Warum sich nicht zur Abwechslung einfach mal anpassen? Die ganze Welt spricht von Fake News, alles Lüge von vorne bis hinten. TV, Mode und Popkultur werden sowieso schon seit jeher von Illusionen und Plastik dominiert. Da liegt es nahe, dass das Noiserock-Punk-Trio DIE NERVEN diesen Trend aufgreift und mit seinem Albumtitel konterkariert. Deren viertes Album „Fake“ erscheint über Glitterhouse Records, die Band lotet diesmal die Extreme noch weiter aus und scheint gleichzeitig etwas mehr zu sich selbst gefunden zu haben. Wir sprachen mit Schlagzeuger Kevin Kuhn und Bassist Julian Knoth über das Phänomen DIE NERVEN, das sie selbst nicht wirklich greifen können.
Inspiriert durch Aussteiger-Freunde der Eltern von Bassist Julian Knoth, entstand die Idee, „Fake“ gemeinsam mit Ralv Milberg in der sonnigen Toskana zu vollenden. Letztendlich kamen die fehlende Ablenkung, die sonst durch spontan reinschneiende Freunde entsteht, und das komplette Herausreißen aus dem Alltag den NERVEN gelegen. Während das Vorgängeralbum „Out“ auf der Schwäbischen Alb aufgenommen wurde und es sich dort nach Aussage von Schlagzeuger Kevin Kuhn eher kalt und deprimierend anfühlte, lief der Aufnahmeprozess dieses Mal Ende September in Italien und begleitet von stetem Sonnenschein deutlich entspannter ab. Ein Spaziergang waren die Aufnahmen für „Fake“ trotzdem nicht, erinnert sich Kevin: „Für einige war es anstrengender als für andere und da würde dir wahrscheinlich auch jeder was anderes erzählen. Ich mag es, knietief im Album zu stecken und mich auf diese eine Aktivität zu konzentrieren. Es war schon sehr arbeitsorientiert. Wir sind gegen Mittag aufgestanden und haben uns dann nach dem Essen bis nachts an die Arbeit gemacht.“
Verschiedene Faktoren führten dazu, dass DIE NERVEN im Vorfeld kommunizierten, dass ihnen bisher noch kein Album so viel abverlangt habe wie „Fake“. Kevin kann einige davon benennen: „Wir waren zwölf Tage in der Toskana, damit fängt es schon mal an. Das Album ,Out‘ haben wir in fünf Tagen aufgenommen und ,Fun‘ in drei Tagen. Die Songs diesmal sind herausfordernder und wir haben auch viele Songs monate- oder sogar jahrelang mit uns herumgetragen und ausgearbeitet. Das haben wir vorher nicht so gemacht, die anderen Alben fingen sehr den Moment und den Sound der Band ein. Aber ,Fake‘ ist mehrdimensionaler. Durch das viele Touren hingen wir auch lange Zeit eng aufeinander, so dass man DIE NERVEN schon ein Stück satt hatte. Über drei Jahre haben wir DIE NERVEN am konkretesten verfolgt, es war immer Album und Tour, Album und Tour ...“
Darüber hinaus hatten DIE NERVEN auch noch ein zeitraubendes Theaterengagement mit dem Stück „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“, eine Aufgabe, die Kevin erst skeptisch sah: „Ich komme mit dieser Arbeitsweise eigentlich gar nicht klar, das hat mit Musikmachen, so wie ich es kenne, nicht sehr viel zu tun. Dieses Theaterstück hat uns auch erst mal davon abgehalten, konsequent an einem Nachfolgealbum zu arbeiten. Es war aber trotzdem gut und eine tolle Erfahrung, für die ich im Nachhinein dankbar bin.“
Viel abverlangt hat „Fake“ auch dem Produzenten Ralv Milberg, der DIE NERVEN ständig mit kühlem Kopf zu bestmöglichen Leistungen anstacheln musste. Ein hinkender Zeitplan und das Ansetzen eines Veröffentlichungsdatums, noch bevor DIE NERVEN den ersten Ton eingespielt hatten, sorgten für zusätzlichen Druck. Dem eigenen Anspruch gerecht zu werden, ist manchmal am schwierigsten. „Als wir das Lied ,Niemals‘ geschrieben haben, war es tatsächlich ein seltsamer Moment und ich war selbst verwundert, dass wir so was zulassen. Es ist surfig angehaucht und dazu dieser Dur-Akkord. Während ich mir mit der Gitarre in der Hand die Bridge ausgedacht habe, hat Julian den Refrain in Mikro geschrien und es hat einfach gepasst. In dem Moment hatte ich mich erst mal darauf gefasst gemacht, dass der Song noch dekonstruiert wird, aber wir haben ihn dann tatsächlich so gelassen“, erinnert sich Kevin an die Entstehung der zweiten Singleauskopplung. Die sonstige Kühle der NERVEN fehlt diesem Stück, Parallelen zum Song „Irgendwann geht’s zurück“ vom Album „Fluidum“ sind aber durchaus vorhanden. Gesang kommt weiterhin ausschließlich von Max und Julian, obwohl Kevin bei seiner anderen Band WOLF MOUNTAINS durchaus stimmliches Talent beweist und dort auch Texte schreibt. Für DIE NERVEN kann er sich das allerdings nicht vorstellen: „Mir liegt es einfach nicht, auf Deutsch zu texten und ich mag es, bei WOLF MOUNTAINS auf Englisch singen zu können. Aber Julian und Max können das irgendwie gut und ich eben nicht.“
Alle drei Bandmitglieder sind über DIE NERVEN hinaus noch in weiteren Bands aktiv. „Fake“ ist letztendlich sehr von diesen Erfahrungen der einzelnen Musiker beeinflusst und geprägt, so die Einschätzung von Kevin: „Vielleicht ist auch deshalb das Album diesmal abwechslungsreicher ausgefallen. Wir haben noch den Habitus, nicht zu proben. Ich habe das Gefühl, dass ich mich so als Schlagzeuger aber nicht weiterentwickeln kann, und deshalb ist es mir wichtig, auch in anderen Bands aktiv zu sein. Bei DIE NERVEN geht es eher um das Impulsive.“ Abwechslung ist ein treffendes Schlagwort, um „Fake“ zu beschreiben, darüber hinaus klingen DIE NERVEN 2018 deutlich ausdifferenzierter. Die Gegensätze werden konkreter, die Spitzen höher. Julian kann zum Stichwort „Impuls“ noch etwas ergänzen: „Das ist genau das, was ich so fantastisch an DIE NERVEN finde. Manchmal denke ich, dass wir mit der Band ein Monster erschaffen haben, das wir selbst nicht kontrollieren können, und genau das ist lustig und spannend.“
Hören DIE NERVEN also auf, wenn das Überraschungsmoment für die Musiker ausbleibt und sich kreative Wiederholungen einschleichen? „Die Angst sich zu wiederholen, die hat man immer“, erklärt Julian, „und die ist uns auch sehr bewusst. Deswegen ist es bei uns wahrscheinlich auch immer so intensiv. Gerade im Moment kann keiner sagen, was jetzt noch kommen soll. Das macht uns natürlich auch Angst und ich kann wirklich auch nicht sagen, ob wir noch ein Album oder eben keines mehr machen. Irgendwann muss wieder dieser Funke oder diese Idee da sein, die uns packt und uns antreibt.“
Mit dem Song „Frei“ gewährten DIE NERVEN einen ersten Vorgeschmack auf das kommende Album. Anders als manche meinen, geht die Band bei solchen Entscheidungen wie der Wahl der ersten Single demokratisch und sehr gezielt vor. Im Zeitalter von Streaming und bei der Masse an guten Bands ist es durchaus wichtig, mit welchem Licht man eine Platte anstrahlt. Was falsch und richtig ist, weiß man natürlich nie genau. Was früher richtig war, kann heute falsch sein und umgekehrt. Der Song „Alles falsch“ befasst sich genau mit diesem Thema. Der Text stammt aus der Feder von Bassist Julian: „Das ist die von mir viel besungene Ambivalenz. Ein Thema, das mich immer beschäftigt, weil ich auch selber aus mir nicht so schlau werde. Es ist letztendlich immer alles Ansichtssache.“ Wer braucht also noch falsch und richtig, um Dinge einzuordnen?
Wenn Julian Texte für DIE NERVEN schreibt, ist es ihm mittlerweile besonders wichtig, dass sie über mehrere Ebenen hinweg funktionieren, um eine gewisse Deutungsfreiheit zu bewahren. Die unterschiedlichen Interpretationen findet er dann wiederum sehr interessant. „Da ist dann auch alles zugelassen. Manchmal ist der Grund, aus dem ich einen Text geschrieben habe, ein ganz anderer als der, den die Leute darin sehen. Das macht es für mich spannend.“ Das Lied „Kann’s nicht gestern sein“ vom kommenden Album „Fake“ lässt auch mehrfache Deutungen zu, schraubt sich aus der Melancholie frei und eskaliert schon fast grantig: „Man kann es also auf einer Gefühlsebene deuten, hat vielleicht die Sehnsucht, dass es wieder so wird wie früher, man wieder Kind ist oder Fehler rückgängig machen möchte. In dem Song steckt von meiner Seite aus Nostalgie, Trauer, auf eine Art und Weise aber auch Zorn und Hoffnung.“ Auch hier kann und will sich Julian Knoth gar nicht festlegen. Dieses künstlerische Stilmittel gibt letztendlich jedem Hörer die Möglichkeit, etwas ganz Eigenes darin zu sehen, sich damit zu identifizieren und sogar Kraft daraus zu schöpfen. Toleranz anderen Meinungen gegenüber zu haben, bedeutet nicht, dass DIE NERVEN keine eigenen Standpunkte vertreten. Sexismus und Rassismus sind durchaus Themen, die sowohl Kevin als auch Julian rebellionswürdig finden. Rebellion mit Aufregung gleichzusetzen ist natürlich nicht gemeint.
Musik war früher besser, ist ein häufig geäußerter Vorwurf, zu dem Kevin sich wie folgt positioniert: „Musik war tatsächlich früher besser oder sagen wir eher, wie mit Musik umgegangen wurde. Heute ist es für unabhängige Künstler auch einfacher, weil alle theoretisch die gleichen Chancen haben, jeder kann auf der gleichen Basis Sachen veröffentlichen.“
Gerade in Stuttgart wurde in den letzten Jahren viel bemerkenswerte Musik von einer lebendigen, sich gegenseitig unterstützenden Szene veröffentlicht, weshalb die Presse Vergleiche zu Seattle und der damaligen Grunge-Szene ziehen. Wir wollen von Kevin wissen, ob das in den Augen von DIE NERVEN eine passende Nebeneinanderstellung ist: „Auf jeden Fall kann man sich über den Vergleich der beiden Szenen freuen. Es ist schon eine positive Assoziation. Aber dass wir Stuttgarter Bands uns gegenseitig unterstützen, das war auch nie anders.“ Ein wesentlicher Unterschied ist, dass die Stuttgarter Szene im Vergleich zur Grunge-Szene keine Galionsfigur hat. „Ich habe den Eindruck, dass eher deutschsprachiger, genervt klingender Noiserock gefragt ist als dieser Stuttgart-Stempel. Ich bin mir nicht sicher, ob die Überschrift Stuttgart irgendjemandem schon wirklich geholfen hat. LEVIN GOES LIGHTLY macht beispielsweise ganz andere Musik.“
Das Goethe-Institut schickte DIE NERVEN im Oktober 2017 nach Washington D.C. Da Max Gruber die Einreise verweigert wurde, traten Julian und Kevin unter dem Namen DIE NERVEN II nur mit Schlagzeug und Bass an. Die Amerikaner kamen in den Genuss alter rhythmusbetonter Stücke von „Asoziale Medien“ und einer Improvisation namens „Oktoberfest“. Die sprachliche und textliche Relevanz, die das Institut der Band mit dieser Einladung unter dem Motto „Geniale Dilettanten“ attestierte, ehrt die Band und besonders Kevin konnte sich damit einen langgehegten Traum erfüllen: „Ich hatte grob eine Vorstellung und letztendlich war es ganz anders dort. Das Land und dessen Popkultur finde ich ultra interessant. So viel Musik, mit der ich aufgewachsen bin und die ich wertschätze, kommt aus Amerika. Die Musik, die uns immer zugeschrieben wird, mit der habe ich eigentlich gar nichts am Hut. Ich habe auch keine einzige CD von den FEHLFARBEN und komme eher aus der SST- oder K-Records-Szene.“
Gerade das macht den Reiz von DIE NERVEN aus. Man weiß nicht wirklich, woher es kommt und wohin es geht, vieles findet zwischen den Zeilen statt und niemand kann sagen, wann es vorbei ist. Jetzt gilt es erst mal, „Fake“ zu genießen und sich auf die anstehende Tour zu freuen.
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