LAWRENCE ARMS

Foto© by Ben Peir

Stadt, Land, Nuss

THE LAWRENCE ARMS haben keine Lust, sich zu wiederholen. Jede Platte soll ein bisschen anders klingen als der Vorgänger, einen Schritt weiter gehen auf dem künstlerischen Weg. Deshalb hat das Trio aus Chicago sein neues Album „Skeleton Coast“ auch nicht in Chicago aufgenommen, sondern in ländlicher Idylle, mitten in einer Plantage mit tausenden Nussbäumen. Eine Erfahrung, die auf dem Album deutlich zu hören ist, findet Bassist und Sänger Brendan Kelly.

Seit eurem letzten Album „Metropole“ sind sechs Jahre vergangen. Warum hat es so lange gedauert, ein neues Album zu schreiben?

Das hat viele Gründe. Zum einen haben wird erst vor zwei Jahren die Best-Of-Compilation „We Are The Champions Of The World“ veröffentlicht. Es war also viel zu tun. Außerdem ist es für uns als Band wichtig, Dinge auszuprobieren, die wir vorher noch nicht gemacht haben. Wir wollen immer Dinge entwickeln, die besser sind als ihre Vorgänger. Dinge, die es wert sind, sie zu veröffentlichen. Das dauert einfach manchmal seine Zeit. Wir brauchen oft ein bisschen, um uns klar zu werden, wo wir sind und wo wir hinwollen mit THE LAWRENCE ARMS. Wenn wir jedes Jahr ein Album veröffentlichen würden, wie groß wären die Veränderungen? Wie groß die Weiterentwicklung? Kann man so wirklich Musik veröffentlichen, die man noch nicht veröffentlicht hat? Jetzt weiß ich einfach, dass das neue Album klingt wie THE LAWRENCE ARMS und eine neue Perspektive eröffnet. Auf diese Art ist der Bullshit-Schutzschild sehr hoch. Wir können sicherstellen, dass wir Musik produzieren, zu der wir zu 100% stehen. Das ist Kunst für mich und kein Kommerz.

„Skeleton Coast“ ist das erste Album, das ihr nicht in Chicago aufgenommen habt. Warum dieser Schritt?
Wir waren diesmal in einem Studio in der Nähe von El Paso, Texas. Direkt an der mexikanischen Grenze. Keiner von THE LAWRENCE ARMS außer mir lebt noch in Chicago. Früher haben wir immer in den Atlas Studios bei unseren Langzeitproduzenten Matt Allison aufgenommen. Genauso wie THE MENZINGERS, ALKALINE TRIO oder auch RISE AGAINST. Aber leider gibt es das Studio nicht mehr. Ohne diese Räume gab es für uns keinen Grund, in Chicago aufzunehmen. Also haben wir uns einen Ort gesucht, den wir alle cool fanden, und Matt haben wir dann auch eingeflogen. Was die Studioarbeit betrifft, sind wir wie alte Hunde. Mit ihm hat die Zusammenarbeit immer so gut funktioniert, wir hatten keine Lust, irgendeinem Jungfuchs zu erklären, wie wir Platten aufnehmen. Die Sonic Ranch Studios sind so ziemlich der coolste Ort, an dem ich jemals war. Wenn ich sterbe, werde ich diesen Ort als eine der besten Erfahrungen in meinem Leben auflisten. Und ich habe wirklich schon viele sehr interessante Orte gesehen.

Was macht dieses Studio mitten im Nirgendwo so interessant?
El Paso ist eine kleine Stadt in Texas. Die Sonic Ranch liegt vor den Toren von Tornillo, einem Ort direkt an der mexikanischen Grenze. Das ist etwa fünfzig Kilometer von El Paso entfernt. Der Studiokomplex liegt mitten in einem 1.700 Hektar großen Pekannussgarten, verteilt auf mehrere Häuser rund um eine traditionelle spanische Hacienda. Das ist eine riesige Anlage, allein die Pekanfarm hat etwa 150 Angestellte. Diese kleinen Häuser sind die schönsten Studios, die ich jemals gesehen habe und überall wachsen diese wunderbaren Nussbäume. Um die Farm herum sind nur Staub und Wüste. Man muss ungefähr zwanzig Minuten fahren, um zu einem kleinen Laden zu kommen, in dem es Chips und Bier gibt. Nachts ist es da total finster, man sieht fast nichts. Wir sind jeden Morgen aufgewacht, sind ein paar Schritte aus unserem Gästehaus ins Studio gelatscht und haben angefangen zu arbeiten. Zur Hacienda, wo es zwischendurch Frühstück gab, mussten wir das Auto nehmen, weil es zu weit ist, um zu laufen. Dann haben wir den ganzen Tag gearbeitet und abends haben wir das Abendessen in unser Gästehaus geliefert bekommen. Danach haben wir wieder bis in die Nacht hinein im Studio gearbeitet und so ging das jeden Tag. Es war wie ein Feriencamp.

Hört sich an, als hättet ihr keine Probleme gehabt, euch auf die Aufnahmen zu konzentrieren. Welchen Einfluss hatte diese Umgebung auf den Sound?
Das ist wirklich komisch. Schon lange vor der Entscheidung für die Sonic Ranch hatten wir uns für den Albumtitel „Skeleton Coast“ entschieden. Er steht für ein Leben in der totalen Einöde, wo man die wenigen guten Dinge finden muss, die es gibt. Das wurde also zum Oberthema für diese Platte und dann haben wir dieses Studio entdeckt. Dieser Ort mit seiner Einsamkeit, den wilden Hunden und all diesen Dingen. Das war natürlich ein glücklicher Zufall. Es hat uns sehr geholfen, die verzweifelten Momente auf dieser Platte wirklich gut einzufangen. Außerdem konnten wir gleich all die Tiere aufnehmen, über die wir singen. Zum Beispiel Wölfe, Füchse oder Kojoten. Diese Tiere, die in völliger Einöde den Mond anheulen. Deshalb haben wir nachts einfach die Mikros draußen aufgebaut und heulende Hunde aufgenommen. Das hat perfekt zu unserem Konzept gepasst.

Das Thema Einsamkeit passt genau zur Situation vieler Menschen während der Corona-Pandemie. Isolation in den eigenen vier Wänden. Hat die Wahl des Themas auch mit der aktuellen Corona-Situation zu tun?
Das ist auch völlig verrückt. Wir hatten die Songs geschrieben, als der Lockdown kam und alles geschlossen wurde. Es wäre natürlich unmöglich, dankbar zu sein für das Corona-Virus, offensichtlich ist das ein verdammter Alptraum, aber durch einen glücklichen Zufall ist die Platte, die wir produziert haben, brandaktuell in Bezug auf die Dinge, die gerade passieren. Wir hatten die Songs zu einem Zeitpunkt erarbeitet, als alles noch eine wirre Fantasie war. Maximal eine düstere Vorahnung. So eine weltweite Pandemie konnte schließlich niemand voraussehen. Was wäre gewesen, wenn wir eine Platte gemacht hätten, in der es darum geht, seine Freundin zu lieben oder seine Fürze anzuzünden? Und dann hätte sich die Weltlage so dramatisch verändert wie jetzt? So kann „Skeleton Coast“ auch während der Corona-Pandemie seine Relevanz behalten. Es sind Songs, die man sich jetzt trotzdem guten Gewissens anhören kann. Zum Glück.

Um welche Dämonen handelt es sich eigentlich in dem Song „Demons“?
Da ist ein ganzer Katalog von Dingen, die mich verfolgen. Wenn du früh aufwachst und als Erstes denkst: Ich bin ein Stück Scheiße. In dem Song geht es nicht darum, depressiv zu sein, sondern nur die eigene Realität zu schildern. Ich erzähle von meiner Wahrnehmung von mir selbst, dass ich mich manchmal als Dämon und manchmal als richtig guten Typen betrachte. Diese Impulse gibt es bei mir immer wieder und ich habe nicht vor zu leugnen, was in mir vorgeht. Es geht also um die psychischen Aufs und Abs, die in der Natur des Menschen völlig normal sind.

Wie funktioniert der Bandalltag bei THE LAWRENCE ARMS. Seht ihr euch oft, probt ihr regelmäßig?
Das ist ein bisschen schwierig. Ich lebe ja als Einziger von uns noch in Chicago, Chris wohnt inzwischen in Portland und Neil in Los Angeles. Die Songs entstehen bei uns auf virtuellem Weg. Chris und ich schicken uns Demo-Ideen hin und her. Das haben wir schon gemacht, als wir noch im gleichen Haus gewohnt haben. Dass wir inzwischen in drei verschiedenen Städten wohnen, hat also nicht wirklich viel an unserer Strategie geändert. Die Songs entwickeln Chris und ich immer noch gemeinsam. Wenn wir dann proben, hilft Neil bei den Arrangements. Neil ist außerdem ein sehr talentierter Studiotechniker. Seine Arbeit fängt also meistens erst später an. Chris und ich funktionieren als Tandem wirklich gut. Das ist zum Glück kein Wettbewerb, wer den besseren Song schreibt, wir inspirieren und ermutigen uns eher gegenseitig. Diesmal haben wir uns zweimal in Chicago getroffen, um die Demos aufzunehmen. Dann haben wir an diesen immer wieder herumgefeilt. Ein Gitarrensolo hier, eine andere Gesangslinie da und Neil hat seine Ideen fürs Schlagzeug eingebracht. Bis das Internet heiß gelaufen ist. Diesmal lief alles sehr digital, wir hatten nicht so viel Zeit im Proberaum wie sonst. Das war eher ungewöhnlich für uns. Aber zum Glück konnten wir die fertigen Songs ein paar mal zusammen spielen, bevor es ins Studio ging. Auf diese Art haben wir viel intensiver über die Stücke nachgedacht, im Studio entstehen Dinge oft im Moment und werden dann so festgehalten. Wir sind mit dem Ergebnis auf jeden Fall sehr zufrieden. Die Songs sprechen für sich selbst.