Präzise, reich an Metaphern – so ist die Sprache hier, obwohl Blixa Bargeld im Song „Möbliertes Lied“ davon singt, dass die verbrauchten Metaphern im Giftmüll entsorgt wurden. Mutig und offen sezieren EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN auf „Alles in Allem“ im vierzigstem Jahr ihres Bestehens die Hauptstadt Berlin. Die zehn Songs liegen im Spannungsfeld von Liebeserklärung, Erinnerungsverarbeitung und einem Autopsiebericht zur Lage der Stadt. Es gibt keine Ruinen oder Trümmer, keinen Staub über Maschinenlärm und Presslufthämmern, nur die Erinnerung, und die liegt nicht in Trümmern. Es geht um Selbstreinigung und darum, alte Geister zu vertreiben, mit Stimmen und Klängen, die oft versöhnlich und melodiös, nicht kakophonisch sind. Textlich läuft Blixa Bargeld zur Hochform auf. Der Band war das freie Assoziieren mit Worten wichtig. Das vor einiger Zeit von ihnen entwickelte Kartenspiel „Dave“ kam im Entstehungsprozess oft zum Einsatz: Die Bandmitglieder zogen aus einem Fundus von 600 beschrifteten Karten einzelne heraus und entwickelten musikalisch inspiriert auf Basis der vorgefundenen Begriffe die Songs. Im Stück „Am Landwehrkanal“ singt Blixa: „Wir hatten tausend Ideen und alle waren gut.“ Das trifft es im Kern. „Taschen“ ist ein wunderbarer Song mit Streichern und erinnert wohltuend an das tiefgründige „Stella Maris“ (1996) mit Meret Becker, in dem es erneut um Träume geht, um das gefräßige Ungetüm Traum, in dem man nichts sucht und nichts findet, vielleicht nur wartet. Für den Opener „Ten grand goldie“ hat Blixa Bargeld Fans um Worte und Gedanken gebeten: Welches Wort in deiner Sprache gefällt dir ganz besonders? Welchen Satzfetzen hast du zuletzt aus dem Mund eines anderen Menschen aufschnappen können? In „Grazer Damm“ schreitet er durch einen Traum, der ihn in seine Kindheit führt, welche er im Südwesten von Berlin verbrachte. Der Grazer Damm ist die Heimat einer deutlich erkennbaren Architektur des Nationalsozialismus, was im Text zu einer Vermischung von Traum und Historie führt. „Am Landwehrkanal“ handelt vom Tod Rosa Luxemburgs im Jahr 1919, ihrer Ermordung im Eden Hotel und der Versenkung ihres Körpers im Landwehrkanal (wo sie erst Monate später gefunden wurde). In „Tempelhof“ wird das Pantheon in Rom beschrieben, welches sich dann mit dem still gelegten Flughafengebäude in Berlin verbindet. Der „Symbolismus“ und die Offenheit für individuelle Interpretation bestimmten die Texte, als ob eine eigene Kunstform geschaffen wurde „Alles in Allem“ erscheint im Jahr der Ratte nach dem chinesischen Horoskop, dem Symbol für Einfallsreichtum und Vielfältigkeit. Was könnte besser zu EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN passen? Fast auf den Monat genau kommt das Album passend zum siebzigsten Todestag von Kurt Weill. Er hätte diese Texte über „sein“ Berlin geschätzt.
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