Alles hat einen Ausgangspunkt. Im Falle von Oi!-Punk ist dieser nach Überzeugung aller Musikhistoriker:innen klar benennbar: COCK SPARRER. Und die waren sogar schon aktiv, bevor das mit Punk und Co. überhaupt alles „offiziell“ losging. 1972 gründeten Colin McFaull, Mickey Beaufoy, Steve Burgess und Steve Bruce im Londoner East End ihre Band, die auf frühen Fotos noch eher nach dem damals angesagten Glam als nach Skinhead aussahen. Ein Deal mit Decca Records zur Punk-Hochzeit hätte sie mit ihrem titellosen ’78er-Debüt ganz nach oben befördern können, stattdessen war 1978 Schluss. Von 1982 bis 1984 ging es weiter, die Genreklassiker „Shock Troops“ und „Running Riot In ’84“ erschienen, und 1992 dann das überraschende Comeback und der Einstieg des „Neuen“, Daryl. 1994 der Release von „Guilty As Charged“, mit dem COCK SPARRER wieder zu einer stets präsenten Band wurden. Drei weitere Alben folgten, 1997 „Two Monkeys“, 2007 „Here We Stand“ und 2017 „Forever“, ein weiteres ist in Arbeit. Gleichzeitig zeichnet sich am Horizont aber auch das Ende der Band ab, die unglaublicherweise immer noch zu 4/5 im Ur-Line-up spielt. Vor dem Auftritt bei „Punk im Pott“ im Dezember 2022 saßen mir Gründungsmitglied und Sänger Colin McFaull und Gitarrist Daryl Smith in einem kargen Backstagezimmerchen gegenüber.
Das hier sieht wie ein Verhörraum aus. Wann habt ihr das letzte Mal so einen von innen gesehen?
Colin: Das war heute Nachmittag, so gegen 16 Uhr. Hahaha! Nein, schon seit Jahren nicht mehr. Das ist lange her. Wir sind jetzt brave Jungs.
Daryl: Wenn du Vater wirst, ändert sich alles. Du trägst die Verantwortung für deine Kinder. Und dann hast du ganz andere Probleme. Dann streitest du dich nicht mehr in der Kneipe über Fußball. Du streitest dich mit den Lehrern, du streitest dich mit den anderen Eltern, die deine Kinder nicht so behandeln, wie du es willst. Du kämpfst immer noch, aber du streitest über andere Dinge. Ich kämpfe nicht mehr gegen die Regierung, ich kämpfe wegen des Kindes, das neben meinem Kind sitzt und sich den ganzen Tag beschissen verhält. Also nein, wir machen keinen Ärger mehr.
Colin, wie schlimm war es in den Siebziger Jahren? Bei Auftritten und allgemein?
Colin: Die Auftritte waren immer ziemlich schlimm. Ich erinnere mich an eine Zeit, in der wir bei jeder Show, die wir spielten, mit Ärger rechneten. Prügeleien waren nichts, was wir uns gewünscht oder was wir gefördert hätten. Wir wussten nur, dass gewisse Leute auftauchen würden, die sich mit allen anderen prügeln wollen. Für die war das ihre Vorstellung von einem guten Abend, aber für uns war das jedes Mal der totale Reinfall und das Letzte, was wir wollten. Uns blieb an dem Punkt meist nicht mehr als der Rückzug, bevor wir oder unsere Freunde verletzt werden. Und dann war da noch das ganze Fußballzeug. Es gab eine Menge Gewalt zwischen Vereinen und Städten, und das wurde von der Presse noch angeheizt, die in den Siebziger Jahren, als es viel Armut in England gab und es in vielen Unternehmen und Branchen zu Streiks kam, eine Atmosphäre der Angst und der Gewalt schaffen wollte. Und heute ist das nicht anders.
Nun hat das Ganze auch einen gewissen „folkloristischen“ Aspekt, so von wegen „damals, als Punk-Konzerte noch gefährlich waren“. Das ist der Stoff, aus dem Legenden gemacht wurden.
Daryl: Die Punk-Szene wird immer wieder beschuldigt, gewalttätig zu sein, das ist die Legende um Punk und Oi!. Die Sache ist die: Großbritannien war schon immer sehr „tribal“, stammesorientiert. Es gab Mods und Rocker, die sich schon prügelten, bevor Punk überhaupt angefangen hatte. Es gab schon immer Jugendmusikkulte, ob Mods, Rocker, Teddyboys oder Punks, aus denen dann Skinheads wurden. Wenn du in den Sechziger und Siebziger Jahren aufgewachsen bist, standen die Leute extrem hinter ihrer Musik, sie waren eine Gang, egal, ob sie Mods oder Rocker waren. Und wenn du die andere Gang gesehen hast, gab es immer Ärger, schon lange vor Punk. Und als dann der Punk aufkam, kam da ein ganz anderes Element hinzu. Die Mods hatten letztlich nur ihre Klamotten und ihre Musik im Sinn. Aber die Punks hatten etwas, wofür sie wirklich kämpfen wollten. Sie waren wütend auf die Verhältnisse, gegen die sie protestieren wollten. Es gab also einen anderen Grund, gewalttätig zu sein. Es ging nicht nur darum, diese andere Gang nicht zu mögen. Und als dann noch die Fußball-Sache mit Hooligans und Skinheads aufkam, kämpfte jeder gegen jeden. Die englischen Hooligans waren im Ausland ziemlich berüchtigt, da ging es gemeinsam gegen die anderen. Aber in England waren sie sich nicht einig. Sie bekämpften sich gegenseitig. So kämpfte der Norden Englands gegen den Süden Englands, und der Norden von London gegen den Süden. Am meisten hassten sich die Anhänger von zwei benachbarten Teams. Das ganze Phänomen war also immer schon sehr stammes- und gangorientiert.
Colin: Dazu wurde ja auch schon viel geschrieben. Wenn bei einem Fußballspiel 30.000 Menschen anwesend waren, dann wollten sich vielleicht 500 prügeln, und es waren jede Woche dieselben 500 Leute, die zu den verschiedenen Spielen gingen, um gegen die Fans der anderen Mannschaften zu kämpfen. Dabei wollten die meisten Leute sich einfach nur mit ihren Familien einen schönen Nachmittag machen.
Nun steht mit COCK SPARRRER heute Abend die gleiche Band wie damals auf der Bühne, ein paar Jahre älter. Ein paar alte Fans sind vielleicht dabei, aber wenn ich mich umschaue, sind die meisten im Publikum zwischen zwanzig und vierzig. Die Musik ist immer noch die gleiche, aber die Leute vor der Bühne sind ganz andere. Aus eurer Sicht, was ist anders?
Colin: Das Publikum heute ist völlig anders als damals. Das fing damit an, dass die Gigs sicherer wurden. Die Leute hörten von der Band, wurden neugierig, als ihre Freunde sagten: „Wir hatten mit denen einen tollen Abend.“ Also kamen mehr Leute zu unseren Shows, und auch mehr Frauen, was wir toll finden, was fantastisch ist und was auch wirklich eine gute Entwicklung ist. Und das Altersprofil hat sich ein wenig verändert über die Jahre. Wir haben Sechzehnjährige im Publikum und Menschen mit sechzig, die uns von Anfang an begleiten. Die einen kommen immer wieder, die anderen sehen uns zum ersten Mal. Wir hatten vor kurzem zum ersten Mal seit Jahren die Situation, dass wir eine Show abbrechen mussten, weil sich jemand geprügelt hat, das war absolut ungewöhnlich. Dabei war das mal ganz normal, wenn du dreißig, vierzig Jahre zurückgehst, da ist das jeden Abend passiert.
Daryl: Viele Bands in unserer Szene treten recht aggressiv auf. Da ist viel Testosteron im Spiel. Fighting, Oi! und so ... Dabei sollte es bei einer COCK SPARRER-Show darum gehen, gemütlich ein paar Bierchen zu trinken und die Lieder mitzusingen. Es ist wie bei einem Fußballspiel: Am besten ist es, wenn jeder nach Hause geht und sagt: „Ich hatte heute einen wirklich guten Abend.“ Es geht darum, ein bisschen Spaß mit Freunden zu haben. Wenn die Leute einmal erlebt haben, wie es bei unseren Konzerten läuft, fühlen sie sich sicherer. Die sollen sich nicht von den alten Leuten da eingeschüchtert fühlen. Außerdem sind viele der alten Fans ja auch irgendwann erwachsen geworden und mit fünfzig oder sechzig nicht mehr so drauf wie mit sechzehn Jahren.
Colin: Es ist uns wichtig, dass bei unseren Konzerten die Älteren auf die jüngeren „Familienmitglieder“ aufpassen, die vielleicht zum ersten Mal so ein Konzert erleben. Es soll immer alles freundlich bleiben.
Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, wie das London der Prä-Punk-Jahre war, wie eure Konzerte da waren ... und wie es sich anfühlt, fast fünfzig Jahre später immer noch auf der Bühne zu stehen, in einer Welt, die völlig anders ist. Und Daryl, du bist seit 1992 dabei, auch in diesen dreißig Jahren hat sich sehr viel verändert. Aber die Musik und die Texte sind geblieben. Warum funktionieren die Texte und die Musik immer noch, obwohl sie in einer völlig anderen Zeit entstanden sind?
Colin: Wir haben es nie für nötig gehalten, uns anzupassen. Wir haben uns nicht wirklich verändert. Wir sind immer noch Freunde, weil wir immer noch dieselben Jungs sind, die wir vor all den Jahren zusammen in der Schule waren. Aber alles um uns herum hat sich irgendwie verändert. Als damals Punk aufkam, merkten wir, dass wir das mögen, dass wir da irgendwie reinpassen. Anfangs haben wir Glam-Coversongs gespielt, SLADE und SWEET und David Bowie und all diese Sachen. Als die Punk-Bewegung losging, dachten wir, das ist etwas, mit dem wir uns wirklich identifizieren können, denn viele ihrer Ziele und Argumente waren die gleichen wie die von uns, die wir arbeitslos waren und die gleichen Frustrationen hatten. Wir passten nicht zu ihnen, was die Kleidung und die Frisuren angeht. Aber was die Gefühle und die Ideen von Punk angeht, die waren von Anfang an da. Ich glaube, das war ein wichtiger Grund für den großen Erfolg, den wir haben, also dass wir immer noch dieselben sind wie vor fünfzig Jahren, nur etwas älter. Morgens haben wir heute allerdings etwas mehr Schmerzen, haha.
Daryl: Steve Burgess, unser Bassist, hat in den frühen Tagen die meisten Songs geschrieben hat. Seine Texte sind zeitlos. Wenn du dir aber viele Punkbands ansiehst, schreiben sie über das, was gerade tagesaktuell passiert. Margaret Thatcher, Ronald Reagan und die Gefahr eines Atomkriegs oder was auch immer. Du hörst heute, dass das aus den Achtzigern ist, aber viele unserer Texte und Lieder kannst du heute noch spielen und denkst nicht: Oh, das ist vor vierzig Jahren entstanden. Wir singen nicht über eine Geschichte, die damals passiert ist, sondern über das Leben generell und die Kämpfe der Menschen – und diese grundlegenden Themen sind bei jeder Generation dieselben. Es geht um Arbeiter, die ausgebeutet werden. Es geht um extreme Politik auf der linken und der rechten Seite. Bei uns haben die, gegen die sich die Lieder richten, keine Namen. Putin, Donald Trump, Ronald Reagan – wir nennen den Namen nicht. Wir singen über die gleichen Dinge wie die anderen Punkbands, aber wir geben ihnen keinen Zeitstempel. Du kannst dir so einen Song also in den Achtzigern, Neunzigern, Nullern oder in der Zukunft anhören und er wird immer noch jemandem etwas bedeuten, denn die Leute können sagen: Ja, genau, so ist mein Leben jetzt.
Das lässt sich auch über eure Musik sagen. Im Grunde spielt ihr zeitlose Popsongs, die auf eine aggressive, harte Punk-Art gespielt werden.
Colin: Ja, absolut. Das Wichtigste in jedem Song ist die Hook. Du musst etwas finden, das den Leuten gefällt. Einen Ohrwurm, eine Melodie, die eine Weile im Kopf bleibt, die sich einprägt. Easy to repeat, easy to remember. Wir haben so eine Formel, wir wissen, wie es funktioniert, Songs zu schreiben, an die du dich erinnerst, wenn du nach dem Konzert nach Hause gehst. Wir haben uns immer daran gehalten und es hat immer funktioniert. Nur die Themen der Songs haben sich geändert, als wir älter wurden, jetzt schreiben wir Lieder über Vaterschaft, was wir anfangs nicht getan haben, weil keiner von uns Kinder hatte. Mittlerweile bin ich fünffacher Großvater und ich liebe es. Es gibt mir eine ganz andere Perspektive auf das Leben.
Bist du schon in Rente?
Colin: Ja, seit zwei Wochen!
Daryl: Wenn du ihn vor drei Wochen getroffen hättest, wäre das hier ein anderes Interview. Jetzt ist ihm alles scheißegal, haha.
Ging es im Song „I fit central heating“ um deinen Job?
Colin: Vielleicht. Wir sagen dazu nicht so viel. Als wir vor vielen Jahren mal in Deutschland waren, wurden wir auch mal gefragt, wer von uns den Banküberfall gemacht hat, hahaha.
Die Jungs von OUTCASTS erzählten mal, dass sie auch in Rente seien und seitdem ständig auf Tour sind, weil sie endlich Zeit dafür haben. Wie ist das bei euch?
Colin: Das musst du meine Frau fragen. Sie hat viele Pläne für meinen Ruhestand, haha.
2022 wurde die Band fünfzig Jahre alt wird, Daryl feierte seine dreißig Jahre in der Band. Irgendwo las ich einen Satz in der Art wie: Keine Ahnung, wie lange wir das noch machen.
Colin: Man wird sich seiner Gesundheit immer bewusster, je älter man wird. Und wir haben immer gesagt: Solange wir gesund sind, solange wir noch auftreten können und nicht nur ein Schatten unserer selbst sind, solange wir eine gute Show abliefern und die Leute immer noch den Eintrittspreis zahlen wollen und einen guten Abend erleben, solange das alles der Fall ist, werden wir weiter spielen. Sobald irgendwas daran nicht mehr passt, dann sagen wir, okay, Zeit, aufzuhören. Noch ist es nicht so weit, aber je älter wir werden, desto mehr gesundheitliche Probleme gibt es, und eines Tages wird es also so weit sein, dass wir aufhören.
Daryl: Wir sind näher am Ende der Karriere als am Anfang, das wissen wir. Aber wir machen das ja nicht wegen des Geldes, wir tun es nicht für Ruhm und Ehre. Wir machen es, weil es uns Spaß macht und weil die Leute, die zu den Shows kommen, ihren Spaß haben. Sobald wir das Gefühl bekommen, dass wir es versauen könnten, lassen wir es. Wir wollen nicht eine Band von alten Männern sein, die eine Scheißshow macht, nur weil sie dafür bezahlt wird. Wenn wir von der Bühne kommen, uns anschauen und sagen „Fuck, das war so ein gutes Konzert, Tausende von Leuten sind durchgedreht!“, dann wissen wir, dass wir es noch draufhaben. Ich glaube auch, manche Bands spielen zu oft und dann sagen die Leute: Ach, die haben wir letzte Woche erst gesehen. Wir wollen, dass jede COCK SPARRER-Show ein Ereignis ist. Und sobald die Leute keinen Spaß mehr haben oder wir die Konzerte nicht mehr auf diesem Niveau halten können, hören wir auf.
Colin: Ich singe wirklich gerne. Und ich liebe es, mit der Band auf der Bühne zu stehen. Wenn es so weit ist, dass ich es körperlich nicht mehr schaffe, dann weiß, dass es so nicht mehr geht.
Ihr spielt ja quasi noch in der Originalbesetzung. Wenn einer von euch nicht mehr kann oder will, holt ihr euch dann jemand Neues in die Band? Oder sagt ihr, entweder wir fünf oder keiner.
Colin: Das war schon immer die Regel. Wir haben immer gesagt, dass wir aufhören, wenn einer von uns, aus welchen Gründen auch immer, nicht mehr will oder kann.
Daryl: Abgesehen davon ist unser Bassist heute Abend nicht hier, weil er krank war, und JJ von LAST RESORT ist für ihn eingesprungen. Wir wollten die Leute nicht im Stich lassen, die haben auch wegen uns ihre Tickets gekauft, und Freunde von uns hatten bereits Flüge und Hotels gebucht.
Neulich war ein Artikel in der britischen Zeitung The Guardian, da wurde „Die Rückkehr des Oi!“ verkündet. Habt ihr das gelesen?
Colin: Verrückt.
Daryl: Eigentlich eine gute Zeitung. Aber ich werde immer sehr nervös, wenn die Mainstream-Presse Interesse an Leuten wie uns zeigt. Sie interessieren sich für dich, verwickeln dich in ein Interview und dann drehen sie dir das Wort im Mund um. Der eine Satz, den du gesagt hast und der nichts bedeutet hat, wird dann zur Schlagzeile. Und davon mal ganz abgesehen, wann hat wirklich mal jemand Oi! unterstützt? Keiner, niemals. Okay, schön war, dass in dem Artikel mit CROWN COURT eine junge Band vorgestellt wurde. Und wir wurden auch erwähnt, und es war positiv! Aber hätten die mich kontaktiert, um ein Interview anzufragen, ich hätte es abgelehnt. Mit dir reden wir, weil du Teil der Szene bist und uns immer unterstützt hast. Aber mit so einer landesweiten Zeitung reden? Nein, denen vertraue ich nicht.
Colin: Die haben sich nie für uns interessiert, warum jetzt anfangen, mit denen zu reden? Wenn es um den Beginn einer Bewegung ginge, könnte ich das Interesse vielleicht verstehen, aber Oi! gibt es schon so lange und die Medien haben nie Interesse gezeigt. Abgesehen von ein paar Dokumentarfilmen und so, aber da lief es ja nach genau dem Motto, das ich eben erwähnte: Die Aussagen so verdrehen, dass wir in einem schlechten Licht dastehen.
Daryl: Wir sind mehrfach angefragt worden, ob unsere Musik in Filmen und in Fernsehsendungen verwendet werden darf. 2006 erschien der Film „This Is England“, in dem es um ein paar Skinheads in den Thatcher-Jahren geht. Sie wollten unsere Musik verwenden, aber wir lehnten es ab, auch unser Label, weil wir keine Kontrolle darüber hatten, wie das Lied verwendet wird. Als ich mir den Film ansah, gab es einen Teil der Handlung, wo einer von den Jungs richtig rechts wird. Es gibt eine Schlägerei, bei der sie einen schwarzen Jungen verprügeln und wo diese ganze Nazi-Nummer gezeigt wird. Und was, glaubst du, wo wäre wohl unser Lied gespielt worden? Sicher nicht in der Szene, wo sie mit schwarzen Freunden Reggae hören. Abgesehen davon wollten wir nie berühmt werden. Wir haben nur unsere kleine Familie von Leuten, überall auf der Welt. Und so spielen wir an einem Freitagabend vor 1.000 Leuten in einer Stadt in der Schweiz oder sind in Schweden und sind damit zufrieden. Wir brauchen keine Promo, um bekannter zu werden. Wir halten uns einfach an die Leute, die uns verstehen und die wir verstehen und haben zusammen Spaß.
Ein gewisses Grundmisstrauen gegenüber den Medien und allgemein gegenüber der Gesellschaft zieht sich durch die Geschichte der Skinhead-Bewegung. Diese Erfahrung, dass „die“ Skinheads und Oi! nicht mögen, man deshalb besser vorsichtig ist – ist das eure Erfahrung aus fünfzig Jahren in dieser Band?
Colin: Ja. Wir arbeiten schon ewig mit denselben Veranstaltern, Booking-Agenturen und Festivals. Wir vertrauen diesen Leuten, wir haben sie über die Jahre sehr gut kennen gelernt. Wenn Daryl ein Angebot für einen neuen Gig bekommt, sehen wir als Erstes nach, wer dort schon gespielt hat, was ist der Hintergrund dieser Leute? Was sind ihre Überzeugungen? Wir sind sehr wählerisch, mit wem wir zusammenarbeiten. Wir haben diese Beziehungen über viele Jahre aufgebaut haben und die Leute kennen uns und wissen, dass wir pünktlich kommen und eine gute Show abliefern werden. Sie wissen, dass wir das alles ernst nehmen, und im Gegenzug nehmen sie uns ernst.
Daryl: Immer wieder mal erlebe ich, dass Leute fragen, warum wir uns nicht hierzu oder dazu äußern und politisch Stellung beziehen. Ich glaube aber vielmehr, man wird danach beurteilt, mit wem man sich umgibt. Und so überlegen wir sehr genau, mit wem wir zusammenarbeiten. Wir denken, dass wir über die Jahre gute Entscheidungen getroffen haben und mit guten Bands und in guten Clubs gespielt haben. Das ist uns wirklich wichtig. Wir müssen dann nicht mit Statemensts rausgehen und sagen: Wir glauben dies, wir glauben das.
Colin: Zu jeder Meinung, die du äußerst, gibt es sofort eine Gegenmeinung. Also kann man es auch bleiben lassen. Die Leute brauchen sich uns doch einfach nur anzusehen und sie wissen, wofür wir stehen.
Wenn ich mir die Situation anschaue, in der sich England gerade befindet, nach dem Brexit, mit Streiks, mit dem Nationalen Gesundheitsdienst am Rande des Zusammenbruchs, gibt es da nicht ein Gefühl, dass sich die Geschichte wiederholt? In den späten Siebzigern, als Punk und Oi! losging, war das UK ja geplagt von Jugendarbeitslosigkeit und Hoffnungslosigkeit.
Colin: Ich glaube, die Geschichte verläuft zyklisch. Etwas passiert und vierzig Jahre später passiert das Gleiche wieder. Schon allein im Musikgeschäft. Mal sind Boybands populär, dann Solokünstler, dann gibt es Girlbands, dann wieder Boybands. Es ist immer das Gleiche. Das Traurige daran ist, dass es jetzt gerade um das Leben von Menschen geht und darum, wie die ihren Lebensunterhalt verdienen, wie sie es schaffen, ein anständiges Leben zu führen. Vor zwei Jahren, während der Corona-Krise, wurden die Menschen im Gesundheitswesen beklatscht. Und genau diesen Menschen will die Regierung jetzt nicht genug Geld geben, damit sie ihre Rechnungen bezahlen und Schuhe für ihre Kinder kaufen können. Das ist lächerlich. Das sollte unsere Priorität sein. Und ja, es wiederholt sich alles und es ist kein Zufall, dass im Moment fünf große Branchen streiken oder über Streiks sprechen. Es geht immer um dasselbe: Es geht um den Schutz der Arbeitsplätze und um die Löhne. Ich kenne eine Krankenschwester, die haben seit fünf Jahren keine Lohnerhöhung mehr bekommen. Warum ist das so, wenn alle anderen eine Lohnerhöhung bekommen? Das sind die Leute, die geschützt werden sollten.
Daryl: Und sie fordern nicht einmal mehr Geld. Sie wollen nur einen Ausgleich für die Inflation. Warum sollten sie also die gleiche Arbeit machen und schlechter gestellt sein als vor zwei Jahren? Sie wollen nicht mehr Geld, damit sie sich mehr Dinge kaufen können. Sie wollen einfach nur, dass die Kaufkraft gleich bleiben. Aber dafür muss man ihnen 10% mehr geben. Was mich wirklich ärgert, und das ist der Vorteil des Alters, das zu erkennen: Jetzt, da ich älter bin und zurückblicke, denke ich, dass die Gesellschaft so viel Zeit hatte, ein paar Sachen richtig zu machen. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als Colins Generation aufwuchs, waren die Verhältnisse anders, weil es den Weltkrieg gegeben hatte. Die Infrastruktur musste wieder aufgebaut werden. Aber dann hatte man eine Generation nach der anderen Zeit, um es richtig zu machen. Wie schwer kann das sein, ganz einfache Dinge richtig zu machen? Bildung, Gesundheit, Wohnen? Man muss den Menschen etwas zu essen geben. Du musst ihnen ein Dach über dem Kopf geben, damit sie es warm haben. Und gib ihnen Bildung.
Colin: Und Unterstützung, ein Sozialsystem für die Menschen, die nicht arbeiten können.
Daryl: Viele Leute denken, hier gehe es um Parteipolitik, links oder rechts, wer an der Regierung ist. Ich bin mit vielen verschiedenen Regierungen aus beiden politischen Lagern aufgewachsen und sie waren alle beschissen. Es gab keine einzige, wo ich mal gedacht hätte, ja, ihr habt es kapiert. Macht korrumpiert, und wenn sie erst mal an der Macht sind, wollen sie nur noch an der Macht bleiben. Sie fangen mit guten Absichten an, manche von ihnen zumindest, und dann liefern sie nicht ab. Und du fragst dich: Warum ist das so? Wer kontrolliert das? Steckt Big Business dahinter? Jahr um Jahr vergeht, und die grundlegenden Dinge haben sie immer noch nicht in Griff bekommen.
Colin: Jetzt heißt es, man könne diesen Lohnforderungen nicht nachgeben, weil es die Regierung 40 Milliarden Pfund kosten würde. Aber wir haben 40 Milliarden Pfund längst für irgendwas anderes verschwendet. Mann, jetzt werde ich wütend. Ich bin wieder 17.
Themenwechsel: Wie sieht es mit einem neuen Album aus?
Colin: Aaaah, ja, dazu können wir was sagen! Vor dem Corona-Virus hatten wir fünf neue Songs und haben sie aufgenommen, nur um zu sehen, wie es so läuft. Zwei Songs haben es auf Compilation-Alben geschafft. Es gibt drei, die niemand gehört hat, und die Idee war, fünf weitere Songs zu machen und dann noch einmal fünf, und dann kam die Pandemie und alles kam zum Stillstand. Als wir dann wieder Konzerte spielen konnten, ging es darum, die Gigs nachzuholen, die abgesagt wurden, also hatten wir nicht wirklich die Zeit fürs Studio. Wir haben zehn, fünfzehn Stücke geschrieben, die noch nicht fertig sind, und die müssen wir im Studio mal ausprobieren. Ich hatte einfach noch nicht die Zeit, über das weitere Vorgehen nachzudenken, weil 2022 so verrückt gewesen ist. Wir haben zwischen Januar und Juni 2023 keine Gigs gebucht. Der Plan ist also, mit den Aufnahmen zu beginnen, aber ich weiß nicht, ob es ein Album wird. Wenn es nicht gut genug ist, wird es kein Album, sondern vielleicht drei 7“-Singles. Ich mag es, im Studio zu sein und neue Sachen zu machen. Ich weiß, dass die Leute die alten Songs hören wollen, aber ich denke, wenn eine Band nicht frisch und relevant bleiben kann und nur von der Vergangenheit lebt, dann ist das nicht gut. Wenn wir 2023 ein Album machen, hätten COCK SPARRER in sechs Jahrzehnten mindestens ein Album veröffentlicht: in den Siebzigern, den Achtzigern, den Neunzigern, in den Nullern, den Zehnern und dann in den Zwanzigern. Und ich denke, das ist ein gutes Vermächtnis.
Daryl: Nicht unbedingt produktiv, aber regelmäßig. Es kommt eben mal der Punkt, wo du anfängst, über dein Vermächtnis nachzudenken. Was hinterlässt du? Eines Tages werden wir aufhören, wer weiß, ob es in zwei oder drei Jahren ist, wegen der Gesundheit oder was auch immer. Wenn das letzte Album das von 2017 wäre, dann würden sich die Leute fragen, was in den letzten zehn Jahren passiert ist. Also will ich einfach noch ein Album rausbringen, bevor wir alle sterben.
Ich habe euch damals mit dem Album „Guilty As Charged“ kennen gelernt, das 1994 auf Bitzcore erschien. Und mein erstes COCK SPARRER-Konzert war in Berlin im KOB.
Colin: Sie sagten uns vor der Show, wir dürften auf keinen Fall „Sunday stripper“ spielen, weil es sexistisch sei. Natürlich haben wir dann ein paar Bier getrunken und sagten uns, egal, was kann schon passieren? Und wir kamen damit durch.
Daryl: Das war das erste Mal, dass ich auf einer richtigen Tour war. Wir spielten auch in besetzten Häusern, zwanzig Leute in einem Raum. Die anderen Jungs sind ja ein bisschen älter, die wären lieber in ein Hotel gegangen, aber ich fand alles aufregend und wollte nicht schlafen gehen, um nichts zu verpassen. Heute beklagt man sich schon fast, wenn das Hotel zu weit vom Club entfernt ist, haha. Für mich war diese Tour damals mein Initiationsritus.
Damals gab es noch kein Internet, es gab alle möglichen Gerüchte über eure Band, wegen „England belongs to me“ und weil ihr Skinheads seid. Aber niemand wusste etwas.
Daryl: Aus vielen Gründen war das 1994 eine wichtige Tour für uns, denn du hast recht, viele Leute hatten eine Meinung über uns, die aber nur auf Gerüchten beruhte. Es war also eine Chance für die Leute, selbst einen Eindruck von uns zu gewinnen. Was passierte, war, dass jede Show, die wir in Deutschland spielten, ein bisschen größer wurde und mehr Leute kamen, weil sie sich selbst ein Bild machen wollten. Das lag nicht an der Presse, an Berichten über uns. Es war eine echte Chance für uns, alle Gerüchte abzuschütteln. Komm und überzeug dich selbst! Verbringe eine Abend mit COCK SPARRER und bilde dir deine eigene Meinung.
Colin: Wir wussten ja, dass es all dieses Gerede gab, und so haben wir ein paar Promofotos machen lassen, aber wir dachten, anstatt die Leute jetzt wissen zu lassen, wie wir aussehen, kleben wir uns falsche Bärte ins Gesicht. Und so wussten die Leute vor unseren Auftritten nicht, wie wir aussehen, hahaha. Wir kamen in den Veranstaltungsorten an und niemand glaubte uns, dass wir das waren.
Daryl: Es gab früher generell nicht so viele Fotos von der Band. Ich habe vor, ein Buch über die ganze Geschichte der Band zu machen, einen großen Bildband mit Flyern, Plakaten, Postern, T-Shirts, Live-Fotos und so weiter. Und dann versuchst du, Bilder von den Jungs aus den Achtzigern zu bekommen, aber es gibt keine! Es gibt Sachen aus den Siebziger Jahren, von Decca Records, aus der Zeit der ganz frühen Platten, Promofotos und so, und dann gibt es zwanzig Jahre lang nichts. Als COCK SPARRER in den Neunzigern zurückkamen, kannte niemand den Schlagzeuger oder den Bassisten. Die konnten an dir vorbeigehen und niemand wusste, wie ein Mitglied von COCK SPARRER aussah. Jeder wusste, wie der Sänger von SHAM 69, ANGELIC UPSTARTS oder COCKNEY REJECTS aussieht, aber COCK SPARRER hatten immer was Geheimnisvolles an sich, und ich glaube, das war in gewisser Weise gut für uns. Es bedeutete, dass die Leute, sich selbst ein Bild machen konnten und nicht auf irgendwelchen Bullshit angewiesen waren.
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Diskografie
„s/t“ LP, Decca Spain, 1978; UK-Release als „True Grit“ 1987) • „Shock Troops“ (LP, Razor, 1982) • „Running Riot In ’84“ (LP, Syndicate, 1984) • „Guilty As Charged“ (LP/CD, Bitzcore, 1994) • „Two Monkeys“ (LP/CD, Bitzcore, 1997) • „Here We Stand“ (LP/CD, Captain Oi!, 2007) • „Forever“ (LP/CD, Chase The Ace, 2017)
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