Vielen Dank an Patrick Wagner, dass ich dieses Album nicht vorab anhand eines lausigen Streams besprechen musste, sondern nach der Veröffentlichung die Doppel-LP-Box inklusive Buch zur Verfügung gestellt bekam. Dieser Text ist der letzte, der für dieses Heft geschrieben wurde. Weil ich seit Wochen um dieses Album herumschleiche, wie ich das immer mache, wenn ich es mit einer speziellen Platte zu tun habe. Ringen mag ich nicht, aber ich mag das Bild, wie sich zwei Ringer umschleichen, ich der eine, das Album der andere: Wie zu fassen bekommen, wie bezwingen? Und so sitze ich da, habe „Paradies“ zigmal gehört und ringe (ha!) immer noch um Worte ... Es ist ein mächtiges Stück Musik geworden, das GEWALT aus Berlin da geschaffen haben. Sechs Jahre nach der Gründung, neun Singles und eine Remix-12“ später endlich das Album. In einer schwarzen Box. Als Doppel-LP – auf der einen „Paradies“, auf der anderen die Songs der Singles, als Komplettierung, zwecks Hinführung zum Album – und ergänzt um ein Buch im LP-Cover-Format, betitelt „Paradies: Gewalt“. Ein Buch, das nicht wirklich die Linernotes liefert im Klartext-Sinne, in dem Patrick Wagner aber „eine Geschichte, eine kleine Anekdote, eine Theorie oder Beobachtung [...] eine Randnotiz, mal eine Kurzgeschichte, mal eine Spinnerei“ niedergeschrieben hat. Auch autobiografisch? Gut möglich, teils wahrscheinlich, wenn man in Interviews mit ihm hineinliest, die Vorgeschichte mit Kitty-Yo, SURROGAT, etc. kennt. Fehmi Baumbach hat die Texte illustriert, und ich kehre hier zu meiner Wertschätzung des physischen Produkts zurück: der intensive Eindruck, den es braucht, um diesem Album näher zu kommen, stellt sich erst ein in Kombination des akustischen, visuellen und haptischen Erlebens, davon bin ich überzeugt. „Paradies“ entstand 2020/21, die Schöpfungsgeschichte dazu: „20 Tage Lieder schreiben in Berlin. 12 Tage Aufnahme (live, analog, ungeschnitten) in Hamburg im Clouds Hill Studio mit Sebastian Muxfeldt. 10 Tage Mischen in New York mit Alexander Almgren im Freshly Baked Studio. 5 Tage Mastern in Mannheim mit Christian Bethge.“ GEWALT sind hier DM1 (dr, ein alter Freund von Doktor Avalanche), Jasmin Rilke (bs, voc), Helen Henfling (gt) und Patrick Wagner (gt/voc). Kathartischer, dystopischer Elektro-Rock, der ohne SUICIDE und BIG BLACK undenkbar wäre, der im 10+ Minuten wabernden Killer-Titelsong die famosen ALIEN SEX FIEND („I walk the line“ in fast endlos) aufgreift, der mit „3:35“ auch einen Song „außer der Reihe“ bringt, zwischen „Kalte Sterne“ und „No rest“. Speziell „Paradies“ ist ein faszinierender Trip, der umgehend süchtig macht – man ahnt die Gefahr, die live von diesem ausgehen wird. Ein mächtiges Album, ein gewaltiger Aufschrei – und die bange Frage: Was soll da jetzt noch kommen?
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