Michael Gira und seine Band, die New Yorker Post-Rocker SWANS sind intensiver als viele andere Bands, mit Songs, die sich zwischen mächtiger Brutalität und flüchtiger Eindringlichkeit bewegen, und verstörenden Albumtiteln wie „Public Castration Is A Good Idea“ (1986). Ursprünglich waren sie von 1982 bis 1997 aktiv. Nach ihrer Auflösung gab Gira bekannt, sie würden niemals wieder zusammen spielen, und die MySpace-Adresse der Band heißt bis heute myspace.com/swansaredead. Nach einigen Jahren als Frontmann des Folk-Projekts ANGELS OF LIGHT wollte Gira nun wieder an etwas Gehaltvollerem arbeiten. So ließ er SWANS wieder auferstehen, nahm 2010 ein neues, kraftvolles Album auf, „My Father Will Guide Me Up A Rope To The Sky“, und stellte eine Tour auf die Beine mit verschiedenen langjährigen Partnern wie Norman Westberg – aber ohne Sängerin und Ex-Lebensgefährtin Jarboe. Wir telefonierten vor einem Konzert der SWANS am 25. Februar 2011 in Vancouver.
Michael, über einen deiner neuen Songs, „Eden prison“, hast du gesagt, er leite sich ab von einigen üblen Kindheitserinnerungen. Kannst du das näher erklären?
Ja, als ich ein Kind war, war ich ein Ausreißer. Es ist eine lange Geschichte, auf die ich hier nicht ganz eingehen kann, aber letztendlich landete ich in Israel als kleiner Landstreicher. Und mit 16 landete ich in Israel wegen des Verkaufs von Haschisch im Gefängnis. Es war eine sehr prägende Erfahrung für mich zu realisieren, dass ich älter werde, darin lag im Grunde der Ursprung dafür, dass ich Künstler geworden bin. Ich war in dieser Zelle und blieb dort, während andere Leute kamen und gingen, wie zum Beispiel andere Hippies, die verhaftet und wieder freigelassen wurden. Sie behielten mich einfach da und haben mich nicht angeklagt in den ersten zwei Monaten. Jedenfalls gab es dort eine Bibliothek, und das waren echt herausfordernde, großartige Bücher, und ich fing das erste Mal in meinem Leben an ernsthaft zu lesen. Diese Erfahrung lehrte mich auch, wie wichtig die Zeit ist und die Bedeutung jedes einzelnen Moments – und wie wichtig es ist, sich selber zu verwirklichen, in der kurzen Zeit, die man auf der Erde hat. Es gibt nichts Lehrreicheres, als für lange Zeit in einem eng umgrenzten Raum eingeschlossen zu sein und zu spüren, dass deine persönliche Freiheit komplett beschnitten wurde.
Erinnerst du dich daran, welche Bücher du gelesen hast?
Ich weiß es nach so vielen Jahren nicht mehr ganz genau, aber ich habe auf jeden Fall Jean Genet gelesen und Marquis de Sade. Ich glaube, damals war es auch, dass ich „Die 120 Tage von Sodom“ gelesen habe.
Du sollst auch mal davon gesprochen haben, dass da jemand in einer anderen Zelle sexuell missbraucht wurde.
Da war ein arabischer Junge, der jede Nacht missbraucht wurde, aber es war nicht in einer anderen Zelle. Es waren ehemalige Militärbaracken, mit großen Zellen für viele Menschen. Und dieser Bursche wurde jede Nacht vergewaltigt. Das war im Gefängnis in Jerusalem. Später, als ich wieder in Kalifornien war, versuchte ich zur Highschool zu gehen. Ich ging dort ungefähr ein Jahr hin und es war nur lächerlich, auf dieser kalifornischen Highschool zu sein, nach allem, was ich durchgemacht hatte, weshalb ich die Schule hinschmiss. Ich glaube, ich habe nicht mal mein Junior-Jahr geschafft, und dann habe ich nur noch die ganze Zeit gelesen, beim Arbeiten, bei all diesen wirklich beschissenen Jobs: Dachdeckergehilfe, Klempnergehilfe, ich habe in einer Kunststofffabrik gearbeitet, habe all diesen Scheiß gemacht. Nicht dass irgendwas falsch daran wäre, ein Dachdecker, Klempner, Zimmermann oder was auch immer zu sein – aber das war nicht ich! Letztendlich habe ich einen Test für die Hochschulreife gemacht und bestanden, obwohl ich nie Mathe hatte. Ich habe ihn bestanden, das reichte, um später aufs Junior-College zu gehen. Und glücklicherweise übertraf ich mich da selber, also habe ich es richtig gemacht.
Du sollst in Los Angeles auch mal an einer Kunst-Performance beteiligt gewesen sein, wo ihr etwas aufgeführt habt, wozu auch anonymer Sex mit verbundenen Augen gehörte ...
Ja, genau, ich ging zur Kunstschule und habe bei Performance Art mitgemacht, wofür ich mich zu dieser Zeit interessiert habe, um nicht nur Dinge aus zweiter Hand zu erleben, durch das Fernsehen und die Medien. Das war noch, bevor es Internet und Computer und alles gab, aber die amerikanische Gesellschaft hatte trotzdem angefangen, in einer Art Ersatzrealität zu leben, sogar schon zu der Zeit. Also entwarf ich eine frühe Form von virtueller Welt. Ich zeichnete das Design einer Maske, und man würde damit in ein Fass herabgelassen, in eine Flüssigkeit, die Körpertemperatur hat, vielleicht mit einem Schlauch, der im Hintern steckt, um einen von seinen Exkrementen zu befreien, und einem Schlauch im Mund, die einen füttert. Und man würde dabei das Gefühl für seinen Körper verlieren und alles nur in der Vorstellung erleben. Das hat dazu geführt, dass ich darüber nachgedacht habe, sexuelle Erfahrungen mit einer Person zu machen. die ich nie sehen oder kennen lernen werde. Deshalb kontaktierte ein Freund von mir eine Frau, die an so was interessiert war. Und was wir machen mussten, war, dass jeder seine sexuellen Fantasien auf eine Kassette spricht, was wir an Sex mögen, was wir tun möchten, und dabei versuchten wir, so tief wie möglich in unsere Sexualität einzutauchen. Wir hatten beide die Augen verbunden, waren nackt und saßen uns auf Stühlen gegenüber. Dann hatten wir Sex setzten uns wieder hin und warteten bis es okay war, es noch mal zu tun. Und die ganze Zeit liefen diese Kassetten. Es ist ziemlich peinlich, Ich lud auch X dazu ein und andere Bands, die im Erdgeschoss spielten. Das war in L.A., in Pasadena. Und FEAR spielten, glaube ich, also es gab dort eine Punkrock/Kunst-Connection. Die Besucher konnten runtergehen, den Gig sehen und wieder hochkommen und schauen, was abging.
Wie lange dauerte diese Vorführung?
Wahrscheinlich zwei oder drei Stunden.
Wie alt warst du, als du das gemacht hast?
Das war 1977 oder 1978. Also war ich 23, 24.
Das war, bevor du Musik gemacht hast.
Ja. Ich habe zu der Zeit auch mit einem anderen Freund von der Kunstschule ein Magazin herausgebracht, es hieß „No Magazine“. Es war in etwa wie ein Flugblatt, hatte dieselbe Größe wie der NME oder Village Voice und wurde auf Zeitungspapier gedruckt. Wir sparten genug Geld für jede Ausgabe zusammen und überlegten, wie wir es am besten dafür anlegen konnten. Es gab darin Interviews mit Bands und Sachen über Performance-Kunst und Pornografie, dazu Interviews mit X oder SUICIDE und dazu auf dem Cover pornographische Bilder – bei einer Ausgabe waren es faulende Leichen. Irgendwann hatte ich die Nase voll davon, mitten in der Punk-Szene in L.A. zu stecken, aber selbst keine Musik zu machen, und gründete eine Band. Die Band hatte viele Namen. Sie hieß LITTLE CRIPPLES, aber sie wurde auch STRICT IDS genannt und dann nur IDS. Ich glaube, wir klangen ein bisschen wie WIRE, ein bisschen wie BUZZCOCKS, irgendwie so was. Das ist alles, was ich dazu sagen kann.
Gibt es Aufnahmen aus dieser Zeit?
Nichts, wovon ich weiß.
Hast du nicht auch mit dem Wiener Aktionisten Hermann Nitsch in L.A. gearbeitet?
Ich war nur einer seiner Assistenten, die das Blut von den Performance-Teilnehmern abgewaschen haben. Das war eine tolle Erfahrung für mich. Es fand in einer Art Schaufenster in Venice statt. Er hatte da Kadaver aufgehängt und führte dort seine Rituale durch. Und die Musiker waren Punks aus L.A., Straßenmusiker und dergleichen, die in Hörner bliesen und Flöten. Und er dirigierte sie mit einem großen, schwarzen Metzgerhandschuh. Auf eine Art und Weise war es sehr komisch, da er ein bisschen wie ein kleiner Hitler aussah.
Kanntest du die Wiener Aktionisten schon vorher?
Natürlich, ich ging doch zur Kunsthochschule und hatte davon gelesen. Ich fand es sehr interessant. Schwarzkogler, Günter Brus, Otto Muehl und alle diese Leute. Für mich war das Inspiration – Chris Burden, Vito Acconi, Bruce Nauman, das war die Kunst, nach der ich suchte, als ich noch auf der Kunsthochschule war.
Sprechen wir mal über das neue Album, „My Father Will Guide Me Up A Rope To The Sky“ – ist der Vater im Titel eine Referenz an deinen Vater oder einem symbolischen Vater?
Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich es bin, also „ich, Michael“. Es ist nur ein Satz, von dem ich dachte, dass er gut zur Atmosphäre des Albums passt.
Jarboe ist ja nicht mehr auf dem Album dabei, aber ich finde, wir schulden ihr hier dennoch ein bisschen Platz.
Natürlich. Ja, sie war großartig. Sie war wirklich wunderbar, sie war ja auch meine Lebenspartnerin. Sie hatte einen großen Einfluss auf die Gruppe. Als sie anfing, machte ich ihr Loops und Samples, die sie die ganze Zeit auf einem Sampler abspielen konnte, der „Ensonic Mirage“ hieß, aber eigentlich total scheiße war, weil er jedes Mal auf Tour kaputt ging. Aber es war die bezahlbare Version eines Synclaviers. Darauf konntest du Samples auf einer Tastatur abrufen. Also prügelte sie da einfach darauf ein, wenn wir unsere früheren Sachen spielten, und diese großen Soundbrocken kamen heraus, sie hatte einen großen Verstärker. Als ich sie dann zu Hause singen hörte, wurde mir bewusst, was für eine großartiges Potenzial sie besaß, und ich fing an, mit ihr zu arbeiten und Songs für sie zu schreiben, die sie singen sollte. Und schließlich schrieb sie auch ihre eigenen Songs. Ich setze sie als Kontrast ein zu dem ganzen anderen Kram in unserer Musik. Sie hatte auch mehr Übung als ich, deshalb konnte sie Harmonien einbringen und so was, an die ich nicht gedacht hätte. Aber sie war eine sehr starke Frau und wirklich unerschütterlich. Zu der Zeit gab es in der Rockmusik nur wenige Frauen, speziell wenn die Musik so aggressiv und rauh war wie unsere. Und sie machte sich deshalb auch viele Feinde. Die Leute bespuckten sie oder warfen Scheiße nach ihr, ein Typ hat sie sogar geschlagen. Sie war einfach ein Objekt des Spotts, zuerst jedenfalls, aber sie blieb standfest. Sie ist großartig.
Vermisst du sie also auf der Bühne?
Nein. Das zu wiederholen würde wieder in einen Bereich gehen, den ich hartnäckig vermeiden wollte, als ich die Band wieder aufleben ließ, das wäre bloße Nostalgie. Der Hauptgrund, dass sie in der Band war, war unsere Beziehung. Es war nicht so, dass ich entschieden hatte, dass wir einen Keyboarder oder Sänger brauchten und wir sie vorsingen ließen, sie war einfach da. So ist es passiert. Und jetzt, da das nicht mehr der Fall ist, würde mir das nicht mehr richtig vorkommen. Ich glaube, es wäre für uns beide erniedrigend.
Findet sie es auch okay, dass sie nicht im neuen Line-up dabei ist?
Ich weiß nicht, ich fürchte, sie ist sauer, aber es ist Kunst, ich muss da nicht politisch korrekt sein. Ich will etwas zustande bringen, es ist meine Band, und das war sie schon immer. Sie war sowieso anfangs nicht in der Band. Das mindert keineswegs ihren Wert, weil sie großartig war. Aber als es an der Zeit war, die Gruppe wieder zu beleben, hatte ich keine Bedenken, dass sie nicht da war. Eigentlich war es mir nicht mal wirklich bewusst.
Betrachtest du das neue Album als einen Schritt zurück zur frühen Phase der SWANS?
Na ja, es ist auch ein Schritt vorwärts. Der einzige Weg für mich, als Künstler einen Schritt vorwärts zu gehen, war es, ein bisschen zurückzugehen. Aber das heißt nicht, dass es wie unsere früheren Sachen klingen soll, und es klingt auch nicht wirklich so. Ich verwende nur ein paar Methoden, die ich damals schon benutzt habe, und entwickele sie auf verschiedene Art weiter. Das war etwas, was ich lange nicht gemacht habe. Ich wollte wieder den Rausch erleben, wenn man von einem Strudel aus Sound umgeben ist, der den Körper durchdringt, einen hochhebt und schweben lässt.
Viele Leute gewöhnen sich an die Dinge, wie sie sind, wenn sie älter werden, aber du wirkst eher, als würdest du alles auf eine sehr leidenschaftliche Art vorantreiben.
Ich habe keine andere Wahl. Da ist so was wie eine Wesen in mir, das es mir nicht erlaubt, mich wohl zu fühlen, bis ich nicht Musik, Literatur oder Kunst geschaffen habe. Ich bin unglücklich und fühle mich unvollständig, solange ich das nicht mache. Also muss ich es tun, und ich schätze, weil ich halbwegs intelligent bin, kann ich mich nicht bloß selbst nachäffen. Also versuche ich immer, mich zu verändern. Meine Wunschvorstellung wäre es, in fünf oder zehn Jahren nichts zu tun, außer zu lesen und Geschichten und, Romane zu schreiben – aber vor allem lesen. Aber du weißt ja, dass es selten vorkommt, dass jemand seine Wunschvorstellungen verwirklichen kann. Aber in der Zwischenzeit ist es ein Privileg, mich wieder bei den SWANS einzubringen. Es ist aufregend und ich fühle mich sehr gut dabei.
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