Spricht man in Deutschland Leute auf das Thema Integration an, sind die Reaktionen, mit denen man rechnen kann, entweder emotionale Wutausbrüche oder nur müdes Abwinken: Betroffenheit bei den einen, Langeweile aufgrund von Endlosdiskussionen bei den anderen. Spätestens seit Thilo Sarrazins Interview in Lettre International ist sogar unserer wöchentlichen Sonntagabendunterhalterin Anne Will das Thema Integration einen Platz auf ihrer Agenda wert. Abwechslung diskutiert hierüber nicht ausschließlich die Bundesrepublik und tritt ihre deutsche Befindlichkeit breit, auch viele internationale Künstler setzen sich mit Integration auseinander. Was liegt dann näher, als sich mit Musikern zu unterhalten, die ihrer neuesten Veröffentlichung den Titel „Integration“ geben? Hierbei handelt es sich um die siebenköpfige Balkan-Punkband KULTUR SHOCK, ein Zusammenschluss von Künstlern, die aus den USA, Bulgarien, Bosnien, Japan und Indonesien stammen, in Seattle arbeiten und derzeit durch Europa touren. Neben der Verarbeitung von Liedern der Roma, englischen und serbokroatischen Texten stechen besonders die provozierenden Plattencover und die Titel der Veröffentlichungen ins Auge. Ein Beispiel: Man stelle sich das Bild eines südosteuropäischen Mannes im Blaumann vor, eine Toilette putzend, unter ihm der Plattentitel „We Came To Take Your Jobs Away“.
Was denken KULTUR SHOCK sich dabei, wenn sie solche Cover veröffentlichen? Spielen sie mit Stereotypen, aufgrund derer sie selbst bewertet wurden? Frontmann Gino Yevdjevich sagt hierzu: „Wir geben unseren Alben, schon aus Tradition, abfällige und herabwürdigende Namen, je nachdem, was wir denken, was schlecht für einen Menschen sei. Dieses Mal dreht sich alles um das Wort ‚Integration‘. Es ist eines der sinnlosen Plastikwörter, die westliche Regierungen sich ausgedacht haben. In ihm steckt, dass die Menschen ihr eigenes Erbe, ihre Sprache, Seele und Kultur hinter sich lassen und diejenige Kultur annehmen sollen, die bestimmend ist im Einwanderungsland. Was die Regierungen wirklich wollen, aber niemals laut sagen, ist, dass sie sich Sklaven und Diener wünschen, die nicht auffallen. In manchen Fällen fänden es die Befürworter von Integration sogar besser, wenn die Menschen, die sie integrieren, nebenbei auch noch ihre Hautfarbe wechseln würden. Wir Musiker sind aber der Meinung, dass Unterschiede uns nur noch weiter zusammenbringen – und nicht trennen. Wir sind alle sehr bewusste und informierte Menschen.“
Ein Zusammenleben, bei dem niemand seine eigenen Wurzeln, seine Kultur, Sprache und Geschichte verleugnen muss. Bei dem die Unterschiede zwischen den Menschen anerkannt und doch nicht als trennend verstanden werden. Aber ganz konkret: Man spielt zusammen in einer Band und es treffen so verschiedene Kulturen wie bei KULTUR SHOCK aufeinander, dass man dann über Integration und Emigration singt, liegt nahe. Doch kann das auf Dauer genug sein? Laut Gino reagieren KULTUR SHOCK in ihrer Musik spontan auf die Welt um sie herum: „Wenn die Welt, besonders die westliche, plötzlich wie durch ein Wunder anfängt, alle Menschen gleich zu behandeln, wäre niemand glücklicher als wir selbst und wir würden von Freude und Blumen singen. Bis dahin werden wir tun, was wir zu tun haben.“ Hierbei sei Punkrock enorm wichtig, sagt Gino, denn dieser sei das musikalische Mittel, das ihnen ermögliche, Gefühle zu beschreiben. Allerdings ist es ein Mittel von vielen: „Wenn wir uns selbst als Punkrocker einordnen müssten, wären wir wahrscheinlich Teil des Mainstreams und du würdest uns im Fernsehen sehen.“
KULTUR SHOCK beschreiben ihr musikalisches Befinden in dem Sinne, dass sie zwischen zwei Welten stehen: Die eine Welt, die Heimat, haben sie verlassen. Zur anderen, der hippen Rockstar-Welt, gehören sie immer noch nicht. Doch sie beschreiben sich als Musiker, die Balkanmusik spielen. „Der Begriff ‚Balkanmusik‘ ist reserviert für Musiker, die die Ideen des Balkans verbreiten. Wir kommen vom Balkan. Für uns ist Musik kein Modetrend, sie ist unser Leben. Wir haben uns nicht auf irgendeine Musik festgelegt, wir spielen einfach jeden Song, als ob es unser letzter wäre. Wir haben durch unsere Kriege gelernt, dass man nie weiß, was in den nächsten fünf Minuten geschehen wird. Das ist Musik vom Balkan.“
Nichtsdestotrotz haben besonders in den letzten Jahren viele Mainstream-Musiker dafür gesorgt, dass Musik vom Balkan immer bekannter und populärer wurde. Neben GOGOL BORDELLO, Ivan Bregovic, KAL oder SHANTEL, die alle auf ihre eigene Weise ihre musikalischen Wurzeln pflegen, gibt es auch Künstler, die Balkanmusik alleinig als Strömung auffassen, der sie im Moment folgen müssen. So sieht es auch Gino: „Balkanmusik ist derzeit in. Sogar Madonna hat Gypsy- und Balkantänzer. Ich weigere mich, ein Teil dieser Szene und dieser Welt zu sein. Es starben einfach zu viele meiner Freunde durch die Tragödie des Balkans, wie könnte ich denn daraus Kapital schlagen? Was mich am Bosnien-Krieg am meisten mitgenommen hat, ist die Erfahrung, dem Tod ins Auge zu blicken. Dir wird innerhalb von einer Minute klar, dass dein Leben zu kurz dafür ist, es mit Dingen zu verschwenden, die nicht wichtig sind und die du aus falschen Gründen tust. Mit Musik Geld zu machen, ist es eine ähnliche Sache. DJs überall in der Welt verdienen Geld damit, während die Musiker auf dem Balkan kurz vor dem Verhungern sind. Irgendwann aber geht alles vorüber und die Konsumenten werden etwas anderes finden – das ist die eigentliche Tragödie.“
Mich interessiert, wie sich die Mitglieder von KULTUR SHOCK in ihrer neuen Welt einlebten, wie es war, als sie dort ankamen, und wie sie ihre Wurzeln und ihr Erbe in der Fremde ausleben können. Hinterlässt die neue Umgebung eigentlich auch ihre Spuren in der Musik von KULTUR SHOCK? Gino: „Wir kamen aus ganz unterschiedlichen Gründen und auf verschiedene Arten in die USA. Bei mir war es so, dass ich ein Visum für internationale Künstler bekam und am Anfang viel zu tun hatte, da ich Theater spielte und Musik machte. Später wurde es schwieriger, als Bosnien nicht mehr im Fokus der Aufmerksamkeit stand. Die Medien zogen weiter und suchten nach neuen blutigen Schauplätzen, und damit nach neuen Künstlern aus diesen Gegenden. Von da an musste ich mir meinen eigenen Weg suchen – aus diesem mentalen Zustand ergab sich dann KULTUR SHOCK. Noch heute ist es so, dass wir nicht groß nachdenken, wenn wir Musik machen. Wir sind eine sehr impulsive Band, wir folgen unserem Instinkt, nicht der Logik und auch nicht unserem Kopf. Ich selbst sehe heute im Vergleich zu früher keine Veränderung in unserem Auftreten, aber das ist meine Auffassung. Würdest du KULTUR SHOCK analysieren, ich bin mir sicher, du würdest viele Veränderungen feststellen. Aber das ist wiederum, was KULTUR SHOCK nicht ist: Eine Band, die man einfach analysieren kann. Es gehört dazu, dass sich dein Leben und deine Sprache andauernd verändern. Besonders wenn es zu deiner Arbeit dazugehört, durch die Welt zu reisen. Wer weiß, vielleicht kommen wir irgendwann wieder zurück zu unserer Muttersprache oder nehmen eine ganz andere, eine dritte Sprache an.“
Und was wäre, wenn es eine Welt ohne KULTUR SHOCK gäbe? „Ich möchte nicht ohne KULTUR SHOCK sein. Wir wären wahrscheinlich ganz andere Menschen. Aber ich mag mich, wie ich bin. Deshalb sollten wir es dabei belassen.“
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