Am 4. Juni 1976 spielten die SEX PISTOLS in der Lesser Free Trade Hall in Manchester, und die Legende besagt, dass jeder, der anwesend war, bald selbst eine (Punk-)Band gründete. Peter Hook war einer der rund 150, die dabei waren, in „Unknown Pleasures: Inside Joy Division“ beschreibt er die Szenerie eindrucksvoll.
Pete Shelley und Howard Devoto von den BUZZCOCKS hatten das (kleine) Konzert organisiert, neben Hook und seinen Bandkollegen war Morrissey vor Ort, Mark E. Smith von THE FALL, und der TV-Moderator und spätere Factory Records-Mitbesitzer Tony Wilson.
Irgendwas muss damals in der Luft gelegen haben, das in den folgenden Wochen und Monaten eine katalytische Wirkung entfaltete, die zwar musikgeschichtlich belegt, aber nur schwer nachvollziehbar ist, wenn man das Ereignis auf der Basis des vorliegenden Konzertmitschnitts beurteilt.
In bescheidener, blecherner Soundqualität hört man eine Band, die sich durch 13 Songs schrubbt, viele davon spätere Klassiker wie „No feelings“, „No fun“, „Pretty vacant“ oder „Problems“.
Es rumpelt, es ist mäßig spannender Rock’n’Roll – das soll damals so aufregend, der Zündfunke einer musikalischen Revolution gewesen sein? Muss es wohl, war es – rationale Bewertungen machen bei historischen Ereignissen wenig Sinn.
Diese Erkenntnis ziehe ich aus dem „Studium“ dieser aus vier LPs (oder auch CDs) bestehenden Box, die Universal zum vierzigsten Punk-Geburtstag veröffentlicht hat. Und: Wie schlimm es damals um die Musik insgesamt gestanden haben muss, dass dieser räudige Rumpelrock jeden, der ihn miterlebte, dermaßen elektrisierte und fanatisierte.
Welch Glück, dass wir, die erst später dazukamen, mit richtiger und guter Musik aufwachsen durften, die dröge Zeit davor nicht miterleben mussten. „Live ’76“ ist nicht mehr und nicht weniger als ein musikhistorisches Dokument.
Es besteht aus vier Pistols-Mitschnitten, neben dem erwähnten dem von der Show am 29. August 1976 im Screen on the Green in Islington (THE CLASH und BUZZCOCKS spielten auch), dem vom 17. September 1976 im Hochsicherheitsgefängnis von Chelmsford (angeblich ein Marketing-Stunt von Malcolm McLaren) und dem vom 25.
September 1976 im 76 Club in Burton on Trent. Jede Aufnahme wurde auf eine eigene LP gepresst, alle zusammen liegen in einer hochwertigen Pappbox, und in einem 12-seitigen Booklet gibt’s Fotos, Tracklists und Magazinausschnitte, unter anderem aus der Bravo.
Wirklich cool ist die zusammengetackerte Bewerbungsmappe von Glitterbest Ltd., der Managementfirma eines gewissen M. McLaren, in der jede Menge Zeitungsartikel und Flyer zu den SEX PISTOLS zusammenkopiert wurden.
Bleibt die Frage, wer so eine Box braucht: fanatische Fans und Musikhistoriker sowie Menschen, die sich aus welchem Interesse auch immer heraus en détail in die Ursuppe des britischen Punk eintauchen wollen.
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