Auch wenn es medial derzeit wieder etwas ruhiger ist um die Occupy-Bewegung in den USA und anderswo: So schnell wird die nicht wieder verschwinden, denn die Krisen weltweit gehen weiter. Das Ox fragte zu dem Thema jemand, der sich mit dem Thema Protestkultur auskennt: Jello Biafra, einst Sänger der DEAD KENNEDYS und heute Frontmann von JELLO BIAFRA AND THE GUANTANAMO SCHOOL OF MEDICINE. Das Gespräch fand statt am 2. Dezember 2011 am Rand einer Occupy-San-Francisco-Veranstaltung, auf der Jello Biafra eine Rede hielt.
Jello, du hast dich bereits in deiner Zeit als Sänger der DEAD KENNEDYS politisch engagiert, etwa als Bürgermeisterkandidat für San Francisco?
Ja, das war 1979, in der Zeit, als es mit den DEAD KENNEDYS gerade losging. Dadurch zwang ich die beiden Topkandidaten in eine Stichwahl, weil keiner von ihnen, nicht zuletzt wegen mir, die nötigen 50% erreicht hatte, was sie sehr wütend machte. Ich hatte eine Menge guter Ideen im Wahlkampf, beispielsweise die Polizei dazu zu zwingen, sich von ihrer Nachbarschaft wählen zu lassen. Ich habe auch vorgeschlagen, eine öffentliche Behörde für Bestechung zu eröffnen, weil San Francisco eine so korrupte Stadt ist, so dass jeder die gleichen Zugangsbedingungen hat beim Hausbau, bei Geschäftseröffnungen, Polizeischutz, vor allem aber Schutz vor der Polizei.
Wie siehst du als langjähriger politischer Aktivist nun die momentane Occupy-Bewegung?
Es wurde Zeit dafür! Für mich lebt hier wieder der Geist der Anti-WTO-Proteste von Seattle 1999 auf, gegen diese Unternehmergrausamkeiten und die Korruption der Konzerne, die nun als die „One Percent“ bezeichnet werden. Und vielleicht wäre die Bewegung schon damals größer gewesen, wenn nicht ein kleiner Texas-Cowboy-Hitler, oder vielleicht doch eher -Mussolini, namens George W. Bush diesen groß angelegten Krieg gegen den Terror angefangen hätte, womit dieser erst einmal dafür sorgte, dass der Aufstand gegen die Konzerne in Amerika scheiterte. Für mich war das Gefühl während der damaligen Seattle-Proteste, dass die USA endlich wie Europa werden und etwas passiert. Wenn in Frankreich Löhne oder Renten gekürzt werden, fährt kein Zug mehr – das ist sehr gut! Deutschland hatte darin auch mal gute Ansätze gesehen. Aber in den USA konnte man lange auf so etwas warten. Nicht, weil die Leute apathisch wären, sondern weil sie ängstlicher und desillusionierter sind.
Aber es gab doch eine große Anti-Kriegsbewegung im Jahr 2003 wegen des Irak-Kriegs.
Ja, sie erhob sich wie eine Welle, verebbte schnell wieder und tauchte dann leider nur als eine Barak-Obama-Unterstützungskampagne wieder auf, anstatt „Hope“ und „Change“ selbst zu verkörpern. In dem Moment, in dem Obama am Ruder war, lautete die Parole genauso wie zu der Zeit, als Bill Clinton Präsident wurde: „Juchhu, der Bush ist weg, jetzt können wieder alle beruhigt schlafen.“ Und die Leute legten sich schlafen! Wenn wir Washington D.C. besetzt hätten, als die Auseinandersetzung um das Gesundheitswesen im Kongress ausgetragen wurde, hätten wir ein Gesundheitswesen wie das deutsche. Aber stattdessen haben wir etwas, das sich als noch viel mieser erweisen könnte, weil jeder per Gesetz dazu gezwungen wird, Tausende von Dollar zu zahlen, um Teil eines Versicherungsunternehmens zu werden, das dir noch nicht mal helfen wird.
Auch das ist ein wichtiges Thema der Occupy-Bewegung.
Absolut! Ich denke, eine der traurigsten und machtvollsten Erklärungen von Occupy, die ich gelesen habe, war ein Interview mit einem Teenagermädchen, das sich bei Occupy SF engagiert, im San Francisco Bay Guardian, unserem lokalen, eher linken wöchentlichen Nachrichtenblatt. Sie hat Leukämie, und ihre Eltern haben zwar eine Gesundheitsversicherung, doch nun hat das Krankenhausunternehmen erklärt, sie braucht eine Knochenmarktransplantation, sonst stirbt sie. Aber weil das so teuer ist, und weil die Leukämie bereits vor einem Jahr ausbrach, und sie erst seit drei Monaten eine Versicherung hast, wird die Behandlung nicht übernommen. Und so haben sie und ihre Familie das ganze Land abgegrast und haben jemanden gesucht, der ihr das Leben retten könnte. Schließlich war sie so frustriert, dass sie mit 18 von ihrer Familie weg ist und nach San Francisco kam. Sie war obdachlos und schlief in einem Park, bis Occupy entstand und sie dadurch einen Platz im Leben fand. Solche Geschichten machen mich wütend und mobilisieren mich gleichzeitig. Weil diese dummen Tea-Party-Leute sagen: Die Obama-Gesundheitsreform ist so fürchterlich, die Regierung will über alles entscheiden, ob du stirbst oder lebst. So ein Quatsch! Nein, es ist nicht der Staat, es sind die Konzerne, die tun das den Leuten an, wie der jungen Frau, von der ich erzählt habe, und sie ist nur eine von vielen.
Ist also Occupy eine Bewegung für einen Sozialstaat nach europäischem Vorbild?
Ich denke, dafür zu kämpfen, ist und sollte Teil davon sein. Ein Teil der Besetzer will einfach zu einer Bewegung gehören, die wütend ist und keine Forderungen stellt. Ich stimme damit nicht überein. Wenn wir etwas zurückhaben wollen, dann sollten wir es konkret verlangen. Das ist schließlich der einzige Weg, etwas zu bekommen. Wenn wir das wiederhaben wollen, was der amerikanische Wohlfahrtsstaat früher einmal war, bis Bill Clinton ihn ruinierte, dann wäre das ein guter Anfang. Denn es geht tatsächlich um die One Percent. Das Geld, das angeblich fehlt, ist ja nicht einfach verschwunden, es wurde gestohlen.
Was meinst du damit?
Es geht darum, dass Obama nicht nur jeden einzelnen Wall-Street-Verbrecher in Ruhe gelassen hat, er hat auch jeden George-Bush-Kriegsverbrecher, der Menschen gefoltert hat, illegale Kriege vom Zaun gebrochen hat, Kriegsverbrechen begangen hat, Hunderttausende Menschen im Irak getötet hat, in Ruhe gelassen oder sogar weiter beschäftigt. Diese Leute sollten sich nicht mehr in Think-Tank-Beraterunternehmen oder im Kongress aufhalten, sondern im Gefängnis sitzen. Und das beunruhigt mich. Solche Leute werden nicht zur Rechenschaft gezogen, beispielsweise die Verantwortlichen, die den Contras in Nicaragua geholfen haben, sich durch Drogen zu finanzieren, und die Crack-Epidemie in Amerika ausgelöst haben. Obama hat sogar einen der größten Contragate-Kriminellen, Robert Gates, als Verteidigungsminister, obwohl er mehr als 20 Jahre im Bundesgefängnis einsitzen sollte, weil er während des Contra-Skandals verantwortlich dafür war, dass massenhaft Kokain in die USA kam. Es geht mir nicht so sehr darum, Leute wie Bush oder Cheney zu verfolgen, es sind die Verantwortlichen, die für sie gearbeitet haben, Leute wie David Addington, der ein großes Tier in der republikanischen Partei ist. Wenn diese Leute nicht zur Rechenschaft gezogen werden, dann werden sie doppelt so mächtig, sobald die nächste republikanische Regierung am Ruder ist. Dann können sie sich einfach freuen: „Mensch, sie haben uns noch nicht mal wegen Folter drangekriegt.“ Kriegsverbrechen, also etwas, weswegen die USA immerhin gegen die Nazis in den Krieg gezogen sind, werden nicht geahndet! Das heißt, alles ist erlaubt. Und das macht mir Angst, wir können so schlimm wie die Nazis sein und niemand stoppt uns. Das ist das Schlimmste an Obama heutzutage.
Occupy kritisiert aber hauptsächlich die ökonomische und soziale Situation.
Genau, diesen Putsch der Unternehmen, von dem ich sprach. Seit den Siebziger Jahren drücken sie da aufs Gaspedal, mit Reagan, Thatcher und viel Hilfe von Helmut Kohl und den Christdemokraten. Jetzt heißt es überall: Oh, wir haben kein Geld mehr, wir müssen Sparprogramme beschließen, wir müssen den Armen das Geld wegnehmen, weil die Regierung am Ende ist. Griechenland, Italien, Spanien, Irland sind die besten Beispiele dafür. Aber man darf nicht vergessen: das Geld ist nicht verschwunden, es wurde gestohlen von den Multimillionären, die noch nicht mal wissen, was sie mit so viel Geld anfangen sollen. Das Einzige, was diese Süchtigen wollen, ist: mehr Geld. In einem Magazin wie The Nation, das leider nur wenige Leser hat, stand, dass die Summe der Defizite in allen möglichen Staaten, etwa Deutschland oder Frankreich, exakt die gleiche Summe ausmacht, die man sich von den Reichen holen könnte, wenn ihre Besteuerung höher wäre. In anderen Worten: Die Leute haben die Reichen entlastet und verkünden jetzt, dass Sparprogramme notwendig sind, weil die öffentlichen Ausgaben nicht mehr gestemmt werden können. Was für ein Quatsch. Privatisieren ist Piratenbusiness. Es sind einfach Piraten, die das Geld gestohlen haben. Die Forderung sollte also lauten: Holen wir uns das Geld von den Piraten wieder zurück!
Aber auf welchem Weg? Du sprachst in deiner Rede hier bei Occupy San Francisco von dem Aufstand auf der Straße und dem Aufstand durch den Stimmzettel. Ein alter anarchistischer Spruch lautet ja: Wahlen ändern nichts, sonst wären sie verboten.
Ja, das dachte ich früher auch mal, aber dann haben mich Frank Zappa und andere in der Wahlfrage umgestimmt. Es ist alles Mist, wenn es um die Präsidentenwahl oder um Senatoren geht, aber es ist kein Mist, wenn es um ein Referendum geht. In den USA können wir in einem Referendum für die Entkriminalisierung von Marihuana eintreten, uns zu Mietpreisbindungen und anderem äußern. Über jedes neue Sportstadion wurde hier in einem Referendum abgestimmt, leider oft nicht erfolgreich. Aber ich bin stolz darauf, mich in San Francisco bei einer Bewegung zur Verhinderung eines öffentlich finanzierten Baseballstadions engagiert zu haben. Zweimal haben wir gewonnen und es wurde abgelehnt. So sind sie weitergezogen durch die USA, aber überall wurden sie überstimmt. Das war ein Riesenspaß, gegen den gut organisierten professionellen Sport auf Wahlebene anzutreten. Selbst wenn es keine Referenden gibt, macht es einen Unterschied, wer tatsächlich der Bürgermeister und die Stadträte sind. Wir sollten da mitmischen, es macht einen Unterschied, wer in den Schulbehörden sitzt. Die Rechten sind da schon viel weiter. Niemand hat so sehr ein Auge auf die Schulbehörden wie rechte christliche Fundamentalisten, die die Bibel in der Schule verbindlich unterrichtet sehen wollen.
Also eine zweigleisige Strategie, Rabatz auf der Straße und Wählen?
Noch etwas Drittes: Wir müssen auch den Aufstand üben, indem wir genau überprüfen, wofür wir unser Geld ausgeben. Man kann die Multis umgehen. Natürlich ist es schwierig, die Ölgesellschaften zu umgehen, wir müssen ja als Band auch von Show zu Show fahren, manchmal muss man Kompromisse machen. Aber: Kein Geld für McDonald’s oder für Coors-Bier, ein Familienunternehmen, das sehr viel Geld in organisierte rechtsradikale Strukturen gepumpt hat. Ich bin immer an radikalen Aktionen beteiligt, aber man muss im System mitmischen. Es geht um eine Art von Sabotage des Systems, dafür muss man aber auch selbst drin sein.
Von welchem Geist ist denn die Occupy-Bewegung konkret beseelt?
Vom Geist von Seattle, dem Geist der Anti-Kriegsbewegung, der Sechziger-Jahre-Bürgerrechtsbewegung, der Ökologiebewegung, sie ist verwurzelt in Free-Sex-Bewegung, in der Gegenkultur der Beat-Szene wie auch bei Oscar Wilde, es reicht teilweise bis zur Amerikanischen Revolution zurück. Wenn sich die Tea Party mit George Washington schmückt, muss man doch festhalten, dass es in der Amerikanischen Revolution auch radikale Momente gab, besonders bei Thomas Jefferson, der allerdings alles andere als perfekt war. Er war selbst Sklavenhalter und zeugte zahlreiche Kinder mit einer Sklavin. Die Leute vergessen das gerne, wenn es um die glorreiche Amerikanische Revolution geht: deren Anführer waren sämtlich Unternehmer, die ihre Steuern nicht bezahlen wollten und Sklaven hielten. Aber sie hatten trotzdem den einen oder anderen guten Gedanken, und in der Verfassung sind sie auch festgehalten. Leute wie Obama hätten solche Ideen nie in die Verfassung geschrieben.
Gibt es auch ein Revival des New-Deal-Gedankens wie unter Präsident Roosevelt?
Mein Vater ist in der Depressionszeit aufgewachsen. Als belesener Zeitgenosse ist er davon überzeugt, dass es keinen New Deal gegeben hätte, wenn es nicht so eine große Protestbewegung auf der Straße gegeben hätte, die weit größer war als das, was nun passiert. Es begann, bevor Roosevelt Präsident wurde, mit den „Hoovervilles“, da haben die Leute nicht bloß wie jetzt Zelte, sondern Häuser aus Holz aufgestellt. Eines befand sich in Washington D.C. und Präsident Hoover befahl der Armee, dieses große Armenlager zu zerstören, was schließlich auch passierte. Es gab auch Tote. Diese Attacke auf die Hoovervilles empörte den Rest des Landes, es entstanden mehr von diesen illegalen Behausungen, schließlich kam es zum Million-Homeless-March auf Washington. Das war die Bewegung. Als Roosevelt dann im Amt war, brachten ihm die Gewerkschaftsführer eine Liste von Forderungen und er sagte: Okay, das ist gut, ich würde das gerne machen, nun verschafft mir die Möglichkeit, es umzusetzen. Und damit meinte er: Geht zurück auf die Straße und bereitet die Leute darauf vor, damit ich es durch den Kongress bringe. Das lief ganz anders als die lächerlichen Versuche Obamas, Reformen durchzusetzen.
Aber wollte Obama nicht ein neuer Roosevelt werden?
Ich weiß nicht, was er will. Irgendwo versteckt in seinem Kopf scheint das noch zu existieren, in der Tat ist er eher ein schwarzer Unternehmerjunge wie Russell Simmons. Das Einzige, was er bislang ist: er ist ein großartiger Redner. Er kann sprechen wie Martin Luther King, wie Malcolm X, wie Franklin D. Roosevelt, er kann vielleicht auch besser sprechen als ich. Aber was tut er? Er hat nicht mehr als ein großes Ego, das ihn dazu zwang, mit 47 Jahren Präsident zu werden. Dieser Größenwahnsinn Obamas ist auch Thema eines meiner neuesten Songs: „Barakstar Obama“.
Du bist ja auch aktives Mitglied der Green Party USA. In Deutschland haben sich die Grünen inzwischen leider als gewöhnlicher Teil der herrschenden Klasse entpuppt.
Das habe ich in Deutschland schon oft gehört. Aber das Problem ist ja tatsächlich: wenn du an der Regierung bist, musst du nicht nur die Leute repräsentieren, die dich gewählt haben, sondern alle. Das heißt ja nicht gleich, dass man den großen Konzernen folgen muss, aber man sollte die Interessen anderer Leute wahrnehmen. Und war es nicht die Grüne Partei, die auf lange Sicht betrachtet Deutschland den Atomausstieg beschert hat? Es waren auf jeden Fall nicht die Sozialdemokraten und Schröder, der seit dem Ende seiner Kanzlerschaft für Gasprom arbeitet. Was für ein Verräter! Nicht einmal in Amerika geht man da so weit. Ich bin aktives Mitglied der Grünen und habe auch schon kandidiert, aber es entmutigt mich tatsächlich ein wenig, dass die deutschen Grünen mittlerweile Teil des Mainstreams wurden. Als deutscher Wähler würde ich mich vielleicht an die Linke oder die Piraten halten. In Amerika würde ich mir wünschen, dass die Grünen eine Alternative darstellen für Leute, die bislang noch zu ängstlich sind, der demokratischen Partei den Rücken zu kehren. Aber das ist bislang auch noch nicht geschehen.
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