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ERNTE 77

Gruß aus der Küche

Irgendwie zu Unrecht immer ein bisschen übersehen, sind ERNTE 77 in den über zehn Jahren ihres Bestehens zu einer verlässlichen Größe gereift. Der Bekanntheitsgrad könnte eigentlich gern größer sein, wie das neue Album „Gruß aus der Küche“ eindrucksvoll belegt. Denn hier bringen Kalle, Kilian und Baum ihre Stärken ziemlich fokussiert auf den Punkt. Kernkompetenz der drei Kölner ist ihre Eigenständigkeit, was zunächst platt klingen mag. Hier kommt aber etwas zusammen, was sonst keine Band vereint: Musikalisch an melodischem, poppigem Punkrock à la BAD RELIGION geschult, sind es vor allem die nerdig-abstrusen Texte und die in Kalles Gesang herrlich schräg gedehnten Silben, die ERNTE 77 auszeichnen. Eine Kombination, die auf echte Straßenpunker:innen genauso abschreckend oder eben faszinierend wirken mag wie auf TURBOSTAAT hörende Intellektuelle. Nicht unbedingt einfacher macht es die inhaltliche Spannbreite, die vom herrlichen Nonsens bis hin zu ernsthaften politischen Songs reicht. So stehen der „Bares für Rares“-Reminiszenz „80 Euro“ oder der Helikopter-Hymne „Faszination Hubschrauber“ Songs wie das reflektierte „Wahrheit oder Pflicht“ oder „Das Konzept Deutschland ist mir zuwider“ gegenüber. „Ampeln beschimpfen“ wiederum vereint beide Seiten der Band und lässt sich doppeldeutig im reinen Wortsinne oder als Betrachtung populistischer Regierungskritiker:innen lesen. Über die letzten Alben hinweg ist das Trio jedenfalls deutlich ernsthafter geworden. Und das steht der Band gut. In „Vanlife“ und „Schatten ohne Tag“ zeigt sich Basser und Sänger Kalle als präziser, wortgewandter Beobachter, mit einem Blick für die Absurditäten des Alltags. „Kafka und Zigaretten“ zitiert den gleichnamigen Autor und stellt eine selbstironische Brücke zu den eigenen Texten her. Die ist gar nicht so weither geholt. Denn das Skurrile, das Hinterfragen des „gesellschaftlichen Mainstreams“ zelebrieren auch ERNTE 77 in ihren Miniaturen. Mindestens ebenso passend ist die Auswahl eines Gemäldes des finnischen Malers Hugo Simberg für das Cover. Auch bei Simberg ist die Morbidität durchtränkt von bizarrem Humor. Bei ERNTE 77 on top: Genügend pop- oder punkkulturelle Querverweise („Schatten ohne Tag“ – das kennt das Alt-Punk-Herz doch so ähnlich!) und für Studipunks auch ausreichend Fremdwörter zum Nachschlagen. „Purgatorium“, „Litanei“ – keine Sorge das Dosenbier schmeckt trotzdem. Denn wem das zu viel Kulturwissenschaft ist, der oder die freut sich über die hedonistische Tretmühle in Songs wie „Saufen gegen Psychosen“ oder „Kostenfalle Ballern“. Wer ERNTE 77 aufgrund der lustigen Art bisher fälschlicherweise mit quatschigem Fun-Punk verbindet, hat jetzt die Möglichkeit, mit dem Vorurteil aufzuräumen.