COLISEUM

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In einem tiefen, schwarzen Loch

Die 2003 gegründeten COLISEUM aus Louisville, KY haben mit ihrem neuen Album „Sister Faith“ erneut bewiesen, dass sie neben DEFEATER und MODERB LIFE IS WAR eine der derzeit ergreifendsten, mitreißendsten und intensivsten Hardcore-Bands sind. Ihr Sound ist noisig, dicht und fiebrig, ist nachdrücklich und mitreißend, kommt ohne Genreklischees aus und wurde von J. Robbins perfekt in Szene gesetzt. Mit dem neuen Album sind sie in Europa bei Holy Roar Records untergekommen, in den USA ist die Platte wie der Vorgänger „House With A Curse“ (2010) sowie die „Parasites“-EP (2012) auf Temporary Residence, nachdem das titellose Debüt 2004 auf Level Plane erschienen war und der Nachfolger „No Salvation“ 2007 sogar auf Relapse. „Sister Faith“ ist für mich schon jetzt eines der Top-Ten-Hardcore-Alben des Jahres, es war also Ehrensache, Sänger und Gitarrist Ryan Patterson und Drummer Carter Wilson vor dem Auftritt im Kölner Underground zu interviewen – Bassist Kayhan Vaziri ließ sich entschuldigen.

2010 habt ihr mal an einem verschneiten Winterabend zusammen mit KVELERTAK in Essen gespielt, es war ein großartiger Abend, ein euphorisches Publikum – und du, Ryan, hast mich mit einer sehr herzlichen Ansage beeindruckt, in der du dich nachdrücklich bedankt hast dafür, dass man euch als Band die Chance gibt, Teil dieser Szene zu sein. Im Gegensatz zu ähnlichen Ansagen anderer Bands, die oft floskelhaft wirkten, nahm ich dir das zu 100% ab.

Ryan: Die Wahrheit ist einfach, dass es für uns ein großes Glück ist, hier auf Tour sein zu können. Wir verlieren diese Tatsache nie aus den Augen. Wir sind eine relativ kleine Band, wir arbeiten hart, und wir sind bescheiden in Hinblick auf das, was wir erreichen können. Das ist jetzt die sechste Europatour für COLISEUM, das ist unglaublich, 2006 war ich das erste Mal hier mit der Band, da war ich 28 oder 29. Damals kam ich mir vor wie ein Spätzünder, alle meine Freunde waren schon mit ihren Bands in Europa gewesen, haha, und heute komme ich mir selbst schon wie ein Tourveteran vor. Im Gegensatz zur ersten Tour fühlen wir uns heute viel wohler, es ist nicht mehr alles so neu, wir kennen uns besser aus, aber es ist dennoch jedes Mal eine beeindruckende Erfahrung: du besteigst ein Flugzeug, fliegst um die halbe Welt, und so viele Menschen kommen, um einen zu hören und zu sehen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie eine Band dafür nicht dankbar sein könnte. Du nimmst ein paar Songs auf, veröffentlichst sie, und dann kommst du irgendwo hin und ein paar Leute kennen deine Musik – ich finde das aufregend!

Carter: Ich stamme aus Birmingham, Alabama, einer relativ kleinen Stadt mit einer kleinen Szene, ein paar weniger bekannten Bands – und dann kommst du hier rüber und die Leute sind begeistert von dem, was du machst. Darüber nicht erstaunt und begeistert zu sein, halte ich für unvorstellbar. So was wie diese Band machst du nur ein paar wenige Jahre in deinem Leben, das ist so etwas Wundervolles, so eine einzigartige Erfahrung. Wer weiß, vielleicht wird man so etwas nie wieder erleben.

Teilt eure Umgebung – Freunde, Partner, Familie – eure Begeisterung?

Ryan: Wir bekommen da alle viel Unterstützung, die finden es cool, dass wir die Chance bekommen, das alles zu erleben. Wie kann man das auch nicht toll finden?! Wir sind einfach durch Zufall in der Situation, über die Fähigkeiten zu verfügen, Musik und Songs schreiben zu können. Wir haben das Glück, nicht in einem Dritte-Welt-Land geboren worden zu sein, wir haben Familien, die uns unterstützen – ich bin dankbar für all das. Ich nehme nichts im Leben als gegeben, als selbstverständlich hin.

Gab es in eurem Leben einen Punkt, an dem sich alles zum Guten hin gewendet hat? Ihr habt das Glück, auf Tour gehen zu können und nicht mit einem Aushilfsjob zum Mindestlohn geschlagen zu sein.

Carter: Ein Leben als Künstler, als Musiker, der in Bands spielt und viel unterwegs ist, ist meist nicht mit einem geregelten, relativ hohen Einkommen gleichzusetzen. Dennoch bin ich froh, dass ich das hier tun kann, auch wenn es Momente gibt, in denen ich mir wünschen würde, einen besser bezahlten, normalen Job zu haben. Ob es nun einen bestimmten Zeitpunkt gab, ab dem sich mein Leben in diese Richtung entwickelte, kann ich nicht sagen. Ich bin erst 25, und trotzdem kommt es mir so vor, als hätte ich schon immer so gelebt. Es gab nie den entscheidenden Moment, etwa mit 17 oder so, in dem ich mich für etwas anderes hätte entscheiden können. Irgendwie habe ich mich seit damals nicht verändert, ich habe einfach mein damaliges Leben immer weitergeführt. Irgendwie taten sich aber auch keine andere Optionen auf, haha.

Dennoch muss man die Chance zu so einem Leben auch nutzen – ich glaube, viele Menschen haben nicht den Mut dazu, sie suchen und brauchen Sicherheit.

Carter: Meine Schwester ist dafür ein gutes Beispiel, ich glaube, die hätte Angst vor einem Leben, wie ich es führe. Was wir als Chance ansehen, wirkt auf sie einschüchternd oder bedrohlich.

Ryan: Viele Menschen, mit denen ich in meiner Jugend zusammen Musik gemacht habe, entschieden sich für ein anderes Leben, eines in geordneten, engeren Bahnen. Ich weiß nicht, ob es Angst war, was sie dazu brachte, oder ob sie einfach den Weg gehen, den „man“ eben geht. Ich glaube, viele Menschen denken nicht wirklich über ihr Leben nach, darüber, was sie wirklich wollen oder was sie da tun. Die denken überhaupt nicht viel nach, die sind der Meinung, dass das eben alles so ist, wie es ist, dass da nichts in Frage gestellt werden muss. Für mich bedeutet Punkrock aber Fragen zu stellen, immer, und nichts als gegeben hinzunehmen. Musik nun ist die „Mission“, auf der ich schon seit früher Jugend bin, und ich wollte schon immer genau dieses Leben führen. Der Wendepunkt in meinem Leben, nach dem du gefragt hast, war die Gründung von COLISEUM. Ich war davor in anderen Bands, habe andere Musikjobs gemacht, und ich stellte fest, dass ich irgendwann einmal auf mein Leben nicht als Abfolge vieler verschiedener Episoden zurückblicken will, sondern auf ein Vermächtnis, auf etwas, das eine Weile Bestand hatte. Andererseits gab es bei COLISEUM auch bislang nie einen bestimmten Moment, der so was wie einen Durchbruch für uns bedeutet hätte, und ich glaube auch nicht, dass der jemals kommen wird. Wir sind nicht die Band für so was. Also werden wir uns weiter durchschlagen, uns den Arsch abspielen, jede Chance nutzen, die sich uns bietet. Wir schaffen es irgendwie, Songs zu schreiben und aufzunehmen, die anderen so gut gefallen, dass sie uns die Möglichkeit geben, bei ihnen Konzerte zu spielen.

Wenn ich COLISEUM höre, muss ich immer wieder an Vic Bondi denken – dein Gesangsstil ist ähnlich, finde ich.

Ryan: Cool, ich kann das nachvollziehen. Ich mag die melodiöseren Sachen von ARTICLES OF FAITH sehr. Vor einer Weile spielten wir mal mit BARONESS in Chicago, und am gleichen Abend spielten um die Ecke auch REPORT SUSPICIOUS ACTIVITY, die „neue“ Band von Vic, in der auch J. Robbins spielt, der wiederum unser aktuelles Album produziert hat. Nach unserem Auftritt sind wir da hin und hatten das Glück, dass es eine Mini-Reunion-Show von ARTICLES OF FAITH gab, die spielten fünf Songs oder so. Neben mir stand Jeff Pezzati von NAKED RAYGUN, das war wirklich eine ganz besondere Erfahrung.

Auf welche Bands, welche Genres könnt ihr euch einigen?

Carter: Wir lieben Dischord und Touch And Go, wir mögen viele „klassische“ Punkbands ... und KILLING JOKE. Ich mag alles von denen, aber Ryan ist da der Fachmann.

Ryan: Wenn ich mich für ein KILLING JOKE-Album entscheiden müsste, wäre das „Night Time“, das ist ein großer Einfluss für uns. Aber wie das mit Einflüssen so ist, sie sind da, aber das heißt ja nicht, dass man genau diesen Weg einschlägt. Ich halte es für eine große Stärke von COLISEUM, dass wir uns in ganz verschiedene Richtungen orientieren, nicht festgelegt sind. Die gesamte Punk-, Indie- und Hardcore-Geschichte ist letztlich unser Einfluss. Ich denke, wir haben auch alle ein gutes musikalisches Wissen. Britischer Punk, NYC-Punk, L.A.-Punk, früher Hardcore, Neunziger-Alternative-Rock ... das spielt alles mit rein.

Carter: Ich denke, es geht bei uns weniger darum, dass unsere Band insgesamt nach irgendwas klingt, als dass der einzelne Song einen ganz konkreten Einfluss aufweist. So klingt dann eben ein Song schwer nach KILLING JOKE, der nächste aber klingt ganz anders.

Ryan: Manche Einflüsse kann man auch gar nicht heraushören, die MELVINS etwa. Da ist es eher das Beispiel, das sie geben: Die gibt es schon so lange, und sie machen immer nur das, was sie wollen. Und bei KILLING JOKE ist es ähnlich, die haben von der ersten Platte an immer nur das getan, was sie wollten – das inspiriert uns.

KILLING JOKE haben aber durchgängig einen sehr düsteren Sound gespielt, und ich sehe auch da eine Verbindung zu COLISEUM – fröhlich und eingängig ist eure Musik nicht. Wo sind die Pop-Punk-Elemente?

Ryan: Ich mag Pop-Punk, aber ich könnte das musikalisch nicht rüberbringen, ich bin nicht so der lockere, fröhliche Typ. Mit „Fuzzbang“ haben wir aber zum Beispiel einen Song auf dem Album, bei dem ich mich jedes Mal, wenn wir den live spielen, an die RAMONES erinnert fühle – ein Powerchord, in Dur, melodiös ... Die meisten unserer Sachen sind übrigens in Dur, und ich finde, in unseren Songs steckt immer irgendwo eine Melodie.

Aber Wut und Verzweiflung sind dennoch die Gefühle, die ich vor allem in eurer Musik erkenne.

Ryan: Wir sind in erster Linie auf rohe Energie aus. Wenn wir schreiben, stecken wir alle in einem tiefen, schwarzen Loch, suchen das helle Licht, das uns von dort heraus leitet. Doch das, was im Leben Spaß macht, ist so cool, darüber muss ich nicht ständig singen, verstehst du? Uns geht es gut, wir haben ein gutes Leben. Wenn draußen die Sonne scheint und es mir gut geht, verspüre ich nicht den Drang, Songs zu schreiben.

Carter: Diese düsteren Themen sind sicher eine Folge unseres Hardcore-Einflusses. Wirklich fröhliche Hardcore-Texte gibt es eigentlich nicht, oder? Wir haben ein gutes Leben, aber es fällt uns nicht schwer, wütend zu werden wegen irgendwas, weil wir erkennen, wie beschissen die Situation für viele andere ist.

Was macht euch wütend?

Ryan: Wie die Menschen miteinander umgehen, wie Staaten und Großkonzerne mit Menschen umgehen.

... mit Menschen wie Bradley Manning und Edward Snowden, echten amerikanischen Helden?

Ryan: Ja, das sind Menschen, die all den anderen Amerikanern vor Augen geführt haben, dass ihre Regierung sie ausgenutzt und ausspioniert hat. Ja, diese Menschen sind Patrioten, nicht Verräter. Verraten haben sie nur diesen Komplex aus Konzernen und Regierungsbehörden, aber nicht das amerikanische Volk. Und ja, genau solche Dinge machen wütend, aber auch Persönliches, etwa wenn mir bewusst wird, dass ich in einer Situation in einer Art reagiert habe, die ich hinterher bereue. Oder wenn ich mich dabei ertappe, pessimistisch, verzweifelt und trübsinnig zu sein – solche Situationen und Gedanken inspirieren mich zu Texten. Auf diese Weise kann ich Themen ansprechen und verarbeiten, die mich verwirren und verstören – eigenes Verhalten, Beziehungsprobleme, und so weiter. Andere Texte sind hingegen das Abfeiern von Leben und Liebe ganz allgemein, wobei auch dann immer ein düsterer Unterton mitschwingt. Beim aktuellen Album sind die Texte aber viel positiver, finde ich, denn ich, wir wurden im privaten Leben mit der Endlichkeit des Daseins konfrontiert. Da lernt man das Gute und Positive um so mehr schätzen, und so versuche ich, das Negative, das, was einen runterzieht, zu überwinden. Meine Songs sind für mich also in gewissem Maße Therapie, aber auch Befreiung, Katharsis.

Euer Album ist in den USA auf Temporary Residence erschienen, in Europa aber auf Holy Roar, einem kleinen Label aus England.

Ryan: Ja, „Sister Faith“ kommt wie der Vorgänger „House With A Curse“ in den USA auf Temporary Residence, aber wir haben auch gemerkt, dass es uns jedes Mal extrem viel Geld gekostet hat, Platten zum Verkauf auf Tour nach Europa zu schicken. Wir haben da echt tausende Dollar für Frachtkosten ausgegeben, so dass beim Plattenverkauf kaum was übrig geblieben ist. Also haben wir uns ein Label hier in Europa gesucht, das die Platten vor Ort presst, und das macht uns das Leben einfacher. Alex von Holy Roar wurde uns von guten Freunden empfohlen, er ist Fan der Band, und so ist jetzt alles gut.

Gefühlt seid ihr alle Nase lang in Europa unterwegs – oder täuscht der Eindruck?

Ryan: Sagen wir mal so, wir versuchen eine gute Balance zu finden zwischen unserem Leben zu Hause und auf Tour. Wir haben alle noch ein „normales“ Leben dort.

Carter: Ich arbeite in einem Live-Club, lebe mit meiner Freundin, die auch da arbeitet, führe ein ganz normales Leben, spiele noch in anderen Bands. Ich genieße das Leben und mache, was ich spannend finde.

Ryan: Ich bin verheiratet, habe ein Haus, lebe in Louisville, Kentucky und kümmere mich, wenn ich da bin, zusammen mit meinem Geschäftspartner um meine Firma shirtkiller.com, ein Online-Store für Bandshirts. Außerdem mache ich Grafikdesign, erstelle Layouts für Plattencover und entwickle T-Shirt-Motive, stelle meine künstlerischen Arbeiten auch hin und wieder auf Ausstellungen aus. Letztes Jahr waren wir nicht viel auf Tour, da hatte ich auch noch ein paar andere Jobs, etwa in einem kleinen DVD-Laden. Wir schlagen uns eben irgendwie durch, und wir haben das Glück, aus Städten zu kommen, in denen das Leben recht günstig ist. Ich habe schon früh erkannt, dass die Leute in den Bands, die ich mochte, alle nicht allein von ihrer Musik leben konnten und die verschiedensten Nebenjobs haben, um über die Runden zu kommen: J. Robbins nimmt Bands auf, Jason Farrell von SWIZ und BLUETIP ist Grafikdesigner, Henry Rollins schauspielert und veranstaltet Lesungen, und so weiter. Ich verstand, dass ich das auch so machen muss, wenn ich weiterhin mit meiner Band Musik machen will. Ich habe früher lange für Initial Records gearbeitet und bekam da mit, wie sich deren Situation nach und nach verschlechterte, dass das also auch kein Job mit Zukunft ist, und so gründete ich mit einem Kollegen von Initial die Firma Shirtkiller. So habe ich jetzt eben die verschiedensten Jobs in der Musik-Community, um es mir leisten zu können, weiterhin Musik zu machen. Wir verdienen Geld mit der Band, aber das allein würde nicht ausreichen, um uns zu ernähren. Aber so, wie es jetzt ist, läuft es ganz gut – Geld ist immer knapp, aber wir genießen das Leben, auch wenn wir gefühlt nie frei haben – irgendwas ist immer, man macht und arbeitet ständig. Aus rein finanziellen Gründen ergibt die Band überhaupt keinen Sinn, aber Musik zu machen ist meine Leidenschaft und ich liebe es. Der Reiz eines „normalen“ Lebens außerhalb all dessen, was ich jetzt tue, liegt eigentlich ja nur in der Sicherheit, die ein solches Leben verspricht – aber für mich ist das nichts.