Auf dem Berliner Label T3 Records erschien Anfang 2018 ein faszinierendes Dreampop-Shoegaze-Album, das erst bei genauerer Beschäftigung seine „exotische“ Herkunft enthüllte: Das Trio POSTCARDS kommt aus Beirut, der Hauptstadt des Libanon, von der man zwar weiß, dass sie ein reges Nachtleben und in all dem Chaos drumherum noch ein recht liberales Lebensumfeld für Kreative bietet, die man aber in musikalischer Hinsicht dann doch nicht so auf dem Schirm hat. Natürlich ist der Ansatzpunkt für ein Interview mit „Wie, in Beirut gibt es eine Band, die solche Musik macht?“ zwar klischeehaft, aber die Antworten von POSTCARDS-Frontfrau Julia Sabra sind umso interessanter.
Julia, bitte stellt euch vor.
Wir sind POSTCARDS – eine Dreampop-Band aus Beirut. Marwan ist an der Leadgitarre und den Backing Vocals, Rany am Bass, Synthie und den Backing Vocals – er nimmt derzeit aber ein paar Monate Pause von der Band –, Pascal am Schlagzeug und den Backing Vocals, ich bin Leadsängerin und an der Gitarre und den Synths. Wir machen seit 2013 Musik und haben im Januar unser erstes Album „I’ll Be Here In The Morning“ veröffentlicht.
Ich war noch nie in Beirut, aber du warst in Westeuropa. Welche Unterschiede hast du wahrgenommen, in Bezug auf das Leben generell, das Leben für Musiker, wie Konzerte organisiert werden, Proben etc.?
Nun, es gibt definitiv einen großen Unterschied. Beirut ist eine Stadt, die sich wie ein Dorf anfühlt, fast jeder kennt sich. Da die alternative Musikszene ziemlich klein ist, ist es meist die gleiche Gruppe Leute, die zu Konzerten geht. Es gibt keine wirkliche Infrastruktur für Musik, also Labels, Agenten, Veranstalter, Veranstaltungsorte etc. Diese Dinge gibt es, aber in einem viel kleineren Maße als in Europa und obwohl die meisten von ihnen einen großartigen Job machen, gibt es keinen wirklichen Markt für alternative Musik, also ist es nicht wirklich lebensfähig. Es gibt viel D.I.Y. und man hilft sich gegenseitig. Die meisten Musiker hier machen etwas nebenbei, wir alle haben Tages- oder Nebenjobs, es ist kaum möglich, von deiner Musik zu leben. Trotzdem finde ich die Qualität der Musik und der Bands, die aus der Szene hier in Beirut kommen, ziemlich gut.
Man gewöhnt sich wohl an alles, auch an den Krieg. Während es in Beirut selbst seit einigen Jahren mehr oder weniger friedlich ist, gibt es im Norden, Osten und Süden Krieg und Konflikte. Wie gehst du damit im Alltag um?
Ich sehe, du hast deine Hausaufgaben gemacht! Wenn die Menschen „Libanon“ hören, denken sie an Krieg und sie denken, dass er immer noch andauert. Es stimmt, Beirut hat sich ziemlich stabil gehalten und die meisten Zwischenfälle ereigneten sich außerhalb der Hauptstadt – die sind heutzutage jedoch noch seltener. Aber es gibt keine Möglichkeit, damit umzugehen. Das Land ist seit dem Ende des Bürgerkriegs in den Neunziger Jahren instabil. Es gab keine Versöhnung, kein Ende, nur wachsende Spannungen zwischen politischen Parteien und religiösen Gruppen. Also haben sich die Leute daran gewöhnt, in diesem seltsamen kurzlebigen Zustand zu leben, in dem man weiß, dass die Dinge jede Minute scheiße werden können, aber man macht einfach weiter mit seinem täglichen Leben. Langfristige Lösungen – ob in der Politik oder in unserem Privatleben – sind nicht immer eine sichere Sache, und wir haben eine fast passive Haltung gegenüber der ganzen Instabilität eingenommen, um damit fertig zu werden. Unsere Art zu handeln besteht darin, diese Ereignisse zwar zu registrieren, aber dann ziemlich schnell weiterzumachen ...
Europa schottet sich immer stärker ab. Wie erlebt ihr das, werden Libanesen diskriminiert, wenn sie versuchen, nach Europa zu reisen, zum Beispiel, wenn sie ein Visum bekommen möchten?
Das Visum-Verfahren an sich ist sicher diskriminierend. Aber wir haben als Libanesen kein Problem, es ist nur ein langer und anstrengender Prozess. Unser einziges Problem ist, dass Rany, unser Bassist, palästinensischer Abstammung ist und nur einen palästinensischen Flüchtlingspass hat – obwohl seine Familie seit drei Generationen hier lebt und seine Mutter Libanesin ist. So wird es schwierig, denn einige Länder in der EU haben alle Personen mit einem Flüchtlingspass auf die schwarze Liste gesetzt, und ein Schengen-Visum zu erhalten, kann für sie bis zu doppelt so lange dauern und es funktioniert selten.
Bitte entschuldige das Klischee, aber zarter Dreampop/Shoegaze, wie die Musik, die ihr spielt, ist wohl nicht das, was man von Beirut erwartet. Thrash Metal vielleicht ... Warum also Dreampop?
Ich denke, was die Leute erwarten, wenn sie an Musik aus Beirut denken, basiert auf ihrem Klischee über die Stadt – wie du ja selbst gesagt hast –, was nie zutreffend ist. Die Menschen in Beirut sind so vielfältig wie die in jeder anderen Stadt der Welt. Wir leben in einer Nachkriegsstadt, die wahnsinnig kompliziert ist, und jede Ecke davon ist anders. Thrash Metal ist hier sicher eine relativ große Sache. Die Metal-Szene im Libanon ist ziemlich groß, aus offensichtlichen Gründen. Aber ich verstehe nicht, warum Dreampop nicht auch relevant sein sollte – es ist die Musik von und auch für introvertierte Menschen, die langsam von allem um sie herum desillusioniert sind. So fühlen wir uns in dieser Stadt wirklich. Beirut ist ruhig und laut, charmant und ekelhaft – unser Zuhause, aber auch völlig unerträglich zum Leben und das kommt in unserer Musik zum Ausdruck. Im Dreampop haben wir immer wieder diese heftigen Lärmausbrüche – aus deiner Sicht des Landes kannst du das als unsere Schreie der Frustration wegen alldem hier verstehen!
Wie vielfältig ist die Musikszene in der Stadt? Gibt es etwas „typisch“ Beirutisches?
Die Musikszene hier ist ziemlich vielfältig. Nur um das zu verdeutlichen, mit Musikszene meine ich die Untergrund/Alternativszene. Alles Richtung Mainstream ist für dieses Interview irrelevant. Aber es gibt hier alles von Indiepop über Rock, Elektronik, eine experimentelle und Ambient-Szene, Singer/Songwriter, Folk, Post-Rock, Shoegaze und Metal, gesungen wird auf Arabisch oder Englisch, gelegentlich Französisch. Ich habe keine Ahnung, was typisch beirutisch ist. Ich schätze, es ist eine gesunde – oder ungesunde? – Mischung aus allem.
Wie sieht euer musikalischer Background aus? Welche Bands, welche Alben mögt ihr?
Die Liste könnte sehr lang werden ... Wir haben alle einen unterschiedlichen Geschmack. Wir haben als Folk-Band angefangen, also ist Songwriting ein integraler Bestandteil der Musik, und alles, was das dann mit interessanten Arrangements vermischt. Subtilität ist auch ein wichtiges Element – die Leute werden leicht von dem auffälligsten Aspekt eines Songs oder einer Band angezogen. Aber einige der besten Musikstücke sind überhaupt nicht auffällig. Nimm Bands wie YO LA TENGO, es fällt mir schwer, Leuten, die es nicht verstehen, zu erklären, warum sie so brillant sind. Es sind wirklich gut geschriebene Songs, wunderschön aufgenommen, kompliziert arrangiert und dennoch klingen sie immer so einfach. Sie brauchen kein besonderes „Ding“, es ist nur gute Musik, gut geschriebener Pop mit einer experimentellen Seite. Hier ist eine Liste von Künstlern, die wir lieben und die uns inspiriert haben, in keiner bestimmten Reihenfolge: THE VELVET UNDERGROUND, YO LA TENGO, Sufjan Stevens, SLOWDIVE, PORTISHEAD, Angel Olsen, GRIZZLY BEAR, RED HOUSE PAINTERS, MAZZY STAR, WALKMEN, BROKEN SOCIAL SCENE, RADIOHEAD, FEIST, FLAMING LIPS, GALAXIE 500, PJ Harvey, FLEET FOXES, NEUTRAL MILK HOTEL, BELLE & SEBASTIAN, THE BEATLES ...
Was sind eure nächsten Pläne?
Im Sommer und Herbst durch Europa touren, ein Video und ein paar neue Songs veröffentlichen und hoffentlich nächstes Jahr wieder ein Album. Wir haben sofort nach der Veröffentlichung von „I’ll Be Here In The Morning“ wieder angefangen zu schreiben, also gibt es eine Menge neues Material, das wir live bereits spielen.
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