PROTOMARTYR

Foto© by Trevor Nau

Aus Versehen Propheten

„When the ending comes, is it gonna run at us like a wild-eyed animal? / A foreign disease washed upon the beach / A dagger plunged from out of the shadows“. Geschrieben 2019 und derzeit selbstredend überhaupt nicht radiotauglich. Nicht dass PROTOMARTYR mit dem fünften Album „Ultimate Success Today“ neuerdings Wert auf viel Airplay für ihren ruppigen Noisepunk legen würden, einen Slot im entsprechenden Nischenprogramm der BBC hätte man sich aber schon gerne gesichert. Was dieses Jahr sonst noch nicht hingehauen hat, verrät Frontmann Joe Casey.

In der Musikwelt läuft es ja momentan nicht so rund. Wie hat sich das auf euer Bandleben in den letzten Monaten ausgewirkt?

Na ja, wir haben unsere letzte Show am 12. März gespielt und das war auch das letzte Mal, dass ich die anderen gesehen habe. Jetzt ist Ende Juni, wenn die Band ein Leben hätte, dann wäre sie jetzt wohl tot. Wir haben uns nicht getroffen, nicht geprobt, alle unsere Konzerte für dieses Jahr sind abgesagt. Um nicht sofort losheulen zu müssen, kannst du eigentlich nur darüber lachen.

Das geht ja aktuell vielen Musikern so. Wie wird das die Musikwelt verändern?
Gerade bei uns in den USA, wo du eigentlich nur mit Touren Geld verdienen kannst, werden sich viele Musiker neue Jobs suchen müssen, wenn sich bis 2021 nichts ändert. Viele Venues werden schließen müssen, Soundingenieure werden sich anderweitig nach Arbeit umschauen. Wenn das zu lange so weitergeht, wird der Teil der Musikindustrie, in dem wir überleben konnten, komplett ausgehöhlt sein. Es wird nur noch Luxuskonzerte der ganz großen Namen geben, so eine Art Konzertblase. Und kleinere Punk-Shows wird es auch weiterhin geben – was gut ist, ich bin froh, dass das überleben wird. Aber alles dazwischen, also der Teil, in dem wir uns bewegen, könnte jetzt einfach auf der Strecke bleiben.

Hier und da könnte man bei euren Texten schon fast glauben, dass ihr die Situation heute 2019 irgendwie schon vorhergesehen hättet.
Haha, ja. Das Lustigste an der Sache ist, dass die BBC „Processed by the boys“ spielen wollte, aber dafür von uns verlangt hat, den Track noch mal zu kürzen, weil sie ihn zu lang fanden. Wir waren dagegen, unsere Punkideale waren so: Der Song ist eben der Song und wenn sie ihn nicht spielen wollen, sollen sie es lassen. Dann hat man uns doch überredet, ihn auf das passende Format zurechtzuschneiden und letzten Endes hat die BBC die ganz Geschichte abgeblasen, weil darin der Begriff „foreign disease“ vorkam. Sie konnten es nicht im Radio spielen, weil der aktuelle Bezug zu heftig war. Mal wieder einfach Pech gehabt, das ist mir schon mal passiert. Nein, ich bin kein Hellseher, das ist echt nicht sonderlich spaßig.

Wann ist es denn in der Vergangenheit passiert?
Wir haben 2015 einen Song namens „The devil in his youth“ geschrieben und manche Leute haben dann behauptet, es hätte Donald Trumps Präsidentschaft vorhergesagt. Wieder so ein Zufall, ich hätte niemals geglaubt, dass Donald Trump Präsident der USA werden würde, das war ein totaler Schock für mich. Songs schreiben heißt für mich zu reflektieren, was in der Welt um mich herum passiert. Manchmal gewinnt das auch in der Zukunft an Bedeutung. In „Processed by the boys“ geht es beispielsweise um Polizeigewalt und die Übermacht des Staats. Solche Dinge wie ICE [US Immigration and Customs Enforcement, die wichtigste Vollzugsbehörde des Ministeriums für Innere Sicherheit] oder die Border Patrol. Das hat Sinn gemacht, als wir es letztes Jahr geschrieben haben, und macht auch jetzt Sinn. So schreibst du diese futuristischen Sachen, du schreibst über aktuelle Ereignisse, die sich dann einfach in der Zukunft fortsetzen.

Ihr habt euren recht kantigen Klang jetzt um eine angenehm unaufdringlich jazzige Note erweitert. Klarinette, Flöte und Saxophon haben unter anderem ihren Weg auf diese Platte gefunden.
Ja, am Beginn von Plattenaufnahmen hat Greg, unser Gitarrist, immer völlig abgefahrene Ideen. Die klingen zunächst recht verrückt, aber er braucht das, um mit der Arbeit anfangen zu können. Wenn dein Gitarrist sagt, er möchte ein Jazz-Album machen, ist das natürlich schon ein bisschen beängstigend – ich habe wirklich schon viele miese Jazzrockfusion-Alben gehört. Ich wusste also nicht, ob wir das stemmen können. Er wollte sich aber nicht in Jazzklischees verlieren, sondern suchte nach der idealen Mischung aus Elementen, die uns in der Vergangenheit schon mal weitergeholfen haben. Als wir für die letzte EP mit Kelley Deal von den BREEDERS zusammengearbeitet haben, hat sie ein paar Freunde eingebunden, Streicher, einen Klarinettisten, das hat dem Song so viel gegeben. Das war ein gutes Beispiel dafür, wie die Kollaboration mit anderen den eigenen Klanghorizont erweitern kann. Du darfst natürlich nicht glauben, du selbst könntest plötzlich Jazz spielen, aber du kannst jemanden mit ins Boot nehmen, der das draufhat und dem Song damit eine neue Dimension hinzufügen kann. Es hat sich gelohnt, diesen Weg zu gehen, Greg hat das wirklich großartig durchgezogen.

Gab es sonst noch etwas, das auf diesem Album anders gelaufen ist als sonst?
Der größte Unterschied ist eigentlich, dass so viel Zeit zwischen diesem Album und dem Vorgänger liegt, weil wir einfach so viel auf Tour waren. Und wir sind keine Band, die unterwegs Lieder schreiben kann. Als wir dann endlich angefangen haben zu schreiben, waren wir schon ein wenig besorgt, ob wir es überhaupt noch draufhaben. Textlich gesehen wollte ich wieder ein Stück weit zurückgehen zu unserem ersten Album, auf dem die Lyrics noch sehr spontan waren. Ich wusste damals einfach nicht, was ich tat, im Nachhinein finde ich das aber irgendwie echter. Also habe ich versucht, meine Lehren aus dem Schreiben der späteren Alben mit dieser fast schon aufregenden Beschränktheit zu verbinden. Ich habe also mehr darüber geschrieben, wie ich mich zu einem bestimmten Zeitpunkt fühle, und mir dabei weniger Gedanken darüber gemacht, wie es klingt oder ob die Wörter passen. Einen Song wie „Tranquilizer“ wollte ich möglichst authentisch und unverfälscht rüberbringen, als eine Art Bewusstseinsstrom. Auf dem ersten Album waren manche Texte komplett spontanes Kauderwelsch, das ist natürlich riskant. Aber wenn dein Hirn Schmerz fühlt, äußert sich das auch in einer Art Kauderwelsch, also kann man das textlich machen, wenn es sich einfach nicht anders ausdrücken lässt.

Nach dem geifernd die Zähne fletschenden Hund auf eurem zweiten Album „Under Color Of Official Right“ hat es jetzt wieder ein Tier auf das wie immer von dir selbst gestaltete Frontcover geschafft. Nun ist es ein Maultier. Was hat es damit auf sich?
Auf dem zweiten Album wollte ich was richtig Cooles haben, ich hätte niemals erwartet, überhaupt ein zweites PROTOMARTYR-Album machen zu dürfen, also war ich einfach spontan und heraus kam der Hund. Jetzt das Maultier, sie faszinieren mich einfach. Das Spannende an dem Herauspicken des Covermotivs ist, dass es sofort in Verbindung zum Klang und der ganzen Erfahrung des Albums gesetzt wird. Maultiere können schwere Lasten tragen und dieses trägt jetzt die Last, etwas aus diesem Album machen zu müssen ...

Also habt ihr euch nicht von der punkig-kratzbürstigen Ecke in das Lager der hart Arbeitenden geschlagen, haha.
Wahrscheinlich sind wir jetzt punkiger als damals. Während der Entstehung des zweiten Albums hatten wir alle noch normale Jobs, also haben wir damals eigentlich härter gearbeitet als heute, haha. Aber wenn das so weitergeht, müssen wir uns wahrscheinlich wieder normale Jobs suchen. Ich mochte diesen Hund einfach, weil er eine Art jugendlichen Übermut vermittelt und ja, das Maultier repräsentiert schon ein wenig den Arbeiter in uns.

Wie bei jedem jüngeren PROTOMARTYR-Album gibt es eine hübsche Vinylversion mit Lyriczine und Poster. Wie wichtig ist dir diese haptisch-visuelle Ebene?
Sie war der Grund, warum ich überhaupt Mitglied einer Band werden wollte. Ich hatte eigentlich nie gesungen oder so, aber die Aussicht darauf, Albumcover, Poster und Flyer machen zu dürfen, fand ich ausgesprochen reizvoll. Das Artwork zu gestalten, ist für mich fast genauso aufregend und wichtig wie das Schreiben der Texte.

Auch in anderen visuellen Bereichen legt ihr Wert auf Ungewöhnliches. In dem Clip zu „Processed by the boys“ spielt ihr beispielsweise auf „Gil vs. Galerito“ an, ein Video, das in Brasilien Kultstatus genießt. Gab es dafür einen speziellen Grund?
Jede Band, die im Internet aktiv ist, kennt das: Sobald brasilianische Fans beginnen zu posten, endet das früher oder später mit der Aufforderung „Come to Brazil“. Und das ist für eine Band unserer Größe gar nicht so einfach, weil es eine ziemlich kostspielige Angelegenheit ist. Aber eher zufällig haben wir unseren brasilianischen Fans jetzt ein Geschenk mit diesem Clip gemacht. Ich hatte ein Video im Netz entdeckt und wusste zunächst weder, woher er stammt, noch welche Sprache gesprochen wird, aber mich hat sofort fasziniert, dass darin ein Mann gegen eine Puppe kämpft und von der Puppe fertiggemacht wird. Das schien mir die perfekte Allegorie für das Leben. Erst später habe ich herausgefunden, dass es sich dabei um ein sehr populäres Video einer Fernsehstation im Amazonasgebiet handelt. Und „Processed by the boys“ bekam durch diesen Zufall mit Abstand die meisten Klicks von allem, was wir bis jetzt gemacht haben. Die Brasilianer finden es wahnsinnig witzig. In den Kommentaren stehen oft auch Dinge wie „Ich mag die Musik nicht, aber das Video“. Also wenn wir jemals in Brasilien spielen sollten, müssen wir vermutlich den tanzenden Typen und die Puppe mitbringen, damit sie überhaupt wissen, wer wir sind, haha.

Aber Sarkasmus hin oder her, PROTOMARTYR haben immer noch eine recht präsente dunkle Seite.
Na ja, so präsent ist die Dunkelheit meiner Meinung nach nicht, ich wollte die beunruhigende Natur des Seins an sich und damit auch des Lichts einfangen. Ein Sonnenuntergang kann je nach Situation genauso furchteinflößend sein wie eine dunkle, stürmische Nacht. Dieses Album ist zwar grundsätzlich viel positiver als seine Vorgänger, aber ja, es hat immer noch einen deutlichen bedrohlichen Unterton. Dennoch: Ein Tag ohne Ende ist in meinen Augen mindestens genauso schrecklich wie eine Nacht ohne Ende. Licht und Schatten gehören einfach zusammen. Zur Zeit durchleben wir ja eine ganze Menge an tagtäglichen Katastrophen, nicht nur ein hochinfektiöses Virus, den wir nicht in den Griff bekommen, auch ist vieles davon direkt durch die Menschheit verursacht. Und diese von uns ausgelösten Katastrophen ziehen sich wie ein roter Faden durch das Album.

Was zählt denn deiner Meinung nach zu diesen menschengemachten Katastrophen?
Wenn du dir ganz aktuell mal anschaust, wie gut sich der Aktienmarkt in den USA gerade entwickelt, ist das für mich der Beweis schlechthin, wie sehr wir in einem kapitalistischen Käfig gefangen sind. Dieses System reagiert nicht im Geringsten darauf, dass Millionen Menschen ihre Jobs verlieren, ihre Mieten nicht bezahlen können oder sich mühsam von einer Lohntüte zur nächsten hangeln müssen. Die Börse macht einfach weiter, als wäre nichts gewesen. Das habe ich noch nie verstanden und seit meinem ersten Album immer wieder in meinen Texten verarbeitet. Es beschäftigt mich täglich. Während unser erstes Album entstand, hatte ich einen fürchterlichen Job, in dem ich keine Zukunft für mich sah, und jetzt habe ich gerade gar keinen Job und ebenso wenig Zukunft. Aber ja, in „I am you now“ geht es beispielsweise auch darum, wie manche Firmen sich mit einer Art altruistischen Aura umgeben, ohne wirklich für die Ideale einzustehen, die sie für sich formulieren. Gerade passiert das wieder exzessiv, Firmen werfen mit dem Slogan „Black Lives Matter“ um sich, aber eigentlich ist das nur Eigenwerbung, ein echter Beitrag für die Sache wird da nicht geleistet.

Glaubst du, es gibt einen Weg aus diesem kapitalistischen Käfig?
Das wird zumindest in den USA extrem schwierig. Wir sind unser ganzes Leben lang ja schon mit bestimmten Schlagwörtern gefüttert worden; sie jetzt auf einmal zu hinterfragen, ist nicht leicht. Wenn zum Beispiel eingefordert wird, der Polizei Gelder zu kürzen, schreit direkt jeder, dass das nicht sein dürfe und könne. Aber Bildungs- und Sozialleistungen werden radikal gestrichen, die Polizei ist quasi die einzige Institution, die überhaupt noch größere Summen bekommt. Hier kannst du so schnell jedenfalls keine Mehrheit finden, die sich gegen dieses System stellen würde. Vielleicht müssen wir ja erst eine große Katastrophe durchleben, bevor sich daran etwas grundlegend ändern wird.