100 KILO HERZ

Foto© by Michael Bomke

Der Punk ist nicht mit Sid Vicious gestorben

Die agile sächsische Ska-Punk-Kapelle hatte sich nach der Veröffentlichung ihres Debütalbums „Weit weg von zu Hause“ 2018 ausgiebig ins Tourleben gestürzt. Nun erscheint der Nachfolger „Stadt Land Flucht“, doch dieses live unters Volk zu bringen, ist in Corona-Zeiten nicht möglich. Was macht das mit den sechs Jungs? Und was ist nun anders an der neuen Scheibe? Das erzählten uns Rodi (voc/bs), Claas (sax) und Marco (gt) in einem Gespräch ganz ohne Masken, da per Mail geführt.

Touren geht zur Zeit ja leider nicht, aber die Vinylversion eures neuen Albums war schon vor dem Release ausverkauft. Da haben euch wohl einige Konzertgäste nicht vergessen können.

Rodi: Wir waren ja bis zum Beginn der Einschränkungen unterwegs und vor allem letztes Jahr sehr aktiv. An der Stelle möchte ich aber erwähnen, dass zum Zeitpunkt des Interviews die Platte insgesamt noch nicht ausverkauft ist. Aber innerhalb von wenigen Tagen war die hübsche goldene Vinyl-LP, die wir als Sonderedition aufgelegt haben, komplett weg. Das hat uns doch sehr überrascht.

Das Album beginnt mit der Singleauskopplung „Drei Jahre ausgebrannt“, worin ihr euren Feinden den Schierlingsbecher einschenken wollt. Ist das nicht ein bisschen sehr hart?
Rodi: Genau genommen schenken wir den ja nur ein. Ob die Menschen den dann auch trinken, bleibt ja offen. Spaß beiseite: Einem oder mehreren Menschen die Gläser vollzumachen, ist für mich ein Synonym für etwas Nettes. Mit diesem Lied ist es mit „nett sein“ vorbei. Rassismus und Sexismus sollten klar benannt und verurteilt werden. Die Hetze, die die Bild-Zeitung verbreitet, und der unreflektierte – und meiner Meinung nach unfassbar unlustige – „Humor“ in Til Schweiger-Filmen, der nur auf „Witzen“ über sowieso schon unterdrückte Menschengruppen basiert, sind verabscheuungswürdig, und den Menschen sollte bewusst sein, was sie da unterstützen – und dass sie es besser nicht tun sollten.

Nicht nur in dem Stück „Tresenfrist“ kommt das Thema Alkohol vor. Offenbar im Sinne eures Songs „Pass auf dich auf“. Aber ist das nicht auch ein Teil des Bandlebens, mal „einen über den Durst zu trinken“?
Rodi: Bei vielen Menschen, vor allem auch in der Punk-Szene, gehört das wohl dazu. Ich, der im letzten Jahr grob geschätzt zweieinhalb Gläser Bier getrunken hat und bei Konzerten prinzipiell nüchtern auf der Bühne steht, habe da einen Blick von außen. Aus diversen, sehr persönlichen Gründen habe ich eine sehr kritische Haltung zu übermäßigem Alkoholkonsum, sobald er ein gewisses Maß erreicht und unbedacht passiert. Da spielt auch oft die Sorge um Menschen, die mir am Herzen liegen, eine große Rolle. Das wurde dann in diesem Lied verarbeitet.

Ab dem vierten Song lasst ihr die Ska-Punk-Power etwas los, das Album wird abwechslungsreicher. War das mit dem Song „Träume“ bewusst so gesetzt?
Rodi: Tatsächlich war das einer der Songs, über dessen Position wir viel diskutiert haben. Mit jedem neuen Hören des Albums finde ich, dass er genau dort hingehört. Und obwohl musikalisch etwas das Tempo rausgenommen wird, empfinde ich ihn als einen der kraftvollsten Tracks des Albums.

Euer erstes Album hattet ihr selbst produziert, nun wart ihr bei Kurt Ebelhäuser, der schon PASCOW, MADSEN oder die DONOTS betreut hat. Dachtet ihr, jetzt suchen wir mal einen prominenten Producer raus und rufen den einfach an?
Marco: In der Tat ist es so, dass wir überlegt haben, wie wir bei dieser Platte ein wenig aus unseren gewohnten Strukturen ausbrechen können und ob ein unvoreingenommener Blick nicht hilfreich wäre. Wir wollten das einfach mal probieren und haben dann ein paar Booklets unserer Lieblingsbands durchgeblättert, und da tauchte ein Name immer wieder auf. Das war eben Kurt Ebelhäuser. Den ersten Kontakt hatten wir dann mit fast einem Jahr Vorlauf und das lief alles sehr geschmeidig. Wir haben einige Mails hin und her geschickt, ein paar Mal telefoniert, die Abläufe und Arbeitsweisen abgestimmt und das war es dann auch schon. Unser Wunschtermin war bei ihm noch frei und schon war alles gebucht.

Wie lief es mit ihm? Hattet ihr nicht Angst, dass er euch komplett durcheinanderwirbelt? Nach dem Motto: Jungs, das läuft hier anders!
Marco: Ja, hatten wir tatsächlich. Ich glaube, jeder von uns war extrem angespannt und aufgeregt. Keiner wusste, welche Erwartungen Kurt an uns hat, und keiner von uns wusste, wie er tickt, wie er arbeitet und wie das jetzt genau ablaufen soll. In den Vorgesprächen haben wir den Wunsch geäußert, dass er sich gern wie Rick Rubin einbringen darf und auch soll. Und innerhalb der Band hatten wir eindeutig festgelegt, dass wir nichts abblocken, uns auf alles einlassen und alles probieren wollen. Aber es war dann viel entspannter als gedacht. Er hat sich wirklich auf jeden einzelnen Song eingelassen. Einige blieben exakt so, wie sie im Proberaum waren. Ein paar Lieder haben wir mit ihm dynamischer arrangiert und hin und wieder ein bisschen mit zusätzlichen oder anderen Melodien gespielt. Wir haben alle eine Menge gelernt bei der Zusammenarbeit und sind als Team gut zusammengewachsen. Es gab hin und wieder hitzige, aber auch sehr fruchtbare Gespräche, die allerdings fast ausschließlich innerhalb der Band. Aber jeder ist hier an seine Grenzen und darüber hinaus gegangen. Ich möchte nicht unerwähnt lassen, dass auch Co-Produzent Michel einen ganz fantastischen Job gemacht hat. Sie haben sich die Arbeit gut aufgeteilt und sind beide zu einem großen Stück an dem Album beteiligt.

Zweimal kommen in den Songs Ampeln vor, und zweimal ... BUT ALIVE. Was für Bilder entstehen bei euch bei diesen beiden Dingen?
Rodi: ... BUT ALIVE“ beziehungsweise Marcus Wiebusch generell als Texter faszinieren mich seit Jahren. Auch wenn ein Mensch, der tief in meinem Herzen steckt, sehr recht hatte mit dem Satz neulich, dass seine gesamte Diskografie ein Musterbeispiel dafür ist, wie ein Mensch bürgerlich wird, so war er einerseits wahnsinnig wichtig für die Politisierung unglaublich vieler Menschen, hat feministische Themen angesprochen, bevor große Teile der Szene überhaupt darüber nachgedacht haben, und hat viele Dinge in seinen Texten, die ich auch mag. Ein Beispiel dafür wären bewusste Zitate, die die Menschen teilweise erst durch „Nachgraben“ erkennen. Ampeln haben für mich eine faszinierende Beständigkeit. In der Stadt, in der du lebst, weißt du meist genau, wann an welchen Stellen die Farbe springt. Das gibt einem teilweise ein „Zu-Hause-Gefühl“.

In „Der Späti an der Klinik“ singt ihr: „Diese Stadt macht mich kaputt [...] und wenn ich wählen kann, will ich nie woanders sein“. Welche Stadt ist da gemeint oder ist das eher eine generelle Metapher? Man braucht diese krude Verbindung zur Heimatstadt ...
Rodi: Nun ja, zu meiner ursprünglichen Heimat habe ich eine weniger gute Verbindung. Das dürften vor allem die Hörer*innen wissen, die das erste Album kennen. Die Umstände, das permanente Versagen der Lokalpolitik, das nächtliche Wegrennen als Teenager – darauf hätte ich gut verzichten können. Deshalb ist mir auch jegliche Form von Lokalpatriotismus suspekt und ist irgendwie für mich auch eine Vorstufe zur Liebe für ein Land. Was ich dem Ort, in dem ich lebe, maximal entgegenbringen kann, ist diese Hassliebe. Es ist weniger ein „hier ist es am schönsten“ als ein „überall anders ist es weniger erträglich“. Und das können vielleicht auch einige Menschen nachempfinden.

„Und aus den Boxen ... BUT ALIVE“ ist mein persönlicher Lieblingssong auf der Scheibe. Ist es inzwischen nötig, den SEX PISTOLS/THE CLASH/RAMONES-Opas mal aufzuzeigen, wir kamen zwar geburtsbedingt später als ihr zum Punkrock, aber unsere Bands waren genauso prägend wie eure alten Helden?
Rodi: Vielleicht liegt das an meinem Alter, aber ... BUT ALIVE“ zählen für mich auch zu den „alten Helden“. Ich bin definitiv kein Opi, aber ich bekomme auch Gänsehaut, wenn „Hateful“ oder „Train in vain“ läuft. Oder „Jemand lief Amok auf der ‚Mayday‘“. Ich bekomme aber eine ähnliche Gänsehaut, wenn AGAINST ME!, PASCOW, LOVE A oder MOBINA GALORE eine neue Platte ankündigen. Es gibt heute unglaublich viel gute Musik, das nimmt der von damals ja nichts weg. Wenn es Menschen gibt, die der Meinung sind, dass der Punk mit Sid Vicious gestorben ist, dann ist das so und ich muss das nicht ändern. Falls du das aber liest, dann sage ich dir: Du verpasst einige hübsche Sachen.

Ihr wirkt als Gruppe total homogen. Ist es leichter, zu sechst ein echtes Team zu sein als beispielsweise zu dritt?
Claas: Sechs Leute in der Band bedeutet auch sechs Meinungen und alles andere als Homogenität! Aber genau das ist auch gut so. Obwohl es nicht immer einfach ist, bei sechs, häufig sehr unterschiedlichen Meinungen und Ideen, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, so macht uns genau diese Vielfältigkeit aus. Viele Standpunkte haben wir schon bis zum Erbrechen und mit vielen Emotionen und Kompromissen im Proberaum diskutiert, bevor sich alle wieder lieb haben und wir uns auf eine gemeinsame Linie einigen. Aber ich denke, genau das zeichnet uns als gutes Team aus und genau das schätze ich auch an unserer sechsköpfigen Band.

Im letzten Song ziehen noch einmal mehr böse Gewitterwolken auf. Die Rechten haben gesiegt, das Militär kommt nun sogleich und es bleibt nur die Flucht, so weit weg wie nur möglich. Das habe ich mir auch schon ausgemalt. Spielt ihr den später live auch zum Ende des Gigs, um die Leute noch einmal wachzurütteln?
Rodi: Da ist noch nichts entschieden. Ich habe schon Ideen im Kopf, aber da dürfen auch noch fünf andere Menschen mitreden. Wenn es nach mir geht, bekommt der Song schon eine besondere Position. Es ist einer der Texte, in die ich die meiste Arbeit gesteckt habe – nicht nur bei diesem Album, sondern in meinem gesamten Leben. Und im Gegensatz zu all den Liedern, die immer noch aktuell sind, obwohl wir sie schon Jahre spielen, hoffe ich, dass dieses nie aktuell werden wird.

Zum Schluss: An was erfreut ihr euch im Alltag, und wie seht ihr den Lockdown der letzten Wochen. Darf man als Punkband auch einmal die eigene Regierung loben?
Rodi: In Maßen, aber nicht mit Maaßen. Die Schnelligkeit der Politik in dieser Situation war bemerkenswert, aber dann frage ich mich, ob nicht auch andere Selbstverständlichkeiten schneller entschieden werden könnten. Es hat Jahre gedauert, die Ehe für alle zu beschließen. Es gibt heute noch Gesetze, die Trans-Personen diskriminieren und unterdrücken. Ob der Entwurf der Grünen zum „Selbstbestimmungsgesetz“ durchkommen wird, steht auch in den Sternen – und es sieht eher schlecht aus. Davon, dass teilweise Initiativen, die sich gegen Ausgrenzung und Diskriminierung einsetzen, die Gelder von der AfD gestrichen werden, wollen wir gar nicht anfangen. Und noch so viele andere Sachen, da wäre ein gesamtes Interview nicht genug. Um zum ersten Teil der Frage zu kommen: Ich erfreue mich an Musik. An der, die wir zusammen machen, und an der von großartigen anderen Bands. Und aktuell bin ich vor allem froh zu wissen, dass es den Menschen, die in meinem Herzen sind, gut geht. Das ist generell wichtig, heute aber mehr denn je.