COCK SPARRER

Foto© by Roberto Pavic

Hand aufs Herz

Es ist fast so was wie ein Ende mit Ansage: Schon beim Interview im Dezember 2022 ließen COCK SPARRER durchblicken, dass die biologische Uhr für sie tickt nach über 50 Jahren als Band, da man sich nicht vorstellen könne, mit über 70 (Bassist Daryl mal ausgenommen) noch mal ins Studio zu gehen. Konsequenz: Das 2024er-Album „Hand On Heart“ wird absehbar das letzte sein. Konzerte? Die wird man noch spielen, solange die Gesundheit mitmacht, sonst wäre das Rentnerleben ja auch zu langweilig. 1972 gründeten Colin McFaull, Mickey Beaufoy, Steve Burgess und Steve Bruce im Londoner East End ihre Band.

Ein Deal mit Decca Records zur Punk-Hochzeit hätte sie mit ihrem titellosen 1978er-Debüt ganz nach oben befördern können, stattdessen war 1978 Schluss. Von 1982 bis 1984 ging es weiter, die Genreklassiker „Shock Troops“ und „Running Riot In ’84“ erschienen, und 1992 dann das überraschende Comeback und der Einstieg des „Neuen“, Daryl. 1994 der Release von „Guilty As Charged“, mit dem COCK SPARRER wieder zu einer stets präsenten Band wurden. Drei weitere Alben folgten, 1997 „Two Monkeys“, 2007 „Here We Stand“ und 2017 „Forever“. Von der Band, die noch zu 4/5 im Ur-Line-up spielt, beantworteten Daryl Smith (gt), Steve Burgess (bs) und Colin McFaull (voc) meine Fragen.

Als wir Ende 2022 miteinander sprachen, habt ihr das neue Album bereits angekündigt. Lief alles wie geplant mit den Aufnahmen?
Daryl: Ja, alles lief gut, danke. Wir hatten eigentlich 2020 mit den Aufnahmen begonnen, kurz vor dem ersten Lockdown. Wir hatten fünf Songs aufgenommen. Wir wussten nicht wirklich, was wir mit ihnen anstellen sollten. Wir hofften, dass es der Anfang eines neuen Albums war, aber wir sagten immer, falls die Songs nicht gut genug sind, bekommt sie auch niemand zu hören. Vielleicht sind es am Ende genug für ein Album, vielleicht veröffentlichen wir aber auch nur ein paar Singles oder eine EP. Es stand nie wirklich fest, dass wir ein ganzes Album rausbringen. Wir hatten nur vor, so viele neue Songs wie möglich aufzunehmen, uns dann zurückzulehnen, ehrlich zu uns selbst zu sein und uns genau überlegen, ob wir welche davon veröffentlichen. Doch dann kam die Pandemie und die Welt blieb stehen. Wir haben noch zwei der Songs auf Compilations veröffentlicht, weil wir dachten, das sei der einzige Weg, sie überhaupt jemals rauszubringen. Aber durch die lange Zeit, die wir eingesperrt zu Hause hockten, hatten wir die Gelegenheit, weitere Stücke zu schreiben. Am Ende hatten wir insgesamt 16 Songs beisammen, wir haben die Gitarrenspuren überarbeitet und die zwei Compilation-Tracks neu abgemischt. Dann wurde uns klar, dass wir eine ganze Reihe von Songs geschrieben hatten, auf die wir stolz genug waren, um sie zu veröffentlichen. Die besten zehn von diesen Songs sind nun auf „Hand On Heart“ enthalten.

Ihr hattet einige Leute, die euch geholfen haben. Wer war das genau?
Daryl: Da war Simon Dobson, von dem die Streicher bei „My forgotten dream“ stammen, dann James Bragg, der das Album produziert hat, und Kevin Tuffy, von dem es es gemastert wurde. Bragg hatte ich 2012 kennen gelernt, als ich das ARGY BARGY-Album „Hopes, Dreams, Lies & Schemes“ aufgenommen habe. Damals hatten wir etliche Platten durchgehört, um so vielleicht einen Produzenten zu finden, dessen Arbeit uns gefällt. Beim Durchforsten der Credits stießen wir immer wieder auf den Namen Peter Miles. Uns gefiel sein Schlagzeugsound bei THE KING BLUES, die er produziert hatte, wie auch einige andere jüngere Punkbands. Da die britischen Bands offenbar zum Großteil auf dasselbe Studio und dieselben Produzenten vertrauten und in meinen Ohren langsam alles immer ähnlicher klang, wollten wir unbedingt etwas anderes ausprobieren, also entschieden wir uns für Pete. Er hatte damals einen Assistenten namens James Bragg. Der war nicht nur ein super netter Typ, sondern auch äußerst talentiert und technisch ganz vorne. Also blieben wir im Anschluss in Kontakt und haben seitdem schon bei verschiedenen Projekten zusammengearbeitet. Ich hatte ihn auch schon für das letzte COCK SPARRER-Album „Forever“ engagiert, und die Band schätzt ihn wirklich und vertraut ihm. Und darauf kommt es an, denn du kannst beim Aufnahmeprozess extrem verletzlich sein. Das ist nicht wie bei irgendeinem Gig, wo du die meisten Songs in- und auswendig kennst, und falls du doch mal danebenhaust, stört das niemanden. Es ist live, die Leute sind besoffen, wir haben vielleicht auch ein paar Bier intus, egal. Aber im Studio, mit Songs, die du nicht kennst, mit Musikern, die sich auf dich verlassen, da brauchst du Leute um dich, mit denen du dich wohl fühlst. Du brauchst ein Team, dem du vertrauen kannst und das das Beste aus dir herausholt. So jemand ist James für uns und die ganze Band war happy, wieder mit ihm zu arbeiten. Ich hatte bereits eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wie das Album klingen sollte. Ich glaube, COCK SPARRER hatten immer tolle Songs, nur die Aufnahmequalität war oft ziemlich dürftig. Was wohl daran lag, dass wir das Geld fürs Studio meist lieber in die Kneipe getragen haben, so dass die Produktion dann möglichst billig sein musste. Heutzutage hören die Leute Musik jedoch ganz anders. Durch Playlists und Streaming stehen unsere Songs auf eimal im direkten Vergleich mit wirklich gut aufgenommenen Sachen. Vor allem in den USA sind die Produktionsstandards auch im Punk mittlerweile deutlich höher und unsere Aufnahmen sollten hier mithalten können. Ich hatte eine klare Vorstellung davon, welche Mikrofone, Verstärker und so weiter ich verwenden wollte und wie das Album aufgenommen werden sollte, und ich wusste, dass es mir mit James’ Hilfe möglich ist, den Sound in meinem Kopf auf das Album zu übertragen.

War der Streichquartett-Einsatz auch seine Idee?
Daryl: Letztlich ja. Wir haben einen Song auf der Platte, der „My forgotten dream“ heißt. Als Colin seinen Gesang aufgenommen hatte und zurück in den Raum kam, um sich den Track anzuhören, meinte er: „Mit ein paar Streichern würde das großartig klingen.“ Colin dachte wohl, wir würden uns ein Keyboard schnappen und ein paar Fake-Streicher drunterlegen Aber James sagte, er kenne einen Typen namens Simon Dobson, der ein ziemlich cooler Streicher-Arrangeur ist. 2022 hatte er Mike Oldfields „Tubular Bells“ für das Royal Philharmonic Orchestra bearbeitet, aber im Herzen war er Punk geblieben! Also haben wir ihn dazu gebracht, einen Streicherpart für den Song zu schreiben, und engagierten sogar ein Streichquartett, das ihn spielt. In dem Stück sind echte Celli, Geigen und Bratschen zu hören! Als wir das Album abgemischt hatten, war ich mir sicher, dass es das Beste ist, was wir je gemacht hatten. Ich weiß wirklich nicht, ob wir daran noch etwas optimieren können.

Jetzt fehlt nur noch das Mastering ...
Daryl: Normalerweise macht James das bei meinen Projekten, aber da wir so eng an den Songs gearbeitet hatten, waren wir beide der Ansicht, dass es von jemand anderem gemastert werden sollte. Kevin Tuffy war dann eine weitere Empfehlung von James. 2022 wurde er zum UK Mastering Engineer des Jahres gewählt, ein sehr talentierter Mann. Er gab dem Ganzen die letzten Schliff. Niemand könnte besser COCK SPARRER sein als COCK SPARRER selbst, wir wissen genau, wie man COCK SPARRER-Songs schreibt. Aber um sie wirklich zum Leben zu erwecken, benötigen wir ein wenig Hilfe. Diesmal haben wir uns die besten Leute geholt, um mit ihnen etwas zu produzieren, auf das wir wirklich stolz sein können und das wir mit der ganzen Welt teilen wollen.

Auf „Hand On Heart“ gibt es wieder reichlich hymnische Melodien, die so typisch für euch sind. Aber es scheint mir auch euer am wenigsten aggressives Album zu sein. Zeit für positive Gefühle im Jahr 2024?
Daryl: Ich denke, die Band hat definitiv eine Art Erfolgsformel. Wir wissen, was für uns funktioniert. Wir versuchen auch nicht, etwas anderes zu sein, als wir sind. Wir haben schon bei „Shock Troops“ herausgefunden, was die Fans von uns wollen. Also ja, die Hooks, die Melodien sind alle da. Ich bin mir aber nicht sicher, dass die Stimmung immer so positiv ist. Ein paar Tracks haben auch eine melancholische Note. Es geht in den Songs um psychische Probleme, um Freunde, die Probleme haben, um die hohen Lebenshaltungskosten und die Situation der Wirtschaft. Aber du hast recht, die Texte bekommen alle, spätestens zum Ende hin, einen optimistischen Spin. Ja, ich denke, es ist angesagt, eine positive Haltung zu entwickeln. Wir alle haben in den letzten Jahren so viel durchgemacht. Es gibt nur diese Alternative: schwimmen oder untergehen. Raff dich auf, schüttle den Staub ab, umgib dich mit guten Freunden und triff kluge Entscheidungen. Mit der richtigen Einstellung können wir die meisten Probleme überwinden. Es ist lustig, dass du sagst, dass es weniger aggressiv wirkt, denn jetzt, als alte Männer, sind wir im Alltag wahrscheinlich wütender als je zuvor. Alles pisst uns an! Aber ich werde dieses Jahr 52 und der Rest der Band ist um die siebzig. Wenn wir auf die Idee kämen, Songs über Schlägereien und Hooligans zu schreiben, würden uns die Leute nur auslachen! Ich denke, das Album spiegelt sehr gut wider, wer wir sind und wo wir im Leben stehen. Es ist authentisch und kommt von Herzen.

Ihr habt auch neues Logo, ein blutendes Herz. Was wollt ihr damit ausdrücken?
Daryl: Unser klassisches „Wings“-Logo ist mittlerweile ein ikonisches Symbol. Es hat sich für uns tausendfach bewährt und die Leute erkennen es sofort wieder. So was kann aber auch ein bisschen ein Fluch sein, denn man kann nicht wirklich etwas anderes machen! Das Problem ist, dass wir es schon so oft verwendet haben. Deswegen wollten wir nicht schon wieder ein Album mit den „Wings“-Logo vorne drauf haben, man könnte es sonst leicht mit einer Compilation oder auch jeder anderen Platte verwechseln, die wir bisher rausgebracht haben. Also brauchten wir etwas Neues. Das leicht abgewandelte Logo, das wir auf dem Cover unseres 2017er Albums „Forever“ verwendet, war großartig. Es sah den bekannten „Wings“ ähnlich genug, dass man sofort wusste, dass wir es waren, aber es war anders genug, um einzigartig zu sein. Die Leute sahen das Motiv im Internet und hatten es sich schon tätowiert, bevor die Platte überhaupt veröffentlicht war! Etwas Vergleichbares haben wir uns auch für dieses Album gewünscht. Jetzt ging es nur darum, das Herz aus dem Titel „Hand On Heart“ zu integrieren, und durch das tropfende Blut wird es Leute ein wenig an unser bekanntes Logo erinnern. Es gab ein paar Entwürfe, aber die Variante, die wir letztendlich gewählt haben, sieht einfach toll aus. Es funktioniert groß auf einem Backdrop genauso wie auf einem Poloshirt oder natürlich als Albumcover. Aber sonst steckt keine tiefere Bedeutung dahinter.

Für Leute, deren Muttersprache nicht Englisch ist, kann es schwierig sein, die Bedeutung eines Albumtitels vollständig zu erfassen. Was bedeutet also „Hand On Heart“, was suggeriert es, was drückt es aus? Und das Coverartwork dazu?
Daryl: Um auszudrücken, dass etwas ehrlich gemeint ist, sagt man „hand on heart“, also „Hand aufs Herz“. Das heißt so viel wie „Ich schwöre“. Damit gibt man das Versprechen ab, dass man sein Wort halten wird. Man schwört, dass man sich selbst treu sein wird. Ganz ehrlich, wir haben immer versucht, uns selbst treu zu bleiben. Das soll unser letztes Album werden und wir können den Fans versichern, und zwar „Hand aufs Herz“, dass wir darauf ganz und gar wir selbst sind. Wenn es ihnen gefällt, toll, wenn nicht, auch gut, aber wir haben unser Bestes gegeben, um uns treu zu bleiben. Es wäre so easy, ein Oi!-Album über Saufen, Kämpfen und Fußball zu schreiben. Aber entspricht nicht dem Punkt, an dem wir uns im Leben befinden. Das Cover sollte ursprünglich den Oberköper eines schwer tätowierten Kerls im Poloshirt zeigen, der seine Faust auf die Brust gelegt hat. Ein bisschen wie ein Fußballspieler, der das Emblem seines Vereins berührt, wenn er ein Tor geschossen hat. Die Idee war, für das Hemd in Großbritannien, der EU und den USA jeweils eine andere Farbe zu verwenden, mit dazu passendem Vinyl. Wir fanden, es ist ein großartiges Motiv, aber dachten, dass es sich eher für diese limitierten Auflagen eignet. Es wirkt ein bisschen zu aggressiv und spiegelt auch nicht wirklich wider, was die Band aktuell ausmacht. Und das nicht nur, weil von uns allen nur Colin ein Tattoo hat. Also suchten wir noch nach einer Alternative. Irgendwann fuhr ich zu Rough Trade Records in London, weil MADNESS gerade ihr neues Album herausgebracht hatten und ich mir ein Exemplar von ihnen signieren lassen wollte – ich bin immer noch Fanboy! –, als ich an dem Pub vorbeikam, der früher unserem Schlagzeuger Steve Bruce gehört hatte, The Stick Of Rock. Das war der Pub, in dem die Band wieder zusammengekommen war und wo ich die Jungs vor 32 Jahren zum ersten Mal getroffen hatte. Es hat sich alles verändert, aber es ist immer noch eine Bar, also bin ich einfach reingegangen, um etwas zu trinken und ein bisschen in Erinnerungen zu schwelgen. Auf dem Heimweg kam mir der Gedanke, dass sich das Leben der Band schon immer in Kneipen abgespielt hat. Ich dachte, dass das Bild von einem Pub gut zu uns passen würde und konnte auch mir vorstellen, dass ein Pub in London „Hand On Heart“ heißt. Also haben wir das Artwork eine Woche vor der Produktion geändert. Es gibt jetzt also zwei verschiedene Cover, das mit dem Pub und das mit dem Tattoo.

... und das Lied, von dem der Titel stammt? Der Text wirkt ziemlich ... melancholisch?
Daryl: Wir hatten mindestens 150 Ideen und konnten uns auf keinen Titel einigen. Aber mit „Hand On Heart“ waren irgendwie alle einverstanden. Das Album sollte nicht den gleichen Namen wie ein bestimmter Song haben, sonst glauben die Leute, das sei das wichtigste Stück auf dem Album. Daher haben wir „With my hand on my heart“ ein bisschen abgekürzt.
Steve: Zu dem Song inspiriert haben uns unsere Kinder, aber im Grunde geht es um jeden Menschen, der einem etwas bedeutet. Ich hoffe, dass sie das Beste aus ihrem Leben machen, egal, welchen Herausforderungen sie begegnen, und dass sie immer jemanden an ihrer Seite haben, wenn auch nur im Geiste.
Daryl: Ich schätze, du kommst in ein Alter, in dem du deine Zeit gehabt hast und du willst, dass deine Kinder in die Welt hinausgehen und ihren eigenen Weg gehen, denn jetzt ist ihre Zeit gekommen. Du fängst vielleicht an, ihre Erfahrungen mitzuerleben. Wenn du hörst, was sie durchmachen, wird das wichtiger als deine eigenen Probleme. Aber egal, was passiert, du bist immer für sie da. Der Song wirkt fast wie die natürliche Fortsetzung von „Because you’re young“.

Wo wir gerade von melancholischen Gefühlen sprechen ... Nach dem, was ihr im letzten Interview gesagt habt ... ist das euer Abschiedsalbum?
Daryl: Es ist nicht direkt ein Abschiedsalbum, wir gehen ja nirgendwo hin, wir hören auch nicht auf. Es ist einfach das letzte Album, das wir rausbringen werden. Wir werden in Zukunft vielleicht noch Songs schreiben und aufnehmen, aber die werden höchstens als Singles oder auf Compilations erscheinen. Es kostet viel Geld, Zeit und Energie, ein komplettes Album zu produzieren, und wir werden ja auch nicht jünger. Normalerweise liegen sieben bis zehn Jahre zwischen COCK SPARRER-Alben und ich kann mir nicht vorstellen, dass sich das der Rest der Jungs mit achtzig noch mal antun will! Ich glaube auch nicht, dass wir wieder etwas hinbekommen, das das toppen könnte. Es ist gut, die Geschichte damit abzuschließen. Das ist das Beste, was wir je gemacht haben.

Eure Texte, auch auf dem neuen Album, haben immer etwas Aufbauendes, Ermutigendes. Das gefällt mir. Zufall oder Absicht? Andere Bands verbreiten Hass und Elend, könnte man sagen.
Daryl: Ich glaube, wir sind generell positive Menschen. Wir lachen viel und wissen um die Bedeutung von Freundschaft, Familie und menschlichen Werten, was sicherlich auch in den Texten spürbar ist. Natürlich kann man wütend oder angepisst sein und das durch Musik ausdrücken wollen, aber sich ausschließlich mit Hass und Elend zu beschäftigen, ist doch bescheuert. Solche Leute habe ich nicht besonders gerne um mich.

Cal von THE CHISEL sagte kürzlich im Ox-Interview, es ginge ihnen darum, „die Widerstandsfähigkeit der Arbeiterklasse feiern“. Was meint ihr, gibt es noch Hoffnung für die Arbeiterklasse?
Colin: Natürlich gibt es Hoffnung für die Arbeiterklasse. Sie hat nur vergessen, wie sie sich organisieren kann. Wenn wir uns erst einmal darauf besinnen, dass unsere Stärke in der Zahl und in der Organisation liegt, dann könnten sämtliche Ungerechtigkeiten wie die Zerstörung des Gesundheitssystems, die Aushöhlung der Arbeitsbedingungen bei den Rettungsdiensten, die fehlende Anerkennung des Personals in Krankenhäusern und Pflegeheimen, die hohen Studiengebühren bald der Vergangenheit angehören.
Daryl: Der Song „Rags to riches“, was so viel heißt wie „Vom Tellerwäscher zum Millionär“, erzählt davon, dass die Arbeiterklasse endlich angefangen hatte, einen ordentlichen Lohn zu verdienen und die extreme Armut hinter sich zu lassen. Bis die aktuelle Lebenskostenkrise mit den extremen Preissteigerungen nach Corona, dem Krieg in der Ukraine, den Problemen in Gaza alles wieder zunichte machte. Die Reichen werden reicher oder die steigenden Kosten betreffen sie zumindest nicht, die wirklich Armen haben sowieso nichts. Aber die Menschen, die es gerade so geschafft hatten, sich mit harter Arbeit eine Existenz aufzubauen, werden ausgepresst und verelenden zusehends: „From rags to riches and back again“. Aber auch hier drehen wir das Ganze letztlich ins Positive. Man kann die Arbeiterklasse nicht dauerhaft unten halten. Cal hat recht. Sie verfügt über eine Menge Widerstandskraft, es gibt also Hoffnung.

Cal sagte auch in Bezug auf euer neues Album: „Alle Macht den Jungs, sie haben noch nie eine schlechte Platte veröffentlicht.“ Stimmt ihr ihm zu?
Colin: Haha. Danke dafür, Cal, aber ich kann dir nicht zustimmen. Das Problem, das wir haben, ist, dass der Song oder das Album, das jemand am wenigsten mag, das Lieblingslied von jemand anderem ist. Ich kenne Songs, die niemand in der Band ertragen kann, aber wir haben uns angewöhnt, das nicht zu kommentieren, weil es vielleicht jemanden gibt, den das verletzen würde. Und es ist nicht unsere Aufgabe, zu definieren, was gut ist und was nicht, das ist die Sache des Publikums. Wir geben einfach unser Bestes. Da wir gerade über aktuelle Releases sprechen: Jeder Song auf dem neuen THE CHISEL-Album ist ein Schlag in die Fresse, so kraftvoll und doch voller Hooks und Melodien.
Daryl: Keine schlechten Songs. Aber jede Menge mieser Aufnahmen!

Ihr seid der Fall einer Band, die tatsächlich erleben kann, was sie erreicht hat. Die RAMONES haben sich nach dreißig Jahren oder so aufgelöst, bevor sie erleben konnten, wie sehr die Leute sie lieben. Und ja, die meisten von ihnen sind tot ... Eine Show wie die im Rebellion im Jahr 2023, bei der euch 3.000 Leute gefeiert haben, muss sich also unglaublich anfühlen.
Colin: Wir haben das große Privileg, dass unsere Lieder und Texte bei den Leuten ankommen, egal, wo sie leben oder herkommen. Ähnliche Reaktion wie beim Rebellion haben wir bereits auf der ganzen Welt erlebt, und wir stellen immer sicher, dass wir Spaß dabei haben, bevor wir aufhören müssen. Lieder schreiben zu können, mit denen sich die Menschen identifizieren, die sie bei Konzerten dann lauthals mitsingen, ist einfach das Größte, ein tolles Gefühl. Deshalb haben wir heute bei den meisten Gigs durchgehend ein breites Grinsen im Gesicht. Anders als früher, als man sich noch darauf konzentrieren musste, nicht von einer fliegenden Flasche getroffen zu werden.

Im Laufe der Jahrzehnte sind zahllose Coverversionen eurer Songs erschienen. Könnt ihr zwei oder drei herausgreifen, die euch wirklich beeindruckt haben?
Colin: Da gab es über die Zeit hinweg einige, aber am meisten Spaß machen mir die, über die man im Internet stolpert. Da war eine Schulklasse, die „Because you’re young“ gesungen hat, zudem existiert eine wunderschöne Interpretation desselben Songs, aber auf dem Klavier oder Cello gespielt. Diese beiden Varianten liebe ich einfach.

Und gibt es eines, das so schlecht ist, dass ihr euch nicht traut, es zu nennen ...?
Colin: Ich wäre nie so unsensibel und respektlos, einen Song zu nennen, der nicht so gut gelungen ist. Ich bin mir sicher, dass sie, als es aufgenommen oder online gestellt wurde, dachten, es sei eine gelungene Hommage an uns. Wer bin ich, um dem zu widersprechen?

Gibt es etwas, das ihr als Band schon immer machen wolltet, aber noch nicht geschafft habt?
Colin: Nicht wirklich. Ich denke, es gibt wahrscheinlich einige Ziele, die wir noch nicht erreicht haben. Es gibt viele Städte, in denen wir noch nie gespielt haben, weil wir es aus irgendeinem Grund nicht hinbekommen haben, etwas zu arrangieren. Wir haben es nie geschafft, in den Fernen Osten zu reisen. Wir waren also noch nie in Japan, Australien oder Indonesien, und das bedauern wir sehr. Und es gibt eine Menge Orte, die wir wahrscheinlich öfter hätten besuchen sollen, aber auch hier war es zu der Zeit unmöglich, das auf die Reihe zu bekommen.

Möchtet ihr ein paar persönliche Highlights mit der Band aus all diesen Jahren teilen? Shows, Begegnungen, Menschen, Briefe, was auch immer ...?
Colin: Für mich war es immer ein Erlebnis, irgendwohin zu reisen und nicht sicher zu sein, wie wir dort empfangen werden. Ich weiß noch, dass wir für eine Show nach Buenos Aires in Argentinien geflogen sind und am nächsten Tag weiter nach São Paulo, Brasilien. Am Montag waren wir wieder zu Hause. Beide Gigs waren ausverkauft und ein bisschen verrückt, aber fantastisch. Manchmal bin ich immer noch erstaunt, dass Leute schon mal von uns gehört haben oder sagen, dass wir sie irgendwie beeinflusst haben. Wir haben nie viele Platten verkauft und es gibt Tausende von Bands, die mehr verkauft haben als wir. Ich erinnere mich, dass ich einmal auf dem Rebellion war und Jello Biafra zu uns gerannt kam, bevor wir auf die Bühne gingen, um zu fragen, ob wir „Chip on my shoulder“ spielen würden. Während des gesamten ersten Songs dachte ich nur: Das war Jello Biafra! Woher kennt er „Chip“?

Und dieser eine Epic Fail, der nicht erwähnt werden sollte, aber da ich gefragt habe ...?
Colin: Es gab viel zu viele Fehlschläge, um sie zu aufzuzählen. Wahrscheinlich hatten sie alle mit einer Flasche Jack Daniel’s und einem Sturz von der Bühne zu tun ...

Wo steht ihr im Jahr 2024 in den britischen Medien und der Musikpresse? Wir alle wissen, dass in all den Jahren viele Bands und Künstler mit Auszeichnungen für dies und das und großen Artikeln gewürdigt wurden. Nun, fünfzig Jahre COCK SPARRER ... und immer noch Underdogs?
Colin: Ja, aber das gefällt uns so. Wir bekommen unsere Anerkennung jedes Mal, wenn wir spielen, und die Leute ihr hart verdientes Geld ausgeben, um uns zu sehen. Preise und von der Industrie verliehene Auszeichnungen bedeuten uns nicht viel, um ehrlich zu sein. Wir sitzen viel lieber in einer Kneipe, um mit ein paar Fans ein Bier zu trinken, als bei einer Preisverleihung zu hocken und mit den Plattenbossen Smalltalk zu halten.
Daryl: Wir sind immer ignoriert worden. Sogar von der Presse, die über Punk berichtet. Wir schaffen es nie in die „Top 100 Punk-Alben“-Listen. Irgendwie passen wir einfach nicht dazu. Wir haben aufgehört, uns darum zu kümmern. Es ist ganz schön, die Underdogs zu sein und sich darüber keine Gedanken machen zu müssen. Wir spielen nicht aus Ego-Gründen in einer Band. Solange die Leute, die uns mögen, zusammen mit uns Spaß haben, ist es egal, was die anderen von uns denken. Die einzigen Leute, die zählen, sind die, die zum Konzert gekommen sind und sich mit uns die Seele aus dem Leib singen. Das ist die beste Kritik, die wir bekommen können.

Darf ich fragen, wie eure Familien das, was ihr mit der Band macht, über die Jahre gesehen haben und wie sie jetzt dazu stehen? Ich schätze, ein „Hobby“ wie solch eine Band könnte manchmal Anlass für hitzige Diskussionen gewesen sein ...
Colin: Nicht wirklich. Unsere Familien haben uns über die Jahre hinweg sehr unterstützt und wir haben beim Booking immer darauf geachtet, besondere Jahrestage zu respektieren – natürlich mussten sie uns bisweilen noch mal an den Hochzeitstag erinnern, haha. Als die Kinder größer waren, haben wir ihnen nicht mehr nur einen „sicheren“ Platz hinten in der Halle reserviert, wo sie den Gig sehen können, sondern sie auch mal aus dem Moshpit herausgeholt, wo sie hin und her geschubst wurden.
Daryl: Ich war schon bei COCK SPARRER, als ich meine Frau kennen lernte. Sie wusste also, wer ich bin und was mir Musik bedeutet. Sie stand immer hinter mir und es gab nie einen Grund für irgendwelche Diskussionen. Meine Tochter ist elf, und obwohl es ihr manchmal lieber wäre, wenn ich öfter zu Hause bleiben würde, ist sie stolz auf das, was wir tun. Sie hat uns jetzt auf dem Rebellion gesehen, also versteht sie es. Ich kann mir vorstellen, dass sie mich in den nächsten Jahren, wenn sie ein Teenager ist, loswerden will und die hitzigen Diskussionen sich eher um sie als Teenager drehen werden als um mich und die Band. Und so geht der Kreislauf des Lebens immer weiter. Das schwöre ich, Hand aufs Herz.