100 KILO HERZ

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Lesen, Augen auf und denken

Sicherlich, viele und gerade neue Bands möchten schnell im Ox interviewt werden, das ginge mir als Musiker ganz genauso. Doch als mich der Gitarrist Marco anschrieb, um mich auf seine neue Skapunk-Band hinzuweisen, war ich doch erstaunt und zugleich sofort bereit. Denn was für einen Einstand hatte die Band aus Leipzig da mit „Weit weg von zu Hause“ hingelegt, sie hat wirklich eine fehlerfreie Leistung abgeliefert. Das erinnert vom Überraschungseffekt her sehr an das Debüt von RANTANPLAN oder sogar an die älteren amerikanischen Heldencombos. Ich spreche darüber mit Sänger Rodi und Clemens, dem anderen Gitarristen der Gruppe.

Ox-Schreiber Frank Weiffen schob euch bei eurem Debüt sogleich in Richtung „Relevanz“. Wie geht man mit einem so großen Lob zu einem so frühen Zeitpunkt um?

Rodi:
Das war natürlich ein großes Kompliment. Generell versuchen wir mit Lob sehr vorsichtig umzugehen. Wir alle freuen uns natürlich darüber, nehmen aber nicht zu viel davon auf. Aktuell sind wir einfach sieben Typen, die zusammen Musik machen und unterwegs sind.

Und wie fanden die sieben Bandmitglieder zusammen?

Clemens:
Typische „Kneipenidee“, na ja, nicht ganz so romantisch, aber nah dran. Ich wollte schon immer eine Punkband mit Bläsern haben. Dann habe ich Rodi versprochen, ich ziehe da mal was auf. Fix Marco eine Mail geschickt, in einer Kneipe getroffen, Rodi angerufen: „Wir proben nächste Woche, bring mal deinen Bass mit!“ Marco hat die Bläser aufgetrieben – welch Glück! – und Falk habe ich dann noch eingepackt. So fügte sich eins zum anderen, geprobt, fertig, los!

Wie schnell schwimmt sich eine Band davon frei, so zu klingen wie ...?

Rodi:
Generell hängt es stark davon ab, wie genau die Menschen hinhören beziehungsweise wie viel Erfahrungen sie in dem jeweiligen Genre mitbringen. Ganz simples Beispiel: Ein Mensch, der ausschließlich Schlager hört, findet im ersten Moment wahrscheinlich nicht mal einen Unterschied zwischen SCHLEIM-KEIM und SLIME.

Clemens: Es ist natürlich auch erst mal leicht, eine Band in eine Schublade zu stecken oder mit anderen zu vergleichen. Ich denke aber, wenn man sich als Band treu bleibt und die Musik authentisch ist, dann passiert das Freischwimmen von ganz allein.

Im Song „Kleinstadtdisco“ geht es um das Problem der politischen Weitsicht bei vielen Landbewohnern und hier vor allem Jugendlichen. Hat das oft auch mit mangelndem Geld zum Reisen zu tun?

Clemens:
Wir kommen alle vom „Dorf“ und hatten leider alle Probleme mit Nazis, Wutbürgern oder Menschen, die „keine Nazis sind, aber ...“

Rodi: Als ich damals mit meiner ersten Band in unserer Kleinstadt ein Konzert hatte, wurde das von den örtlichen Faschos überfallen. Die Konsequenz davon war, dass uns verboten wurde, weitere Konzerte zu machen. Die Begründung: Wir haben ja keine Nazis bei uns, aber euer Konzert hat die angelockt.

Oder einmal anders gefragt, was könntet ihr als Tipp dagegen anbieten?

Rodi:
Besorgt euch Instrumente, macht Punkrock und fahrt fürs Spritgeld Konzerte spielen.

Clemens: Lesen, Augen auf und denken.

Rodi: Das ist auch gut. Oder, um die tollen Menschen von FAHNENFLUCHT zu zitieren: „ein bisschen Jugendarbeit und etwas mehr Geduld“. Außerdem mehr Weitblick und Ehrlichkeit der Politiker*innen. Wenn die Menschen nicht wegkönnen oder wollen, um Neues kennen zu lernen, sollten andere Kulturen den Menschen vor Ort zugänglich gemacht werden. Das benötigt nicht mal unbedingt finanzielle Unterstützung der Politik, aber wenigstens die Akzeptanz oder das Eingeständnis, dass das notwendig ist.

„Weit weg von zu Hause“ ist ein fantasievoller Titel. Aber auf dem Cover sehe ich einen Wohnwagen und einen heimischen See. Wie passt das zusammen?

Clemens:
Es ist ja ein Titel, der viel Raum für Interpretationen lässt. Es kann am Ende jeder und jede für sich entscheiden, was weit weg von zu Hause sein bedeutet. Aus Bandsicht bedeutet es das Reisen zu Konzerten und zu siebt eingeengt im Bus sitzen, im Backstage quatschen oder auf der Bühne stehen. Auf der anderen Seite ist es natürlich auch das Verlassen der Orte, an denen wir aufgewachsen sind.

Rodi: Mit dem Cover wollten wir dann zeigen, dass es auch schöne Plätze in den ländlichen Gegenden gibt, aus denen wir kommen. Wir hacken auf der CD viel auf den Dörfern rum und es ist ja nicht nur scheiße da.

„Pogo und Polka“ darf getrost als kommender Hit bezeichnet werden. Das riecht direkt nach einem Live-Video ...

Clemens:
Danke für die Einschätzung und schöne Idee. Vielleicht sollten wir mal darüber nachdenken.

Wie kam diese tolle Abnahme der einzelnen Instrumente zustande, was ja oft ein Problem im Skapunk-Genre darstellt?

Clemens:
Das liegt an unseren fantastischen Bläsern und deren Erfahrung. Zudem haben wir uns einen Mischer gesucht, der mit Ska/Punk gar nichts am Hut hat und eher im Hardcore oder Metal zu Hause ist. Irgendwie hat die Mischung dann einfach gepasst.

Rodi: Auf jeden Fall Gruß und Dank an Steffen von den Off the Road Studios und Johannes vom Feinklang Mastering. Vor allem dafür, dass sie es mit uns ausgehalten haben.

Jetzt könnt ihr mir ruhig einen Vogel zeigen, aber ich höre bei zwei, drei Songs ein wenig sogenannten Ostrock à la PUHDYS oder KARAT heraus, was ich absolut nicht negativ meine.

Rodi:
Jetzt erwischst du mich ein bisschen auf dem falschen Fuß. Unterbewusst ist da vielleicht etwas eingeflossen, wir sind ja alle zwangsläufig damit aufgewachsen. Aber privat legt keiner von uns am Freitag die alten Amiga-Platten auf.

Clemens: Ich wüsste auch gern, in welchen Songs du das hörst. Können wir sehr gern mal auf einem Konzert bequatschen. Du bist auf jeden Fall herzlich eingeladen.

Ich meine, es war bei „Träume“ und „30 Gramm“, aber egal. Wie bekommt eine so neue Band eigentlich eine Deutschlandtour mit unfassbaren 23 Gigs gebucht?

Clemens:
Darüber staunen wir auch etwas und das hat unsere Jahresplanung etwas über den Haufen geworfen. Wahrscheinlich werden wir insgesamt bei etwa sechzig Konzerten landen. Wir haben auch einfach Bock, mit den Songs unterwegs zu sein ... weit weg von zu Hause eben.