst vor dem Tag, an dem wir etwas veröffentlichen und zu hören bekommen, das hätten wir schon einmal gemacht. Natürlich gibt es einige Fans, denen wir wegen eines einzelnen Albums gefallen, und die sich schwer tun mit dem nächsten, das anders klingt. Klar ist, dass dadurch auch einige Fans irgendwann verloren gehen." Aber dies sind wenige verglichen mit den treuen Anhängern.

Es ist nie einfach, mit Davey über die Bedeutung seiner Texte und Songtitel zu reden. Jeder Hörer solle die Möglichkeit haben, eine eigene Interpretation zu entwickeln und das herauszuhören, was einzelne Worte oder ganze Songtexte für ihn bedeuten. Aus diesem Grund gefällt es Davey nicht, sich da konkret zu äußern. Zwar schreibe er die Texte und diese hätten auch eine Bedeutung für ihn, aber er betont gerne, dass das nur seine Interpretation sei und es ihm lieber ist, wenn man sich eigene Gedanken macht. Umso erstaunlicher ist es, wie offen und ausführlich er den Albumtitel und das dahinter stehende Konzept erklärt.

Bei "Decemberunderground" handle es sich sowohl um eine Zeit als auch einen Raum, die der Mehrheit verborgen blieben und wo sich Andersdenkende und solche, die nicht der Mainstream-Gesellschaft angehörten, zusammenschließen könnten. Der Monat Dezember stünde dabei für die Kälte und Ablehnung, die diese Individuen erfahren würden und die sie letztendlich zusammenführten. Dazu passt auch das gesamte Artwork des Albums. War früher alles bei AFI schwarz, so kommt das neue Album in einem kalten Weiß daher, das gut diese inhaltliche Kälte ergänzt.

Am nächsten Tag treffe ich Hunter, den Bassisten von AFI, zufällig auf einem Konzert von gemeinsamen Freunden nördlich von San Francisco. Er ist überrascht, mich zu treffen, da ich ihm drei Wochen zuvor in Berlin nichts von meiner Reise erzählt hatte. Am 19. Mai hatten AFI im Vorfeld des neuen Albums eines von zwei Europakonzerten im Berliner Magnet Club gespielt. Fans aus ganz Europa waren an diesem Tag in Berlin, die Tickets für die Show nach wenigen Tagen schon ausverkauft. An diesem Abend nun haben besagte Freunde zum ersten Mal das legendäre Phoenix-Theater in Petaluma restlos gefüllt. Hunter erzählt mir bei dieser Gelegenheit, dass einer der schönsten Momente mit AFI für ihn der erste ausverkaufte Abend im Phoenix gewesen war. Nicht einmal das Konzert vor 14.000 Leuten in Manchester 2001, als man in Europa zusammen mit THE OFFSPIRING unterwegs war, reiche da heran.

Ich frage Hunter, wie er AFI musikalisch einordnen würde, und bekomme nach einer kurzen Pause als Antwort: "Rock." Die Band habe ihre Wurzeln definitiv im Punk, habe sich seitdem aber immer weiterentwickelt. "Aber es macht keinen Sinn, da noch weitere Begriffe erfinden zu wollen, letztendlich ist es Gitarrenmusik, und das ist eben Rock." Wobei auch bei dieser Definition einige Abstriche zu machen sind. AFI benutzen auf dem neuen Album viele Elektroklänge, mal deutlich zu hören, mal im Hintergrund als Verfeinerung des Sounds. Bei der immer wieder zitierten Weiterentwicklung gehe es der Band nicht nur darum, sich bei jeder Veröffentlichung mit einem neuen Sound zu präsentieren, für Hunter ist es auch wichtig, sich als Musiker zu entwickeln. In den letzten Jahren habe es Jade Puget, dem Gitarristen, und ihm besonders gefallen, mit kleinen Elektrosamples zu experimentieren. Neu ist dabei, dass sich die Band bei "Decemberunderground" dafür zum ersten Mal Hilfe von außen holte.

Was war denn diesmal sonst so anders bei den Aufnahmen? Im Vorfeld hatte man sich soviel Zeit wie noch nie für das Schreiben von neuen Songs genommen. Ergebnis waren über hundert verschiedene Songideen, von denen man sich die besten zwanzig ausgesucht und weiter bearbeitet hat, bevor dann fünfzehn in neun Monaten im Studio aufgenommen wurden. "Wir wollten uns dieses Mal richtig Zeit lassen und nichts überstürzen. Nach ?Sing The Sorrow' haben viele gefragt, ob das Album noch zu überbieten wäre. Es wäre verkehrt gewesen, da schnell ein weiteres Album nachzuschieben. So was mag zwar im Sinne von Plattenfirmen sein, aber als Musiker erweist man sich damit keinen Gefallen." Stattdessen wollte man nichts überstürzen. Ziel sei es dabei aber nicht gewesen, das vorherige Album zu überbieten, sondern einen Nachfolger aufzunehmen, mit dem die Band zufrieden sein konnte.

Nach der erfolgreichen Zusammenarbeit mit Butch Vig und Jerry Finn am letzten Album war es nur logisch, wieder mit diesen beiden Produzenten ins Studio zu gehen. Allerdings stand der ehemalige NIRVANA-Produzent Vig diesmal aus terminlichen Gründen nicht zur Verfügung, so dass Jerry Finn, der auch schon BLINK 182 und GREEN DAY produziert hat, diesmal alleine hinter den Reglern stand.

Ich frage Hunter noch, was er von den vielen AFI-Fans hält, die versuchen wie Sänger Davey auszusehen und ihn bisweilen mit dem Verbrauch von Maskara sogar übertreffen. Er lacht und antwortet, dass dieser Goth-Look einfach Daveys und Jades Ding sei. Besonders für Davey würde Schminke zu seiner täglichen Garderobe gehören. "Fans suchen sich immer irgendwelche Verhaltensmuster ihrer Idole zur Nachahmung. Ich finde es nicht schlimm, dass viele Jugendliche zu unseren Konzerten geschminkt kommen. Kritisch werden solche Nachahmungen erst dann, wenn Jugendliche versuchen, den Alkohol- und Drogenkonsum ihrer Helden zu überbieten. Bei Davey, der straight ist, ist es nur etwas Farbe im Gesicht. Außerdem, manchen steht es auch wirklich."

Am Tag darauf wird es Zeit, nach Deutschland zurückzufliegen. Als wäre das Wetter perfekt auf die Promo-Daten von AFI abgestimmt, sehe ich kurz vor meinem Abflug noch etwas von der Sonne Kaliforniens.

Zoltan Pinter


Anmerkung: Die Treffen fanden in der beschriebenen Form nicht 2006 statt. Grundlage des Textes ist hauptsächlich ein Telefoninterview mit Bassist Hunter Burgan. Hinzugefügte Teile entstammen früheren Begegnungen mit der Band.