Die Kostümtruppe aus San Diego ist eine der intensivsten Live-Bands, musikalischer Extremsport par excellence. Doch wo andere sich wiederholen, nur selbst zitieren, ist der Vierer bemüht darum, sich mit jeder Platte neu zu erfinden, und so wird mit "New Erections" ein weiteres Kapitel im Buch LOCUST aufgeschlagen. Ich unterhielt mich mit Synthesizer-Bediener Joey Karam.
Ihr habt ein neues Album. Bist du zufrieden?
Äh, nein. Du meinst das doch ganz allgemein, oder?
Klar, das Wetter, dein Leben ...
Hm, ich glaube, da ist schon auch etwas Unzufriedenheit.
Nun, ich meinte auch eher das neue Album. Sind Künstler denn jemals zufrieden mit dem, was sie gerade geschaffen haben?
Eine gute Frage ... Also ich bin immer sehr kritisch, gerade in Bezug auf Dinge, die gerade erst fertig gestellt wurden. Ich kann so etwas dann erst mit etwas zeitlichem Abstand schätzen lernen. Ich habe immer das Gefühl, wenn ich zu euphorisch und glücklich bin, begrenzt mich das für die nächste Aufgabe. Ich will damit sagen, dass Zufriedenheit mit dem eigenen Schaffen dazu beitragen kann, dass man sich dann beim nächsten Mal nicht genug anstrengt.
Hast du Leute in deinem persönlichen Umfeld, die dir ehrliches Feedback geben, dich auch mal kritisieren?
Ich habe ein paar Freunde, die mir da ganz offene Antworten geben und auf deren Urteil ich in der Vergangenheit schon vertrauen konnte. Was meine Familie anbelangt, so unterstützen die mich zwar in dem, was ich tue, aber ich weiß nicht, ob ich von denen eine ehrliche Antwort bekomme. Es ist auf jeden Fall wichtig, dass man Leute um sich hat, die einem ehrlich antworten.
Wissen deine Eltern, was du so mit dieser Band anstellst, kommen die auch mal auf ein Konzert?
Die bekommen das eher am Rande mit. Sie waren einmal auf einem Konzert, haben schon mal Songs gehört, aber ich weiß nicht, ob sie verstehen, was wir da machen. Aber meine Mutter fragt schon, was wir so machen, sie interessiert sich. Ich kann mir aber schon vorstellen, dass sie das für ziemlich seltsam hält. Andererseits sehen die, dass mich diese Band nach Europa und Japan geführt hat, und zu Beginn hat sie das schon etwas verstört: "Echt, in Europa und Japan interessieren sich die Leute für euch?!"
Nun habt ihr ja auch immer wieder recht interessante Songtitel und durchaus klare Aussagen politisch-kultureller Art. Wie sehen da die Reaktionen aus?
Also, da bekommen wir nur selten mal Negatives zu hören, denn die Leute in unserem Umfeld denken alle wie wir. Vielleicht sind die aber auch alle schon total desensibilisiert, haha.
Seid ihr eine Avantgarde-Band ...?
Äh, ich glaube schon. Aber keiner von uns würde diesen Ausdruck jemals selbst verwenden, das klingt viel zu angeberisch. Ich kann aber schon nachvollziehen, wenn uns Leute als "Avantgarde" bezeichnen, aber das sind wohl eher Leute, die an sich ein Problem damit haben, zu verstehen, was wir da machen.
Mit eurer eigenwilligen, extremen Show und den Masken zieht ihr auch Leute an, die das als eine Art Zirkus-Show ansehen. Stört euch das?
Ehrlich gesagt, interessiert mich das Warum nicht wirklich. Mich interessiert viel eher, wie sie uns wahrnehmen. Ich freue mich aber immer, wenn uns Leute nach dem Konzert ansprechen, uns Fragen stellen, uns sagen, was sie über uns denken, was sie empfinden.
Was bitteschön soll der Titel des ersten Songs des neuen Albums bedeuten? "AOTKPTA" lautet der ...
Das bedeutet "Autokrat". Dahinter steckt eine lange Geschichte, die ich gerne mal zu erklären versuche: Es geht im Kern um Athanasius Kircher, der als Gründer der Ägyptologie angesehen wird. Er versuchte, die Hieropglyphen zu entziffern, aber er kannte den Rosetta-Stein nicht und so fehlte ihm der Schlüssel zur Entzifferung. Die Folge war, dass er ganz eigene Interpretationen der Bedeutung der Hieroglyphen lieferte, die aber immerhin der Ausgangspunkt für spätere Interpretationsversuche waren. Ich finde diese Geschichte sehr interessant, weil sie uns etwas über die Folgen von Fehlinterpretationen sagt, wie ein ganzes Gedankengebäude aus so etwas entstehen kann.
Gehört in diese Thematik auch der Albumtitel "New Erections", oder ist die Bedeutung eher sexueller Natur?
Wir sind uns natürlich der sexuellen Bedeutung bewusst, der Titel hat mehrere Bedeutungen, aber wir verstehen "erection" hier eher im Sinne von "Errichtung", von "Neuaufbau". Aber es steht jedem frei, den Titel in seinem Sinne zu interpretieren, was auch wiederum etwas über diese Person verrät.
Stimmt es, dass ihr seit über einem Jahr kein Konzert mehr gespielt habt?
Ja, unser letztes Konzert war im Dezember 2005. 2006 haben wir komplett damit zugebracht, am neuen Album zu arbeiten.
Und wie überlebt man das als Band rein finanziell?
Indem wir alle ganz normale Jobs haben. Ich selbst arbeite als Teppichverleger auf dem Bau. Klar, wir hatten auch mal den Traum, von der Band leben zu können, es war aber nie die Notwendigkeit gegeben. Wir machen die Band jenseits finanzieller Bedürfnisse, auch wenn es natürlich schön wäre, mehr Zeit für die Band zu haben und weniger in einem normalen Job arbeiten zu müssen. Aber es war nie unser Ziel, von der Band leben zu können. Es gibt für mich also keinen Grund, enttäuscht zu sein, denn die Band hat es mir ermöglicht, mehrfach in Japan und Europa auf Tour zu gehen, und das ist bereits ein enormer Erfolg für mich.
Ihr seid euch über die Jahre musikalisch ja recht treu geblieben, trotz gewisser Modifikationen des Sounds. Wie weit denkst du denn, wird euch dieses, nun, "Konzept" noch tragen?
Das wird sich zeigen! Ich denke nicht, dass wir alles ausgereizt haben, denn als wir das neue Album abgeschlossen hatten, hatten wir schon wieder jede Menge neuer Ideen. Und das Feedback, das wir bisher bekommen haben, ging dahin, dass zwar ganz klar ein roter Faden vorhanden ist, wir immer noch wie THE LOCUST klingen, aber uns doch weiterentwickelt haben. Und es würde uns auch schwer fallen, nicht wie THE LOCUST zu klingen, denn unser Sound ist der Ausdruck dessen, wie wir zusammenarbeiten. Wir versuchen jedenfalls, uns mit jeder neuen Platte aufs Neue herauszufordern, neues Terrain zu ergründen. Und je länger wir zusammenarbeiten, desto mehr sind auch unsere musikalischen Fertigkeiten gewachsen, was uns erlaubt, wieder Neues auszuprobieren. Wir wachsen also immer noch.
Im Vergleich zum rauhen Hardcore-Sound der Frühphase habt ihr euch auf jeden Fall stark weiterentwickelt.
Klar. Am Anfang klang die Band nach klassischem Hardcore, wie INCEST oder CROSSED OUT. Als dann Gabe und ich einstiegen, wurde der Sound immer wilder und verrückter, aber der Hardcore-Kern ist geblieben. Wir haben über so was aber nie wirklich nachgedacht, das hat sich einfach so ergeben, ist Ergebnis der verschiedensten Einflüsse. Und wir sind eben an den verschiedensten Musikrichtungen interessiert. Was nun den "Kern-Sound" betrifft, so bildet sich der aus den Persönlichkeiten und Interessen der beteiligten Musiker. Ich denke, dass wir uns aber radikal von einer traditionellen Hardcore-Band unterscheiden, beziehungsweise dass wir uns aus diesem Sound "herausgemorpht" haben.
Habt ihr als Band auf dem Epitaph-Sublabel Anti- eigentlich mal die Chance gehabt, mit eurem Labelmate Tom Waits auf einer Bühne zu stehen?
Leider nein, aber ich hätte da große Lust darauf. Und ein Konzert mit Nick Cave wäre auch wundervoll. Anti- ist ein echt seltsames Label, und wir hatten Brett Gurewitz gegenüber darauf bestanden, auf Anti- und nicht auf Epitaph zu sein. Und ich denke, trotz der musikalischen Unterschiede der Musiker und Bands dieses Labels verbindet sie eines: der Wunsch, etwas Einzigartiges zu machen. Und so schätze ich fast alles auf Anti-, aber fast nichts auf Epitaph - SOME GIRLS sind eine Ausnahme.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #104 Oktober/November 2012 und Joachim Hiller
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