Die Filmmusikaffinen erkennen es sofort, trotz der starken Bearbeitung: Das Motiv aus Ennio Morricones Musik zu „Spiel mir das Lied vom Tod“. Es ist der Auftakt zu einem der textlich intensivsten und intellektuell anspruchsvollste Punkalben der letzten Jahre, denn was David Mareau, Freddy Coste, Julien Virgos und Kevin Keisovsky von den NIGHTWATCHERS aus Toulouse mit „La paix ou le sable“ geschaffen haben, ist eine beeindruckende Kombination aus Punk-Album und Geschichtswissenschaft.
Nachdem sich die Band auf ihren beiden ersten Releases „Good Kids Obey“ (2016) und „Who’s To Blame“ (2017) mit dem Thema Strafverfolgung auseinandergesetzt hatte, kratzen sie diesmal auf enorm eindringliche Weise an der dünnen Kruste auf der schwärenden Wunde des französischen Kolonialismus in Indochina, Algerien und Kamerun.
Wo andere Bands gesellschaftliche Themen kommentierend und oft nur am Rande aufgreifen, haben NIGHTWATCHERS mit „La paix ou le sable“ ein Album fast in Form einer Doktorarbeit vorgelegt – zumindest, was die Intensität anbelangt.
Im Booklet zum Album erklären sie auf Französisch und Englisch (eine halbe Stunde Zeit muss man mitbringen) die Geschichte des französischen Kolonialismus, der Dekolonialisierung in den Fünfzigern und Sechzigern des letzten Jahrhunderts und dessen Auswirkungen auf die gegenwärtige französische Gesellschaft in Bezug auf Ghettoisierung und Diskrimierung der nicht „biofranzösischen“ Bevölkerung.
Ein spannender Aufsatz, bei dem man sich unweigerlich fragt, ob einer der Musiker dazu wissenschaftlich gearbeitet hat. In den englischen Songtexten setzt sich die Thematik fort, es geht um Morde an Kindern und Gefangenen, um Massaker.
Da fühlt man sich fast schuldig, wenn man dazu mitwippt, denn die Musik der NIGHTWATCHERS ist immer noch vibrierender, packender, melodiöser Punkrock mit Anklänge an WIPERS, ROCKET FROM THE CRYPT und HOT SNAKES.
Musikalisch exzellent umgesetzt und textlich von extremer Intensität – ich bitte darum, sich hiermit auseinanderzusetzen.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #150 Juni/Juli 2020 und Joachim Hiller
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