Kurz bevor es mit Corona losging, war Joey Cape noch mit LAGWAGON auf Tour in Australien. Dann kam das Virus. Joey musste zurück in die USA. Saß in Quarantäne. Telefonierte mit seiner Mutter. Und die Dinge nahmen ihren Lauf: In der Lockdown-Ruhe des elterlichen Hauses nämlich setzte er sich hin, schrieb Songs über seinen – allgemeingültigen – Gemütszustand. Nahm sie auf. Und machte aus ihnen sein fünftes Soloalbum mit dem hervorragenden Titel: „A Good Year To Forget“. Im Interview spricht Joey nun über Langweile, latenten Alkoholismus, Zoom-Irrsinn, Meditation und das Format des Konzeptalbums.
Joey, dein neues Album trägt den seltsamen Namen „A Good Year To Forget“. Das ist ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite willst du dieses Jahr natürlich, wie viele von uns, vergessen, denn es war ja auch zum Vergessen aufgrund der Pandemie. Auf der anderen Seite aber wirst du es nun definitiv nicht mehr vergessen können, weil du diesem Jahr eben eine ganze Platte widmest. Das könnte mental ungesund sein, oder?
Das ist stimmt, haha. Es ist ein Gegensatz. Es war ein seltsames Jahr für sehr viele Menschen. Man hatte viel Zeit, um über das eigene Leben nachzudenken – das Leben vorher und das Leben nachher. Man machte sich Gedanken, was man tun könnte, um nicht völlig durchzudrehen. Ich versuchte beispielsweise, Vogelhäuschen zu bauen. Und irgendwann nahm ich mir vor, all die Bücher zu lesen, die ich noch nie gelesen hatte, die ich aber unbedingt lesen wollte. Ich schaffte es bis zu einem Tolstoi und dachte mir dann: Nein, scheiß drauf! Haha. Und nahm mir vor, etwas zu tun, das leichter ist und mehr Spaß macht. Und da fiel mir ein, dass ich ja Songwriter bin. Und dass das ein Glücksfall ist. Dass gerade Situationen wie diese, wenn du leidest und wenn du genug Zeit hast, die Möglichkeit bieten, diese Zeit sinnvoll zu nutzen. Und nach den ersten zwei Monaten im Lockdown sprach ich mit einem Freund und sagte irgendwann diesen Satz zu ihm: „This is a good year to forget.“ Ich wusste sofort, das ist der Titel für ein Album! Ich habe die Songs mittlerweile sehr häufig gespielt. Und natürlich besteht da die Gefahr, die du ansprichst: Dass sie mich eben das Jahr nicht vergessen lassen, sondern mich immer und immer wieder an all das erinnern werden. Aber weißt du was? So sind ja letztendlich alle meine Songs. Und es bedeutet ja nicht, dass einen dieser Song auf immer und ewig runterziehen und an das Negative erinnern werden. Das ist wie mit einem Song über den Verlust deiner ersten, wirklich großen Liebe: Wenn du ihn schreibst, dann schreibst du ihn in dem Gefühl, am Boden zu sein und nie wieder richtig lieben zu können. Du hörst ihn vielleicht jahrelang mit diesem Gefühl. Aber irgendwann ist so viel Zeit vergangen, dass du ihn hörst und plötzlich nur noch denkst: Hä? Von wem singe ich da eigentlich? Wer war dieses Arschloch damals noch gleich? Ich weiß es gar nicht mehr.
War ohnehin ein Soloalbum geplant oder ist es tatsächlich der Pandemie geschuldet?
Nein, es war nichts geplant. Es kam einfach so. Überraschend wie alles. Ich kam von der LAGWAGON-Tour in Australien nach Hause, saß in einem Hotel in Quarantäne, sprach mit meiner Mutter am Telefon – und sie sagte zu mir: „Joey, warum kommst du nicht hierher, zu deinen Eltern?“ Das war eine gute Idee. Das tat ich. Und ich bin immer noch hier. Sie sind über achtzig, ich helfe ihnen, sie freuen sich über meine Anwesenheit. Ich habe viel Privatsphäre und Ruhe. Kurzum, es ist großartig. Und nachdem ich hierher kam, hatte ich irgendwann einfach die Idee zu diesem Soloalbum. Ganz simpel. Das Schwierigste an der ganzen Sache war die Logistik, denn ich musste erst mal zusehen, wie ich das ganze Equipment zum Aufnehmen in einem Heimstudio zusammenbekomme. Aber es klappte. Und jetzt weiß ich, ich will eigentlich nie wieder ein Soloalbum auf eine andere Art und Weise aufnehmen. Ich habe jetzt ein transportables Studio, mit dem ich jederzeit und überall arbeiten kann, weil es wenig Platz wegnimmt.
Beim letzten Interview für das Ox Ende 2018 hast du betont, dass du Langweile nicht ausstehen kannst. Auch in dieser Hinsicht dürfte dir der Lockdown – bei allen negativen Dingen, die damit zusammenhängen – entgegengekommen sein.
Das stimmt. Ich hasse es, nichts zu tun zu haben. Ich mag kein Fernsehen. Ich mag Netflix nicht. Und ich war auch schnell mit diesen ganzen Zoom-Meetings nach Beginn der Pandemie durch. Ich hatte eine Menge davon über die Monate. Und das ist anfangs vielleicht ganz interessant. Aber irgendwann macht es einen depressiv. Man sitzt da und betrinkt sich vor dem Computerbildschirm.
Ich habe mir vorgenommen, erst wieder mit anderen Menschen Alkohol zu trinken, wenn ich ihnen wirklich gegenübersitzen kann.
Das ist gut, ein bewundernswerter Vorsatz. Aber ich habe das nicht hinbekommen. Ich wurde in dieser Zeit zum latenten Alkoholiker. Es lief nach dem Motto: Okay, es ist elf Uhr vormittags. Mache ich mir jetzt ein ordentliches Frühstück? Oder trinke ich eine Bloody Mary? Gut, ich nehme die Bloody Mary. Und dann sitzt du da, siehst deine Freunde auf dem Bildschirm. Nach fünf Stunden hat keiner mehr sein Shirt an, jeder lümmelt nur noch vor der Kamera rum und kümmert sich nicht mehr um die Etikette. Das ist erschreckend. Und es ist irgendwann einfach nur noch langweilig. Ich muss Menschen gegenübersitzen, gegenüberstehen. Ich muss sie drücken können.
Hast du in der Zeit des Lockdowns irgendeine neue Seite entdeckt, etwas Neues über dich gelernt?
Sagen wir mal so, eine solche Zeit bringt einen natürlich dazu, viel über sich selbst nachzudenken. Und da war ein Punkt, an dem ich zumindest erkannte: Entweder ist das hier eine Straße, die dich geradewegs in den Irrsinn führen wird, oder eine, die das Leben am Ende besser macht. Ich dachte viel über vergangene Beziehungen nach. Ich nahm online ein paar Klavierstunden. Ich nahm mir vor, in Zukunft häufiger in mich zu gehen und mehr zu reflektieren. Ich bin viel näher an meiner Familie, an meinen Eltern dran. Ich fühle mich insgesamt gesünder und besser nach dieser Zeit des In-mich-Gehens. Und ich habe eben Songs geschrieben. Aber machen wir uns nichts vor: Genauso, wie mittlerweile schon immer mehr Menschen ihre Masken nicht mehr aufsetzen, obwohl sie es sollten, vergesse ich auch schon die guten Vorsätze und Gedanken, die mich in dieser Zeit beschäftigten, haha.
Einer deiner neuen Songs heißt „The poetry in our mistakes“. Das ist ein sehr schöner Titel. Was ist deiner Meinung nach das Schönste am Scheitern und Fehlerhaften?
Du kannst heutzutage alles googlen. Überall wird dir gesagt: Das und das ist die Wahrheit. Du bekommst Sicherheit vorgegaukelt in einer Welt, in der es keine Sicherheit gibt, weil es so viele Ansichten, so viele Weltanschauungen, Religionen, Ideologien gibt. Das macht das Leben aus. Und ebenso besteht die Poesie im Leben eben aus den Fehlern, die wir machen. Aus den Dingen, die von dieser angeblichen Sicherheit abweichen. Die Dinge, die wir immer tun, sind die Konstanten in unserem Leben. Routine. Die interessieren mich nicht, denn sie sind immer da. Es sind die Fehler, die Abweichungen, die zählen und schön sind. Die anderen Momente. Du kannst poetische Momente nicht haben, wenn du keine Fehler machst.
Du bekommst öffentlich hingegen vor allem vermittelt, dass du immer tough und perfekt sein musst.
So ist es. Aber wenn der Mensch immer perfekt und tough wäre, gäbe es auch keine Künstler:innen und Poet:innen mehr. Unsicherheit ist cool, haha.
Im Titelsong der Platte lautet eine Zeile „A culture cancelled everything“. Ein eindeutiger Verweis auf die Cancel Culture, die heutzutage – gerade in der schnellen Welt der sozialen Medien – immer stärker um sich greift. Entweder du bist für mich oder gegen mich. Dazwischen gibt es nichts.
Ja, und das ist eine Sache, die mir Angst macht. Ich hatte schon viele Diskussionen darüber. Dadurch, dass immer wieder neue, vermeintlich allumfassende Regeln aufgestellt werden, sprichst du dem einzelnen Menschen das Recht ab, eigene Emotionen, eine eigene Sicht der Dinge zu haben. Um ehrlich zu sein, für mich ist das ein bisschen wie Faschismus. Ich brauche keine Regeln oder Vorgaben. Wenn jemand religiös ist, braucht er oder sie ja auch keine zehn Gebote, um zu wissen, dass man andere Menschen nicht einfach so umbringen sollte. Ich habe das Thema schon 2019 im LAGWAGON-Song „Stealing light“ aufgegriffen. Ich habe das Gefühl, dass die Welt immer kränker wird. Das Internet ermöglicht eine unglaubliche Vernetzung zwischen den Menschen. Das ist auch gut. Aber es entgleitet uns aufgrund der Rasanz, mit der dort – etwa in Sachen Social Media – alles vor sich geht, auch mehr und mehr. Wir werden zu Narzissten erzogen, die sich gar nicht mehr bemühen, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Die gar nicht mehr bereit sind, das nachzuempfinden, was andere fühlen und denken.
Du hast im Interview 2018 auch von deiner Tochter erzählt. Wenn ich fragen darf: Wie sieht sie diese Dinge als eine Person, die wie selbstverständlich mit sozialen Medien aufwächst? Sprichst du mit ihr darüber, wenn dich dieses Thema derart beschäftigt?
Ja, das tue ich. Sie ist jetzt 17. Und es hat mich einige Zeit gekostet, bei diesen Fragen zu ihr vorzudringen. Wenn wir über die sozialen Medien sprechen, dann lief das früher meist so ab, dass sie beispielsweise sagte: „Dad, hast du schon gehört? Diese Person hat dieses und jenes getan.“ Und ich sagte dann: „Äh, nein. Das wissen wir nicht. Natürlich gibt es schlimme Menschen auf der Welt. Aber ich beteilige mich nicht an Hexenjagden. Du muss erst mal mehr darüber lesen und dir eine eigene Meinung bilden, ehe du jemanden verurteilst.“ Mittlerweile ist es so: Ich kenne ihre Überzeugungen, und wie sie mit diesen Dingen umgeht, nicht umfassend. Das muss und will ich auch nicht. Aber sie ist intelligent und inzwischen alt genug, sich die richtigen Gedanken dazu zu machen.
Beim damaligen Ox-Gespräch sagtest du, dass du die Fähigkeit hättest, dich per Gedankenkraft an jeden Ort der Welt zu begeben, um abzuschalten. Andalusien war seinerzeit dein Favorit. Hattest du derlei Eingebungen jetzt, im Lockdown, wieder?
Eine gute Frage. Ich muss sie leider mit nein beantworten. Hatte ich leider nicht. Als ich damals „Let Me Know When You Give Up“ aufnahm, befand ich mich in einer Phase, in der es mir gelang, irgendwie nichts an mich heranzulassen. Daher klappte das. Aber das ist vorbei, haha. Ich habe auch mal darüber nachgedacht zu meditieren. Aber das hat bislang nicht funktioniert. Ich habe dem Meditationslehrer immer sagen müssen: „Junge, ich weiß, du willst, dass ich mich fallenlasse. Wie bei einer Hypnose. Aber ich bin immer noch hier.“
Das kann ich nachvollziehen. Ich habe das auch mal probiert. Aber ab dem Moment, an dem vor mir mit Klangschalen hantiert wurde, war ich raus.
Haha, ja ich weiß, wovon du redest. Vor meinem Haus ist ein Park, wo sie auch so etwas machen. Einmal war da eine Gruppe, die meditierte und Yoga machte, und plötzlich fing eine Dame an, mit diesen Klangschalen und mit Glöckchen Töne zu erzeugen – und das auch noch, während rundherum die Leute mit ihren Hunden Gassi gingen. Hätte ich zu der Gruppe gehört, ich wäre durchgedreht, haha.
Zum Schluss noch einmal eine ultimative Frage: Ist „A Good Year To Forget“ eigentlich ein Konzeptalbum?
Ja, kann man so sagen. Auf eine Art zumindest. Es gibt bei jedem Album eine Sache, die mich beschäftigt und fasziniert und die sich daher wie ein roter Faden durch die Songs zieht. Wenn ich Texte schreibe, dann tue ich das entsprechend eher wie bei einem Essay oder einem Roman. Ich picke mir einzelne Themen heraus, die für mich eine Rolle spielen und die mich emotional packen, und versuche dann, diese Dinge miteinander zu verknüpfen. Das Album fühlt sich dadurch am Ende weniger wie eine Sammlung verschiedener Songs an, sondern es entwickelt eine stete, sich durch die Stücke ziehende Stimmung. Es klingt homogener. Und so ist es auch mit „A Good Year To Forget“. Vor allem, weil es auf Dinge eingeht, die zuletzt alle von uns durchmachen mussten. Jeder kennt sie. Jeder kann es nachvollziehen.
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