Für ihre neue Platte haben sich Julian Knoth, Max Rieger und Kevin Kuhn für vier Wochen zurück nach Stuttgart gewagt. Gegenüber der Oper nehmen sie 2023 im holzgetäfelten Gastraum eines ehemaligen Sterne-Restaurants, der Zirbelstubel, die kreativen Arbeiten für ihr sechstes Album auf. „Wir waren hier“, so lautet der Titel einer Platte, die mit dem Blick auf die Hochkultur in einem Raum entstanden ist, der Aspekte von Spießigkeit und Konsum symbolisiert. Dort spielt das Trio, nach eigenen Angaben mühelos und leicht wie in der Frühphase, eine Platte ein, die sich aus live bewährten Fragmenten und aus der besonderen Magie zusammensetzt, die dann entsteht, wenn sich die drei ausdrucksstarken Individuen unter der Flagge DIE NERVEN zusammentun. Thematisch dreht sich das Album um das fragile Zusammenspiel von Mensch und Natur, handelt von der Tatsache, dass sich beides grausam und wunderschön präsentieren kann. Beides kann zerstören und einzigartige, heilsame Momente schaffen. Ein weiterer wesentlicher Aspekt, der sich zwangsläufig anschließt, ist der Faktor Zeit. Die Zeit regelt, genauso wie die Natur. Nachträglich erscheint einiges anders und so kann eine Rückschau auf die Jugend („Achtzehn“) erst mit Abstand und der Möglichkeit zur Erkenntnis erfolgen. Fundamentale Themen wie Depressionen, das Selbstverständnis des Patriarchats, Selbstkonfrontation, Vor- und Nachteile von Vergänglichkeit und Prokrastination, bringen Julian und Max auf „Wir waren hier“ deutlich stärker mit sich selbst in Verbindung. Besonders Julian Knoth (EINERBANDE, PETER MUFFIN TRIO, DIE BENJAMINS ...) hat im Verlauf der letzten beiden Platten eine enorme Entwicklung seiner Performance hingelegt, singt jeden seiner Parts, als sei es sein letzter, und transportiert eine einzigartige Aufrichtigkeit, die tief berührt. Auch Kevin Kuhn, der bekanntlich viel zu tun hat (SCHARPING, live bei SHITNEY BEERS ...), findet seine Momente, weiß genau, wann er mit den Drums etwas an der Stimmung drehen, sie sublimieren oder eskalieren lassen kann. Und passend zum Kernthema Zeit katapultieren uns DIE NERVEN auf angenehme Weise mit Songs wie „Wie man es nennt“ und „Bis ans Meer“ wieder zurück in ihre Anfangstage. Max Rieger (auch ALL DIESE GEWALT) spielt von Melancholie durchtränkte Gitarrenmelodien, die sofort den Raum verdunkeln und leicht den Hals zudrücken. Mit ihrer letzten, titellosen Platte hatten sich DIE NERVEN bewiesen, dass sie konzentriert und akzentuiert komponieren und aufnehmen können. Dieses Mal fokussieren sie sich auf die Schwingungen innerhalb der Band. Alle drei Musiker sind gereift und scheinen blind zu wissen, wie man diese einmaligen DIE-NERVEN-Hits schreibt. Zeitkapseln, die tief verankerte Gefühle und Erinnerungen triggern, von denen man dachte, sie bereits überwunden oder verarbeitet zu haben.
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