NEUROSIS

From where the roots run

Dass sich das Oakland-Sextett NEUROSIS mit seinem siebten Album quasi neu erfindet stößt sicher nicht nur auf Gegenliebe. Während der Name NEUROSIS bislang synonym für einen undurchdringlichen Klangwall stand heißt es angesichts "A Sun That Never Sets" umlernen.

Auch im neunten Jahr nach dem noch heute als absolutes Überwerk gehandelten "Souls At Zero" wünschen sich die einen ein weiteres Monsteralbum voller kakophonischer, verzweifelter Klanggewitter herbei. Die Chancen dafür stehen jedoch schlecht, denn die ehemals heliophoben Wesen können heutzutage gar nicht genug bekommen vom strahlenden, wärmenden Himmelskörper und klingen erstaunlich harmonisch, eingängig und ausgeglichen. In der Vergangenheit hatte NEUROSIS´ Musik vor allem und am allerbesten in der Live-Situation funktioniert, was sich mit dem meditativen "A Sun That Never Sets" jedoch ändern sollte. Auch wenn es die Wunschvorstellungen mancher Fans nicht erfüllt, ist "A Sun That Never Sets" ein großes, erwachsenes und magisches Album. Manchmal sollte man einen Klassiker auch einfach für sich stehen lassen und keine schale Neuauflage herbeisehnen.

"Ich denke, dass wir unsere Musik wie üblich auf das nächste Level gehoben haben", findet Gitarrist und Sänger Steve Von Till. "Wir waren selbst ein wenig überrascht, dass die neuen Songs automatisch eine psychedelische Richtung einschlugen. Statt totaler Vernichtung sind Melodien die treibende Kraft. Das zwang uns natürlich, die Vocals etwas ruhiger anzugehen und uns nicht die ganze Zeit die Seele aus dem Leib zu schreien. Indem wir den einzelnen Elementen mehr Raum zum Atmen gaben, konnten wir definitiv mehr Emotionen transportieren. Wir haben immer gerne mit den verschiedenen Facetten der Dynamik experimentiert, d.h. leise und sanft, laut und malmend. Trotzdem haben wir uns in der Vergangenheit selten Gedanken um das Dazwischen gemacht. Deshalb bestand die Herausforderung dieses Mal darin, die Dynamik zwischen den Extremen zu finden. Das alles passierte ganz automatisch. Die Aggressionen sind kontrollierter, gleichzeitig scheint die Schönheit klarer durch."
Über meine Frage, ob ihr Streben nach mehr Melodien und ausgefeilten Gesangsharmonien auch der Grund dafür ist, dass zum ersten Mal keine Growls von Bassist Dave Edwardson zu hören sind, muss Steve herzhaft lachen. "Es war nicht so geplant. Früher haben wir die Verteilung der Gesangpassagen richtiggehend konstruiert. Bei "A Sun That Never Sets" hat jedoch derjenige, der einen Abschnitt geschrieben hat, diesen auch eingesungen. Wir haben darüber gesprochen, welche Parts Dave übernehmen sollte und es letztendlich nicht umgesetzt. Vielleicht um etwas neues auszuprobieren. Aus irgendeinem Grund konnten wir uns seine Stimme nicht mit diesem Material vorstellen."

Dass man nach 15 Jahren eine Verschnaufpause von komplett destruktiver Musik braucht, ist nur verständlich. "Auch wenn wir persönlich ab einem Punkt nur noch selten extreme Musik gehört hatten, spielten wie sie nach wie vor monatelang live, was für unsere Körper nicht sonderlich förderlich war. Obwohl wir dadurch körperlich fit waren, war es dennoch hart. Das letzte, was wir sein wollen, sind alte, tatterige Männer, die ihre Musik nicht mehr überzeugend umsetzen können. Wir mussten uns einfach überlegen, was wir uns mental und physisch zumuten wollen. Die Musik auf "A Sun That Never Sets" brennt sauberer, natürlich hat sie viel Energie, sie zwingt uns aber nicht ständig ein unkontrolliertes Feuer zu entfachen. Die Flamme ist jetzt kontrollierter und brennt im Zentrum."

Ein Umstand, der nicht zuletzt der extrem direkten und erdigen Produktion von Steve Albini zu verdanken ist, die sich allerdings keinesfalls uneingeschränkter Beliebtheit erfreut und in Zeiten gnadenloser Überproduktion und technischer Manipulation so manchen Hörer mit ihrer Natürlichkeit überfordert. "Das ist wirklich seltsam, denn für mich ist das der optimale Rocksound. Er hört sich an, als sei man mit der Band in selben Raum. Wenn jemand den Sound von "Times Of Grace" und "A Sun That Never Sets" schrecklich findet, mag er uns generell nicht, da er NEUROSIS zu hundert Prozent und authentisch wiedergibt. Die beiden Alben klingen wie wir in der Livesituation. Das tolle an den Aufnahmen mit Steve war, dass wir nicht lange mit dem Sound experimentieren mussten. Wir kennen unser Equipment und er seine Aufnahmegeräte, so dass wir schon nach einigen wenigen Stunden die ersten Aufnahmen im Kasten hatten."

Während sie für ein Album früher locker zwischen 20 - 30 Tage im Studio verbrachten hatte man bei den Aufnahmen für "Times Of Grace" nach derselben Zeit nicht weniger als zwei Stunden Material produziert. "A Sun That Never Sets" wurde in nicht mehr als neun Tagen fertig aufgenommen und gemixt, was am heutigen Standart gemessen unmöglich scheint, braucht doch jede Band mindestens ein bis zwei Monate im Studio. "Wir haben für uns festgestellt, dass jede andere Art Platten aufzunehmen kompletter Unsinn ist. Alten Helden wie JIMI HENDRIX oder LED ZEPPELIN sind auch einfach ins Studio gegangen und haben ihre Songs ohne zu fackeln aufgenommen. Steve Albini ist ganz alte Schule, er versteht die Wissenschaft des Klangs, kennt sich von der Pike auf mit der Mechanik der Bandmaschinen aus und weiss, wie Kabel und Mikrofone funktionieren. Er versucht alle störenden Faktoren zu eliminieren: Der Klang kommt direkt ins Mikrofon und läuft durch die Kabel in die Bandmaschine. Dazwischen gibt es keine Effekte. Wenn man gut vorbereitet und sich seiner Sache sicher ist klappt das problemlos."

Das detailverliebte Artwork stammt von einem Australier namens Seldon Hunt, der zuvor Cover von ZENI GEVAs Frontmann und NEUROSIS-Freund KK NULL illustriert hatte. "Eigentlich ist er professioneller Drucker. Obwohl die Originale in 12x24 Inch, d.h. in Posterformat kommen muss man die kleinsten Details fast mit dem Mikroskop suchen. Sieht man sich ein Bild aus der Entfernung an gibt es ein übergeordnetes Muster, das sich in jeder nächst kleineren Schicht in ein neues auflöst."

Als Richtlinie gaben NEUROSIS ihm die folgenden Fixpunkte, die sich durch das Konzept des gesamten Albums ziehen: Sonne, Fluss, die Doppel-Helix als Bild für Genetik und Venen, die Flüsse aus Blut repräsentieren sollten. Leider gingen einige Details im Druck verloren, was das geplante Doppel-Vinyl geradezu zu einem Muss macht. Die kleinen Spermafäden erklärt Steve folgendermaßen: "Das Konzept des Titelsongs dreht sich darum zu erkennen, dass jeder von uns als Individuum die Summe seiner Vorfahren ist. Jeder einzelne kleine Part stammt von unseren Ahnen ab, das heißt, keiner kann eine komplett eigenständige Persönlichkeit sein, denn biologisch und wissenschaftlich wird man von den beiden genetischen Flüssen seiner Eltern geformt. Wenn man seine Eltern, Großeltern, Urgroßeltern und so weiter mit sich selbst vergleicht, erkennt man die Gemeinsamkeiten - ob es nun das Lachen ist, das komische Gesicht, das man in bestimmten Situationen macht, das Aussehen... Ich glaube, dass auch die eigene Weltanschauung, die Leidenschaften und Wahrnehmung seines persönlichen Platz in der Welt vererbt wurden. Diese Flüsse reichen zurück bis an die Anfänge der Menschheit und so lange, bis jemand diese Kette unterbricht und keine Kinder bekommt, wird der Fluss fortgeführt. Ich finde, das ist eine Quelle von Stolz, Inspiration und nicht zuletzt Verantwortlichkeit, um sein Leben in seinem vollen Potenzial auszukosten. Es gibt so viele Leute, die einfach nur existieren, ohne etwas zu erreichen. Wenn wir jedoch unsere Kinder großziehen, dann erleben wir, wie alles an die nächste Generation tradiert wird. Dann werden wir zu einem Stein in besagtem Fluss, der über uns hinwegfliesst. "A Sun That Never Sets" ist eine Analogie: Indem wir leben, unser Erbe erfüllen und es an die nächste Generation weitergeben schaffen wir eine Art von Unsterblichkeit. Solange man eine Vorfahren nicht vergisst und Blutlinien fortbestehen macht man seine Ahnen unsterblich."

Nachdem Pete Inc. NEUROSIS leider verlassen hatte wurde mit Josh Graham ein neuer Mann für die visuelle Repräsentation gefunden, der u.a. auch die Schirmherrschaft über eine DVD zu "A Sun That Never Sets" übernommen hat. Die Veröffentlichung ist für das Frühjahr 2002 anvisiert, und geplant ist weniger ein Musikvideo im eigentlichen Sinn. "Es soll mehr wie ein Kunstfilm aussehen. Zu diesem Zweck arbeiten wir mit einer ganzen Reihe unabhängiger Filmemacher zusammen, die alle ohne Budget an diesem Projekt arbeiten."

Daran beteiligt sein sollen auch TRIBES OF NEUROT, der Avantgarde-Ableger von NEUROSIS. Davon abgesehen soll endlich das seit Jahren geplante INSECT PROJECT veröffentlicht worden, für das Aufnahmen von Insektenlauten zu Kompositionen manipuliert wurden.