Alexander Hacke, seit vierzig Jahren Mitglied von EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN, ist Musiker, Produzent und Komponist von Filmmusik. Daneben veröffentlicht er Platten als Solomusiker und spielt bei verschiedenen Bands, unter anderem CRIME AND THE CITY SOLUTION, und mit seiner Lebensgefährtin, der Musikerin und Künstlerin Danielle de Picciotto, nimmt er außerdem seit Jahren unter dem Namen HACKEDEPICCIOTTO wunderbare Alben im Spannungsfeld von Klangforschung und experimentellen Soundscapes auf. Eigentlich besteht immer ein Anlass, ihm Fragen zu stellen, ganz besonders aber zum neuen EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN-Album „Alles in allem“.
Du bist seit 1980 Mitglied bei EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN. Was reizt und überrascht dich noch bei der Zusammenarbeit in diesem Bandgefüge und was verhindert Routine?
Ich glaube, dass wir alle viel zu unterschiedlich und, jeder für sich, auch viel zu exzentrisch sind, als dass Langeweile aufkommen würde. Andererseits ist es wohl auch ganz gut, dass wir außerhalb der eigentlichen Arbeitsphasen nicht so viel miteinander zu tun haben.
Du hast einmal gesagt: „Provokation öffnet Türen in den Hirnen der Menschen“. Wie schafft man das noch bei EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN, wo man doch vermuten würde, alle Stilmittel der Provokation sind bereits erschöpft?
Um provokant und, besser noch, relevant zu bleiben, muss man sich ständig weiterentwickeln. Eigentlich ist Provokation im herkömmlichen Sinne aber sowieso längst überholt. Schockieren, um wachzurütteln, war vielleicht vor zwanzig Jahren noch wichtig, heute halte ich es für wichtiger, kontinuierlich künstlerische Integrität zu praktizieren, auch wenn das weniger sensationell sein mag.
EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN arbeiten mit der Finanzierungsplattform Patreon zusammen. Was reizt euch daran?
Dass wir nicht mehr alles alleine machen müssen! Als wir 2002 das Modell „Crowdfunding“ mehr oder weniger erfunden haben, wussten wir zunächst nicht, ob es überhaupt funktionieren würde, und mussten in dem Prozess aber auch feststellen, wie unglaublich viel Arbeit es macht, nicht nur die gegebenen Versprechen einzulösen, sondern gleichzeitig auch noch die ganze Infrastruktur zu stemmen.
Mick Harvey hat mir jüngst in einem Interview erzählt, dass es keinen Reiz mehr für ihn hat, in einem Bandgefüge zu agieren, da demokratische Mechanismen, je älter man wird, auch an Grenzen stoßen, und er eigentlich nur noch alleine oder mit ein oder zwei Musikern zusammenarbeitet. Wie empfindest du das? Ist Blixa Bargeld in dieser Hinsicht wie Nick Cave? Also übernimmt er die Führung bei der Entstehung von Songs?
Die eigentliche Magie entsteht ja – zumindest bei uns – erst in der Konstellation der fünf Charaktere. Wäre Andrew nicht Andrew, und würde er nicht machen, oder dann doch nicht machen, was Andrew eben so macht, wäre das etwas ganz anderes und des Namens EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN nicht würdig. Blixa klingt doch wieder ganz anders bei seinen Projekten beispielsweise mit dem italienischen Klangkünstler Teho Teardo und ich ganz anders bei meinen Projekten mit Danielle.
Haben dich die zahlreichen Alben und musikalischen Kooperationen mit Danielle de Picciotto auf gewisse Weise verändert in Bezug auf deine Arbeit und dein Engagement als Musiker bei den EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN?
Uns allen ist klar, dass die Band nach nun vierzig Jahren zu einem vollkommen eigenständigen Wesen herangewachsen ist, das eigenen Gesetzen folgt und ganz eigenen Bedingungen unterworfen ist. Wir fünf dienen lediglich sklavisch diesem Wesen und ich bin unsagbar glücklich, in Danielle eine Partnerin gefunden zu haben, mit der ich, völlig unabhängig von diesem alten Drachen EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN, ganz andere Pfade ausprobieren und mich in Bereiche einer Materie vertiefen kann, für die es bei den Neubauten keinen Platz gibt. Es ist so, als hätte ich mit Blixa und Andrew zwar gelernt wie es geht, aber mit Danielle praktiziere ich dieses Wissen auf so fortgeschrittene Weise, dass es der Arbeit mit EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN nur zugutekommen kann.
Du hast einmal als eines deiner Lieblingsalben der Achtziger eines von PSYCHIC TV genannt. Nun ist Genesis P-Orridge kürzlich mit siebzig Jahren in New York verstorben. Wie hast du das emotional wahrgenommen, wie war deine Beziehung zu ihm? Ich glaube, du hast mal mit Genesis P-Orridge bei einem Projekt von Frieder Butzmann zusammenarbeitet.
Nein, abgesehen von einigen Live-Shows, die ich für PSYCHIC TV gemischt habe, und gelegentlichen spontanen Gastauftritten als Trommler bei deren Auftritten, haben wir nie wirklich miteinander gearbeitet. Trotzdem war Genesis unglaublich wichtig für mich. Wir hatten uns 1979 in Berlin kennen gelernt, als THROBBING GRISTLE bei meinem Mentor Frieder Butzmann übernachtet hatten, und es gab immer eine Verbindung, auch wenn wir uns zuletzt nur noch sehr selten gesehen haben. Ohne Genesis P-Orridge wäre ich jemand ganz anderes.
Du hast vor einigen Jahren ein Album mit David Eugene Edwards, unter anderem Frontmann von WOVEN HAND, eingespielt. Diese Zusammenarbeit war, so habe ich es zumindest verstanden, beflügelt durch seine Beschäftigung mit dem Alten Testament und deiner Affinität zur Kabbala und zum Hebräischen. Religion und Musik, ist das für dich etwas, das gut zusammen funktionieren kann, ohne dass man Gefahr läuft zu „missionieren“?
Organisierte Religion und Musik vielleicht nicht, aber man sollte sich darüber im Klaren sein, dass Musik an und für sich schon Magie ist. Es geht doch um Schwingungen, um Resonanzen. Und egal, welche Art von Musik man macht, macht man ritualistische Arbeit: Es gibt die Phase der Vorbereitung, einen Anfang und ein Ende und dazwischen spielt sich eine Art Psychodrama ab. Was sonst passiert denn, wenn Musik einen emotional erreichen und auf eine andere Ebene transportieren kann?
Bei dem neuen EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN-Album geht es thematisch um die Erforschung des Topos „Berlin“. Du hast Berlin 2010 verlassen, um mit Danielle ein Leben als Weltreisender zu führen. Ich meine, du hast einmal deine Beziehung zu Berlin als eine „Form von Sentimentalitäten und Romantizismen“ beschrieben. Wie hast du „dein Berlin“ von heute im Album verarbeitet?
Die zehn Jahre des Reisens und der damit verbundene transformative Prozess haben nicht nur mich, sondern auch meinen Blick auf den Ort meiner Herkunft verändert. Heute sehe ich mich weniger als unbeteiligtes „Opfer“ meiner Umstände, sondern vielmehr auch als kreativer „Schöpfer“ Berlins. Es ist doch meine Wahrnehmung, ob bewusst oder unbewusst, die die Stadt formt, in der ich meine Wurzeln habe. Mein Selbstbild hat etwas mit Berlin zu tun und darum ist Berlin ohne meinen Blick darauf auch etwas ganz anderes, oder vielleicht gar nicht vorhanden.
Der Albumtitel lautet „Alles in allem“, das klingt nach Zäsur und Lebensresümee. Ist das so bewusst intendiert?
Jede Veröffentlichung, die man mit seinem Namen signiert, ist so ein Resümee. Das Statement ist gemacht, in die Welt hinausgeschickt und kann nicht mehr zurückgenommen werden. Gott sei Dank, denn jetzt kann ich mich anderen Aufgaben zuwenden und muss mich nicht mehr zermartern, ob ich auf diesem Album alles richtig mache. Jetzt steht es für sich und ich werde, auf Gedeih oder Verderb, für immer damit assoziiert werden.
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