Berliner Krankheit, geniale Dilettanten, Zerfall und Zerstörung - das waren Schlagworte aus den Anfangstagen der Neubauten, denn das Instrumentarium bestand aus Schrott- und Alltagsgegenständen, wie Bohrmaschinen, Metallteilen sowie ungestimmten Gitarren. Später fand der Untergangssoundtrack den Weg in die Theater und nach über zwanzig Jahren sind auch Vibraphon, Hammondorgel und Streicher dazugekommen. Mit „Alles wieder offen“ liegt nun wieder ein „richtiges“ Album vor. Unabhängig vom Blixa Bargeld/Neubauten-Interview in Ox #74 (geführt vom Kollegen Chris Wilpert), habe ich mich deshalb Ende September mit Alexander Hacke in Berlin getroffen.
Zum neuen Album „Alles wieder offen“ habe ich eigentlich keinen speziellen Fragenkatalog. Gibt es dazu Fragen, auf die du gerne antworten möchtest?
Es gibt welche, auf die ich nicht gerne antworten möchte. Da gibt es eine Frage, die ich in letzter Zeit häufiger beantworte: „Na wenn jetzt alles wieder offen ist, was war denn dann zu?“ Hast du die Platte denn gehört?
Ja, ich habe sie gehört ...
Womit wir nicht klarkommen, sind Ansagen, wir wären soft geworden, oder das wäre jetzt etwas ganz anderes. Das hat eine so sensationalistische Erwartungshaltung, die man auch gerne nicht befriedigt.
Na ja, es sind schon ruhige Stücke drauf, die man erst mal so nicht erwarten würde. Natürlich gibt es auch diese krachigen Stücke, die auch auf ältere Platten passen würden. Vor ein paar Tagen habe ich ein altes Zitat von Blixa Bargeld gelesen, da sagte er sinngemäß: Vier Jahre noch und dann ist Schluss! Das mündete dann schließlich in dem Motto „Tanzend in den Untergang - wir machen alles kaputt“.
Zum einen waren wir immer extrem dynamisch. Es gab also immer beides. Und das andere, na ja, gut, das war so eine Geisteshaltung, mit der hat man in erster Linie kokettiert. Ich würde aber nicht behaupten, dass wir jemals eine apokalyptische Geisteshaltung gehabt haben oder so was. Das ist alles letztlich das Resultat von Lebensfreude. Es gibt halt nur unterschiedliche Wege, die auszudrücken.
Ihr macht diesmal alles komplett selber, ohne die Unterstützung einer Plattenfirma. Ihr geht neue Wege mit Hilfe von Supportern. Was steckt dahinter?
In erster Linie hängt das damit zusammen, dass uns die Plattenfirmen die nötige Unterstützung gar nicht mehr geben können. Wir müssen uns auf unsere eigene Kraft verlassen und im Endeffekt müssen wir auch nicht mit irgendwelchen Firmen teilen, mit deren Vertretern man im Vorfeld zum Beispiel über Marktchancen oder Marketing spekulieren muss. Wir haben die Platte produziert mit der Hilfe von Supportern, das sind Unterstützer. Wir haben 2001 eine Website ins Leben gerufen, wo wir angeboten haben, dass, wenn man die nächste Platte der EN im Vorfeld erwerben möchte und deren Produktion insofern unterstützen möchte, man das auf dieser Website tun kann. Da konnte man sich einloggen und einen einmaligen Betrag bezahlen. Dafür bekam man dann eine exklusive Version der Platte zugeschickt. Gleichzeitig konnte man die Band bei der Arbeit auf Webcast, also auf Übertragungen im Netz beobachten und sich mit uns und auch untereinander auf Messageboards, in Foren und Chatrooms unterhalten. Das ist jetzt alles wieder offen. Das neue Album ist jetzt das öffentlich erhältliche Resultat der dritten Phase dieser Aktion. Eigentlich haben wir in den letzten zwei Jahren ja nicht nur diese Platte, sondern zehn Platten aufgenommen. Wir haben gleichzeitig dazu in dieser Arbeitsphase acht Alben unter dem Titel „Musterhaus“ herausgebracht. Die „Musterhaus“-Serie waren so genannte experimentelle Outputs der EN, haha, wenn man so etwas überhaupt sagen kann. Auf alle Fälle sind dies alles Experimente und Projekte gewesen, die das normale Format eines Albums gesprengt hätten. Eins davon heißt zum Beispiel „Stimmen und Chöre“, das sind eben nur Stimmenaufnahmen gewesen. Wir haben eine Platte gemacht nur mit Klavierkompositionen und eine, für die wir unsere ganzen Kassettenarchive aus den frühen 80er Jahren wieder rausgekramt haben und die durchgegangen sind und daraus Teile veröffentlicht und neu zusammengestellt haben. Außer „Alles wieder offen“ gibt es noch ein Album mit dem Arbeitstitel „Jewels“, das wir in dieser Zeit aufgenommen haben. 15 Monate lang haben wir jeden Monat - pünktlich zum 15. - ein fertiges Stück für die Supporter zum Runterladen, online gestellt. Alle diese Stücke basieren auf Dave, einer neuen Kompositionstechnik, die wir einsetzen.
Was ist Dave?
Dave ist ein Kartensystem. Das ist eine große Zigarrenschachtel voll mit kleinen Papierkärtchen und auf diesen Papierkärtchen stehen Anweisungen. Die sind so zusammengekommen: Blixa hat sich einmal eine Woche hingesetzt hat und den gesamten Neubauten-Backkatalog durchgehört. Er hat für jedes Stück, ein oder mehrere Stichworte aufgeschrieben. Was ist das Besondere an dem Stück beziehungsweise was passiert Besonderes in diesem Stück. Also einfach so Sachen wie „Andrew fängt an“, „etwas Dehnbares“, „keine Bassfrequenzen“ oder auch tatsächlich irgendwelche tonalen Angaben. Dave ist das Spiel, was wir spielen. Das haben wir auch oft schon live gemacht für Zugaben. Auf der Bühne wurden ein paar dieser Karten gezogen und diese Karten enthielten dann Anweisungen, die man frei assoziieren kann und einen lehren, was man in diesem Stück zu tun und zu spielen hat. Das ist immer sehr amüsant. So haben wir jedes Einzelne dieser „Jewels“ aufgenommen, das heißt, wir haben vorher diese Karten gezogen und haben dann überlegt, was das bedeuten könnte, was für Musik das sein könnte beziehungsweise was die Aufgabe eines jeden Einzelnen ist. Die Texte von diesen „Jewels“ sind ausschließlich Aufzeichnungen von Blixas Träumen. Also insofern ist dies ein weiteres Konzeptalbum, was wir sicherlich auch in irgendeiner Form veröffentlichen werden, dann für the general public. Insofern waren wir in den letzten zwei Jahren sehr produktiv, wir haben uns alle zwei Monate für drei Wochen getroffen und jeden Tag intensiv gearbeitet.
Ja, das wäre auch meine nächste Frage: Wie macht ihr das mit den Treffen, Blixa lebt jetzt in China?
Zur Zeit lebt Blixa in San Francisco. Er war die letzten paar Jahre in China, in Shanghai und in Peking, jetzt ist er in San Francisco. Wir alle machen unterschiedliche Dinge außerhalb von den Neubauten. Da müssen wir sehr genau planen, wie wir arbeiten. Aber das war so die Vorgabe: alle zwei Monate für drei Wochen - und das haben wir durchgezogen.
Und das ist dann auch die Zeit, während der die Supporter aktiv teilnehmen?
Genau, während dieser dreiwöchigen Arbeitsphasen haben wir dann immer so vier bis fünf Webcasts angeboten, wo man uns dann zweimal zwei Stunden oder zweimal eine Stunde bei der Studioarbeit beobachten konnte beziehungsweise sich mit uns unterhalten. Unterhalten konnte man sich aber auch die ganze Zeit, während so eine Phase läuft. Die erste Phase ging 2004 zu Ende, das war die für die Allgemeinheit erhältliche Veröffentlichung „Perpetuum Mobile“. In der zweiten Phase haben wir keine allgemein öffentliche Veröffentlichung gemacht, da haben wir quasi nur für die Supporter gearbeitet. Da kamen auch eine CD und eine DVD bei raus, die hieß „Grundstück“. Wir sind an zwei Tagen im „Palast der Republik“ aufgetreten. Am ersten Tag nur für die Supporter, und da haben wir auch andere Sachen gemacht als bei dem öffentlichen Konzert am 04. November. Dieses Konzert ist als DVD für jeden erhältlich und heißt „Palast der Republik“.
Habt ihr die Supporter auch aktiv beteiligt?
Wir haben mit den Supportern, die aus aller Welt angereist sind, diesen hundertstimmigen Chor, der auch auf der „Palast der Republik“-DVD singt, zusammengestellt. Also, mit dem haben wir ein paar Tage geprobt. Wir haben die Supporter also auch tatsächlich physisch in die Arbeit integriert.
Gab es dann wiederkehrende Wünsche von den Supportern wie „Mensch, wir wollen mehr Bohrmaschinen“ oder „Macht mal etwas ganz anderes“? War da eine Linie drin?
Ja, natürlich gibt es immer wieder Wünsche, die wir eigentlich immer ignorieren. haha. Nee, ich meine, so ist es nicht. Das ist auch nicht das Selbstverständnis, das die Supporter haben, dass sie quasi Requests, also Musikwünsche abgeben, sondern sie halten sich eigentlich sehr zurück und beobachten, was wir machen, und diskutieren das untereinander. Aus den Diskussionen, die die untereinander haben, kann man mehr lernen als aus den direkten Ansagen oder Nachfragen, die sie bei uns haben. Der einzige wirkliche Effekt in Bezug auf den Inhalt, den man nachweisen kann, ist: In so einem kreativen Prozess bei einem Stück kommt man öfter mal an den Punkt, wo man sagt, da haben wir uns verstiegen, daran arbeiten wir jetzt schon zu lange, die ursprüngliche Idee ist nicht verfolgt worden, Thema verfehlt, das ist langweilig, das schmeißen wir jetzt weg. Und dann gab es halt oft den Effekt, dass sich in so einem Moment, in dem wir so etwas ausgerufen haben oder so etwas beschlossen haben, Hunderte von Leuten zu Wort gemeldet und gesagt haben, nein, das solltet ihr nicht tun, das Stück ist ganz großartig. Wir haben gesagt, warum bitte? Und dann kamen oft Argumente, die zur Rettung eines solchen Stückes beigetragen haben. Ansonsten ist es natürlich unglaublich motivierend, so zu arbeiten, weil man spürt schon die Liebe, wenn man weiß, dass Hunderte, wenn nicht gar Tausende Menschen da draußen sind und sich tatsächlich die Zeit nehmen, online dabei zu sein und an diesen ganzen Diskussionen teilnehmen. Oder eben bereit sind, dieses Geld zu überweisen, insofern versprechen wir ja auch jedem Einzelnen, dass wir eine großartige neue Platte aufnehmen. Das ist ein ganz anderes Gefühl, als wenn du es einer Plattenfirma versprichst, die dir möglicherweise einen Vorschuss gezahlt hat.
Als Supporter kann man jetzt nicht mehr aktiv werden, das ist jetzt abgeschlossen?
Ja, die dritte Phase ist seit vorgestern oder so geschlossen, man kann sich nicht mehr als Supporter anmelden. Und ob es auch eine vierte Phase geben wird, das ist alles wieder offen.
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