GEWALT

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Die erdrückende Allgegenwart von ...

2016 wurden GEWALT aus Berlin gegründet, erst 2021 und mitten in der Pandemie kam von der bis dahin „nur“ zahlreiche Singles veröffentlichenden Band das Debütalbum „Paradies“. Und nun also, nach drastisch weniger Zwischenalbenoutput, das zweite Album „Doppeldenk“, mit dem sich Helen Henfling, Jasmin Rilke und Patrick Wagner zu einem guten Teil neu erfunden haben und Patricks Wortgewalt (!) auf einem musikalisch anderen, aber immer noch intensiven Fundament stattfindet.

Eines der wichtigsten Werke der Weltliteratur ist zweifellos „1984“ von George Orwell. Inwiefern ist euer Albumtitel eine Würdigung dieses Romans?

Helen: Unser Albumtitel ist eine Hommage an dieses Buch, weil es so stark den aktuellen Zeitgeist widerspiegelt. Die Beschreibung der totalitären Kontrolle und Zensur – Themen, die leider nach wie vor relevant sind. Da wundert man sich nicht, dass das Buch in der Vergangenheit in vielen Ländern verboten war, darunter die ehemalige Sowjetunion und Nordkorea, und in einigen autoritären Staaten wie Belarus immer noch nicht erlaubt ist. Auch krass finde ich, dass nach der Wahl von Donald Trump im November 2016 „1984“ einen deutlichen Anstieg der Verkaufszahlen erlebte und im Januar 2017 auf vielen Bestsellerlisten stand, einschließlich der New York Times. Das zeigt, wie aktuell und beunruhigend Orwells Ideen auch heute noch sind. Es ist alarmierend, wie sich bestimmte Aspekte der Geschichte von „1984“ zu wiederholen scheinen.

Und was führte von der Geschichte von „1984“ zur Verwendung des Konzepts und Begriffs „Doppeldenk“ als Albumtitel?
Helen: Ich finde, das ist dieses mulmige Gefühl, das man heute in sich trägt und das sich unbewusst in Kreativität umsetzt. Die Nachrichten gleichen zur Zeit – oder eigentlich schon seit der Pandemie – einem harten Psychothriller. Allein Alice Weidel und ihr Privatleben sind schon eine Form von Doppeldenk. Man kann das auch auf alle Klimawandel-Kritiker und -Leugner übertragen. Die Gletscher schmelzen, die Meere sind krank ... aber wir haben damit nichts zu tun: Doppeldenk! Ein gutes Beispiel für dieses Doppeldenk ist auch Donald Trump. In dem Gespräch mit Elon Musk kürzlich, in dem er meinte, dass steigende Meeresspiegel lediglich „mehr Grundstücke am Meer“ schaffen würden, und behauptete, die größere Bedrohung sei „nukleare Erwärmung.“ Einfach nur wow! Allein dieser Dialog ist natürlich absolut schräg, aber eine Steigerung ist definitiv, dass Musk, der normalerweise den Klimaschutz unterstützt, Trumps Aussagen nicht widersprach, was die Widersprüchlichkeit dieses „Gesprächs“ noch verrückter macht.

Ich weiß, Fragen nach dem Bandnamen sind lahm, aber ich finde, eurer ist so ein permanenter „elephant in the room“ durch seine Bedeutungsdimensionen und durch die häufige Verwendung des Wortes im Alltag, im politischen Diskurs der Gegenwart. Überall ist ... GEWALT. Würdet ihr den Namen heute wieder wählen?
Patrick: Schön ausgedrückt „ein permanenter elephant in the room“. Die Allgegenwart von Gewalt ist natürlich erdrückend. Als Bandname ist es Fluch und Segen zugleich. Auf der einen Seite kann jeder Mensch etwas damit anfangen und das Wort an sich knallt. Auch inhaltlich gesehen, also beim Komponieren und der Produktion oder beim Spielen auf der Bühne, formuliert der Begriff „Gewalt“ eine Art gesundes Dogma, nicht in die Beliebigkeit abzurutschen, die wir momentan in der Popmusik, vor allem der deutschen Popmusik finden. Auf der anderen Seite verschließt das Wort auch Türen. Journalist:innen wie auch potenzielle Hörer:innen gehen immer davon aus, wenn sie mit Gewalt konfrontiert sind, dass es um diese oberflächliche, physische, „Neue Deutsche Härte“ der Gewalt geht. All das ist uns zuwider. Vielmehr formulieren wir innere Abgründe, Ängste und Zerrissenheit. Darüber hinaus werfen wir einen hyperrealen Blick auf eine spätkapitalistische Gesellschaft, die den Menschen aus dem Fokus verliert. Die GEWALT’sche Gewalt verkörpert eher Intensität und Spannung als „Hau den Lukas“ und spilled blood. Das wird oft verwechselt.

In „Egal wohin der Wind dich weht“ zitiert ihr Rio Reiser mit dem Satz „Halt dich an deiner Liebe fest“ – und einen Song später AL BANO & ROMINA POWER mit „Felicità“ ... Was hat es damit auf sich ... und welche anderen Easter Eggs habt ihr noch im Programmcode eures Albums versteckt?
Patrick: Schön, dass du das raushörst. Bei „Egal wohin der Wind dich weht“ war es einfach eine Eingebung: Mir wurde klar, wie nah Liebe und Lüge doch beieinander liegen – nicht nur lautmalerisch. Und wie sehr sich Menschen an ihre Lebenslügen klammern. Wenn ich Menschen sage, meine ich übrigens in erster Linie mich selbst. Bei „Felicita“ war es eine echte Geschichte ... Dieser weibliche Crackhead hat wirklich das Lied gekrächzt, während der fünfjährige Junge seine Mutter fragt, was das denn ist, dieses felicità, seine Mutter aber anstatt zu antworten durch Urlaubsbilder scrollt. Die Szenerie war extrem erschütternd und hatte in ihrer Niedrigkeit auch eine zerbrechliche Anmut. Daraus hab ich dann im Lied diese Felicita als allgemeinen „Sehnsuchtsort“ definiert. Absurd auch, dass ich mich nicht trauen durfte, den Jungen aufzuklären, da man ja als erwachsener Mann in der S-Bahn nicht einen Fünfjährigen ansprechen kann. Auch das ist sehr Doppeldenk. Als weiteres Easter Egg fällt mir eigentlich nur der Abschluss-Song des Albums ein. In „Ne ne, alles gut“ zitieren wir den wundervollen, kürzlich verstorbenen Regisseur Reneé Pollesch, indem wir einen Fußballstadionchor „Ja, nichts ist okay“ brüllen lassen, was dieses elendige allgegenwärtige und passiv-aggressive „Ne ne, alles gut“ endlich auflöst.

Patrick, im Bandinfo kommt der Satz vor „Die Lebensumstände des Texters Patrick Wagner mögen sich in den vergangenen Jahren stabilisiert haben ...“ Den finde ich irgendwie ... hart. Ist dein Leben heute stabiler, besser, glücklicher als (je) zuvor – und „darf“ man das „in diesen Zeiten“ überhaupt fühlen, denken, sagen?
Patrick: Da kommen wir zu den Vorteilen, GEWALT zu sein. Wir fühlen uns in unserer Musik und Texten komplett frei. Wir müssen nichts erfüllen. Das heißt, wenn wir einen lebensbejahenden Popsong wie „Ein Sonnensturm tobt über uns“, der eine Art Liebeserklärung an die Menschheit ist, schreiben wollen, dann tun wir das. Und ja, wir fühlen uns auch privilegiert, dass wir Musik machen, damit auf der ganzen Welt spielen können und scheinbar überall Menschen erreichen. Da muss man bei aller Schwierigkeit, die diese Art zu leben mit sich bringt, auch ein Stück Glück zulassen. Auch die Tatsache, dass man mit Leuten zusammenarbeitet wie Clouds Hill, oder unsere Booking-Agentur Dead Pig. Die machen GEWALT ja nicht, weil sie damit ihre Eigentumswohnung finanzieren wollen, sondern aus Liebe zur Musik. All das ist nicht selbstverständlich und kann innerhalb eines Moments auch wieder weggewischt sein.

Ich versuche mir immer vorzustellen – als Nicht-Musiker –, wie man an die Konzeption eines Albums herangeht. Meine naive Vorstellung ist, dass es eine Idee gibt, wie das Album klingen und sein soll und wie nicht. Wie ist das bei euch und was für Ideen habt ihr im Vorfeld ausgetauscht?
Jasmin: Wir haben uns ein bisschen an „Paradies“ orientiert. Nicht klanglich oder musikalisch, sondern eher, dass wir in den Songs nach Schwachstellen gesucht haben, was man Struktur und Arrangement betreffend besser machen kann. Wir haben uns auch inspirieren lassen von Leuten, die wir als geschmackssicher einstufen und extrem viele Konzerte von uns gesehen haben, so haben wir uns auch leiten lassen zu versuchen, dass die Songs auch live gut funktionieren. Das wird sich jetzt zeigen. Beim Prozess beim Aufnehmen im Studio wollten wir dieses Mal auch unbedingt eine Person dabeihaben, die uns nicht nur aufnimmt, sondern auch eine produzierende Rolle einnimmt, die die Songs von außen beurteilen kann und uns leiten konnte, wenn wir mal komplett auf dem Holzweg waren.

Das Saxophon war in der Pop- und New Wave-Musik der 1980er omnipräsent und nicht wenige Leute finden es gar nicht mal so gut – ich schon. Wie und warum hat es den Weg in eure Musik gefunden?
Helen: Nicht jeder steht drauf – ich mittlerweile schon. ROXY MUSIC oder George Michael haben das Saxophon echt cool eingesetzt. Also warum nicht ein bisschen Pop in unseren Sound bringen? Auch wenn wir oft als Noiserock-Band abgestempelt werden, was nicht ganz passt, wollten wir einfach mal was Neues ausprobieren und unseren Sound aufpoppen.

Es heißt, es habe im Vorfeld dieses Albums ein „Gitarrenproblem“ gegeben und ein gewisser „Roland“ sei in euer Leben getreten. Das würde mich mal genauer interessieren ...
Helen: Na ja, Problem ist irgendwie nicht das richtige Wort dafür. Es war eher eine Abneigung allgemeiner Gitarrenmusik. Was natürlich bei unserer Band extrem ungünstig ist. Also das „Problem“ lag zu 100% an mir. Ich hatte keinen Bock auf Gitarre. Das lag vielleicht an dem Sound der Gibson Paula oder auch an der „unendlichen Tour“ 2023. Wie auch immer. Ich habe dann mit dem Roland 303 experimentiert und das hat mir Spaß gemacht und zeigte uns auch stilistisch neue Wege. Allerdings war das „Problem“ bei unserer zweiten Songwriting-Phase auch nicht mehr ganz so extrem. Vielleicht weil sich die Songs in eine andere Richtung bewegten.

Für eine Band, die schon seit 2016 existiert, sind zwei Alben gar nicht mal so viel. Neben Singles kam 2021, mitten in der Pandemie, „Paradies“. Trägt für euch das Albumformat noch?
Jasmin: Also das mit „Paradies“ während der Pandemie war ja gar nicht so geplant, das ist ein bisschen zufällig passiert. Wir wollten eigentlich ein paar Singles machen, haben fünf Songs aufgenommen und uns dann recht spontan dazu entschlossen, einfach noch mal fünf Songs zu machen, und dann wurde es halt ein gebündeltes Album. Zu der Zeit hat das mehr Sinn ergeben irgendwie. Schön ist beim Albumformat natürlich auch, dass man solche Spielereien wie eine Doppel-LP und ein Buch mit Bildern und so Zeugs mit einbinden kann. Ich denke, bei „Doppeldenk“ wollten wir uns vielleicht auch selbst ein bisschen zeigen, dass das erste Album doch nicht so komplett Zufall war und wir schon auch im Rahmen eines Albums Songs zusammenklopfen können, wenn wir wollen. Ich denke, dass uns das hier sogar besser gelungen ist als beim ersten Mal. Für die Zukunft muss man weitersehen, wir haben sie schon vermisst, die Schnelligkeit der Singles ...

Gibt es auf dem Album den einen oder die zwei, drei Momente, wo ihr sagen würdet, das ist die pure Essenz unserer Band?
Patrick: Auf jeden Fall, der Moment bei „Schwarz Schwarz“, wenn erst der Gesang einsetzt zu dem Monstergroove und Basslauf und dann die Gitarre antwortet. „Ich kann mich nicht finden im Wimmelbild“, DetDet Det Det De DeDet, „Alles wird anders und ich immer gleich“. Das ist einer dieser Momente, sehr tanzbar und energetisch und gleichzeitig ultra dunkel. Oder wenn das Saxophon einsetzt bei „Sonnensturm“ – unglaublich schön.

Über 120 Konzerte habt ihr seit dem letzten Album gespielt, heißt es. Was macht dieses wiederholte Aufführen eurer Musik mit euch, mit der Musik? Was für Veränderungen und Routinen schleichen sich da ein? Und was ist der „common ground“, den man ja sicher haben muss, damit die Menschen, die zu den Konzerten kommen, ungefähr das bekommen, was sie erwarten ...?
Jasmin: Es gibt Sicherheit. Auf die Maschine ist Verlass, sie bleibt immer gleich. Irgendwann fängt das Material an, sich wie eine zweite Natur zu spielen, und man wird frei und flexibel. Man muss sich nicht mehr aufs Spielen konzentrieren, sondern kann sich auch selbst zuhören. Routine kann jedoch auch dazu führen, dass man sich ab und zu neu inspirieren muss, um die Energie und Frische in jedem Konzert zu bewahren. Das passiert oft durch kleine Änderungen in der Setlist, oder durch die Energie des Publikums. Mir ist ehrlich gar nicht so klar, was der common ground ist, was Leute vom GEWALT-Konzert erwarten, alle nehmen komplett unterschiedliche Sachen daraus mit. Das geht von uns hassen bis tanzen bis vor Rührung den Tränen nahe zu sein. Uns hilft es definitiv, das alles abzuliefern, wenn wir einen entspannten Soundcheck hatten und das Abendessen nicht wieder das 200. „weltbeste Curry der Stadt“ vom Tobi, der Praktikum an der Garderobe macht, gewesen ist, hehe, und man das Gefühl bekommt, es hat sich jemand um die Veranstaltung ein bisschen gekümmert.