SEX PISTOLS

Never Mind The Bollocks, Here’s The Sex Pistols

Sich für Rock’n’Roll zu interessieren, ohne mit dem Schaffen der BEATLES und der ROLLING STONES vertraut zu sein? Undenkbar! Punk(fan) zu sein, ohne „Never Mind The Bollocks“ zu kennen? Unmöglich! Man muss kein Fan der SEX PISTOLS sein, man kann gerne behaupten (und das zu Recht), dass sie nur die genial vermarktete Spitze eines Eisbergs waren, der 1976/77 das Vereinigte Königreich rammte, und man kann kritisieren, dass ihr einziges Album im Gegensatz zu vielen anderen Punk-Platten mitnichten authentisch in einem Kellerstudio entstand, sondern unter den gleichen aufwendigen Bedingungen wie viele andere „normale“ Rock-Platten jener Zeit auch (dazu erschien vor einigen Jahren eine aufschlussreiche DVD-Doku).

Aber das relativiert nicht den ikonenhaften Status, den das Album bald erreichte. Wenn es darum geht, das eine Album zu bestimmen, das stellvertretend für Punk steht – man kommt nicht umhin, dieses Werk zu nennen.

Als die Platte am 27.10.1977 in England erschien, war schon das neonbunte, grelle Artwork mit dem nach Erpresserbrief aussehenden Artwork von Jamie Reid ein optischer Schlag in die Spießerfressen.

Großbritannien suhlte sich damals noch in vergangener Größe als Weltmacht, war wirtschaftlich angeschlagen, die Jugend perspektivlos – Jon Savage beschreibt diese Zeit eindrucksvoll in seinem Buch „England’s Dreaming“ – und stockkonservativ.

Und dann kam ab 1975/76 Punk und rotzte den blasierten Spießern in die Fresse, und keine andere Band spielte – with a little help from Malcolm McLaren – den Public Enemy No. 1 so gut wie Johnny Rotten, Sid Vicious und Co.

Man vergegenwärtige sich die bösartige Hetzer-Mentalität der Bild-Zeitung in einer anderen Zeit, als die Hemmungen noch geringer waren und die britische Sun als deren Drecksblatt-Vorbild auf Gesindel wie Punks losgelassen wurde – wenn der Volkszorn erwacht ...

Und der Volkszorn erwachte angesichts von an Schlagzeilen erinnernden Texten wie „I’m a lazy sod“ („Ich bin ein fauler Arsch“ – und das war von Rotten nicht negativ gemeint) „I am an anarchist, I am an antichrist“ (welch programmatische Kriegserklärung!) oder – im Jahre des Thronjubiläums der Queen – „God save the Queen and her fascist regime“ (im Deutschland jener Jahre hätte Helmut Schmidt den Pistols dafür sicher die GSG9 auf den Hals gehetzt und die Band in Stammheim einsperren lassen).

Beschäftigt man sich im Nachhinein mit der Reaktion der Staatsmacht und Öffentlichkeit auf die SEX PISTOLS, gewinnt man den Eindruck, als habe England seinerzeit keine anderen Probleme gehabt – Deutschland bekämpfte die RAF, das UK die SEX PISTOLS, wie absurd.

In diesem Licht betrachtet also ist und bleibt „Never Mind The Bollocks, Here’s The Sex Pistols“ das wichtigste Punk-Album aller Zeiten, dessen remasterte 2012er-Version in einem dicken Digipak erscheint.

Auf der einen CD gibt’s die zwölf Original-Albumtracks, dazu vier B-Seiten („No feeling“, „Did you no wrong“, „No fun“, „Satellite“), auf der anderen einen Live-Mitschnitt aus Stockholm vom Juli 1977 sowie drei Live-Songs aus Cornwall vom 1.9.77, und dazu ein dickes Booklet mit vielen Fotos und ausführlichen Linernotes.

Wer bislang dachte, er komme ohne dieses Album aus, sollte seine Meinung jetzt redigieren und sich einfach mitreißen lassen von diesen Hymnen wütender Teenager, die bis heute Schockwellen in jeden Winkel der Welt aussenden.

Wenn noch 2011 Punks in Birma nachvollziehbar erklären, wie die SEX PISTOLS und Punk ihr Leben verändert haben, müssen Lydon und Band etwas richtig gemacht haben.