Dass Hardcore und Punk ja eigentlich dasselbe sind, wird heutzutage ja gerne ignoriert. Gerade die heutige „Hardcoreszene“ definiert sich ja eher über Style und Machotum statt Attitüde. Eine Band, die „klassischen“ Hardcore spielt – um den Begriff „Old School“ mal zu umgehen –, und genug Kritikfähigkeit und Wut besitzt, ist VITAMIN X aus Amsterdam. Die Band verschließt nicht ihre Augen vor dem derzeitigen Weltgeschehen, noch drischt sie in ihren Texten platte Phrasen. Nach dem Hören ihrer neuen Platte und dem Bestaunen ihres energiegeladenen Auftritts auf dem diesjährigen Fury Fest nahm ich mit dem äußerst sympathischen Gitarristen Marc per E-Mail Kontakt auf und schickte ihm ein paar Fragen.
Viele Leute sehen die Niederlande als sehr liberalen Staat. Würdet ihr das so unterschreiben?
„Die Niederlande werden wirklich für eines der liberalsten Länder der Welt gehalten, und wir sind sogar aus Amsterdam, wo alles ja noch liberaler ist, haha. Jeder weiß, dass Holland das einzige Land ist, in dem ‚sanfte Drogen‘ legal sind, Marihuana ist legal, Pillen können getestet werden und Spritzen gibt es umsonst. Die Prostitution wird als kleineres Geschäft gesehen und die Prostituierten müssen Steuern auf ihr Einkommen bezahlen. Euthanasie ist offiziell ungesetzlich, aber unter bestimmten Umständen, wenn jemand z.B. so große Schmerzen hat, dass er sterben will, und nach Absprache mit der Familie, ist es auch möglich. Für viele erscheint das alles komisch, aber für mich ist das normal, denn ich bin in Amsterdam aufgewachsen. Drogen sind für mich nichts besonderes. Für Touristen ist das hier so was wie ein Mekka, und sie sind die ganze Zeit high. Viele EU-Länder, besonders Frankreich, kritisieren die Niederlande für ihre liberale Einstellung und üben Druck aus, um die Drogengesetze zu ändern. Die Leute verstehen nicht, dass die relativ lockeren Drogengesetze einen positiven Effekt haben. Alle Statistiken zeigen, dass Holland das Land mit den wenigsten Drogenabhängigen ist. Frankreich und die USA haben aber die meisten. Für uns heißt das z.B., dass es weniger Leute gibt, die mit HIV infiziert sind. Das ist auch der Grund, warum VITAMIN X der Legalisierung der Drogen zustimmen. Nicht weil wir wollen, dass alle süchtig werden, sondern weil wir denken, dass dadurch immer weniger Leute drogenabhängig werden. Auf unserem neuen Album gibt es den Song ‚Bad trip‘, der sich mit dieser Sache auseinander setzt. Jedes Jahr geben die Regierungen hunderte Milliarden von Dollar aus, um die Welt drogenfrei zu machen. Fakt ist aber, dass Heroin, Kokain usw. billiger und leichter zu beziehen sind als je zuvor. Der Kampf gegen Drogen ist totaler Schwachsinn. Millionen von Leuten sitzen im Knast, weil sie einen Joint geraucht haben, und die Dealer werden nie gefasst und verkaufen fleißig weiter. Der Druck auf die niederländische Regierung ist weiterhin sehr hoch, und vielleicht werden in ferner Zukunft die Drogengesetze geändert. Die politische Situation hier ist zur Zeit eh sehr gespannt, es gibt viele Streiks, da die rechte Regierung sehr viele beschissene Entscheidungen gefällt hat.“
Findest du, dass man als Band heutzutage klare politische oder soziale Statements abgeben muss?
„Ja, natürlich ist das wichtig. Die Weltsituation ist sehr explosiv. Alle Länder haben rechte Regierungen, und ganz vorne sind die USA mit George W. Bush als Präsidenten dabei, der immer nach Gründen sucht, andere Staaten zu bombardieren. Jeder weiß, dass es im Irak keine Massenvernichtungswaffen gab, und es nur um Kontrolle von Geld und Öl geht. Der amerikanischen Waffenindustrie geht es richtig gut. So fuck them and their wars! Auf der anderen Seite gibt es noch die World Trade Organisation, die Weltbank und den IWF, die nur Werkzeuge der großen Konzerne sind, und denen es nur ums Geld geht. Sie sagen zwar, es würde um die Lösung von Problemen wie Armut, globale Ungerechtigkeit usw. gehen, aber alles, was sie machen, ist ihre eigenen Interessen zu schützen. Sie lösen keine Probleme, sondern verschlimmern sie noch. All diese Organisationen kümmern sich nicht darum, ob Leute sterben, in Armut leben oder keine Rechte haben.“
Was denkst du denn über Hardcore-Bands, die nur über das Thema „Straight Edge“ singen?
„Hardcore/Punk ohne politischen oder sozialkritischen Inhalt ist kein Hardcore/Punk. It‘s about rage and anger. Wir mögen keine Bands, die nur über Drachen, Höllenfeuer, Freundschaft, Backstabbing, Straight Edge oder gebrochene Herzen singen. Wir selber sehen uns zwar als politische Hardcore/Punk-Band, aber wir wollen trotzdem auch unseren Spaß haben. Wir wollen die Leute gleichzeitig zum Lachen und Nachdenken bringen. Wir versuchen ernste Themen in lustiger und sarkastischer Weise zu behandeln. Sarkasmus und Zynismus sind ein guter Weg, um Sachen verständlich zu machen. Die DEAD KENNEDYS haben das ja auch immer gemacht. Meistens schreiben wir Texte, weil wir wirklich sauer sind. Wenn wir Ungerechtigkeiten sehen, wie z.B. das Verletzen und Töten von Leuten durch Bombenangriffe, dann können wir unsere Augen nicht einfach verschließen.“
Ihr versucht also, die Leute zum Nachdenken zu bewegen, ohne dabei den Spaß zu verlieren.
„Genau, wir kombinieren beides. Wir haben die Band gegründet, weil wir Hardcore und Punk lieben und auch Spaß haben wollen. Wir haben die Schnauze voll von den ganzen militanten Macho-Metal-Hip-Hop-Bands, die sich selbst als Hardcore bezeichnen, und wollen Hardcore machen, wie er früher in den 80ern gespielt wurde. Neben der Musik und dem Spaß darf nur nicht vergessen werden, dass in dieser Welt so einiges falsch läuft. Wir sind einfach stocksauer. Unsere Regierung fällt völlig bescheuerte Entscheidungen. Und das ist der Grund, warum Hardcore so großartig ist: Wir kämpfen zusammen für eine bessere Wellt, gegen Unterdrückung, Armut, Rassismus, Sexismus, Umweltverschmutzung und viele andere Dinge. Die Massenmedien vertuschen die Wahrheit und zeigen uns nur die Sachen, die die Regierung uns glauben lassen will. Wir müssen uns selber und die Leute um uns herum unterrichten und informieren. In einer Band zu sein, gibt einem die Möglichkeit, seine Botschaft zu verbreiten denn man kommuniziert durch seine Texte. Für uns sind die Texte und die Musik gleichwertig. Viele der Songs auf unserem neuen Album ‚Bad Trip‘ handeln von Politik. In ‚Shut up‘ geht es um George W. Bush, einer der größten Lügner aller Zeiten, dass die US-Regierung Saddam Hussein geschaffen hat – ‚Master monster‘ –, um Armut – ‚Sleeping dogs‘ –, die Vertuschung von Wahrheiten durch die Massenmedien – ‚Left out‘ –, Wirtschaftskriminalität von großen multinationalen Konzernen, die Millionen von Menschen und Tieren quälen und töten, und immer damit davon kommen – ‚Free to kill‘.“
Meinst du, es ist wichtig, sich als „Straight Edge“ zu bezeichnen, wenn man weder trinkt noch raucht oder andere Drogen nimmt?
„Erstens muss man sagen, dass viele Leute, vor allem außerhalb Europas, gar nicht wissen, dass wir SxE sind, und das liegt einfach daran, dass wir keine Lieder darüber schreiben. Du glaubst gar nicht, wie viele Leute uns auf Shows Bier anbieten, haha. Ich denke nicht, dass es wichtig ist, als was man sich selber bezeichnet. Ich z.B. wurde nie SxE, ich lebe so wie jetzt, schon bevor Ian MacKaye den Song schrieb. Ich mag den Geschmack und Geruch von Alkohol und Zigarettenrauch einfach nicht, außerdem habe ich starke Trinker und Raucher in meiner Familie. Seit MINOR THREAT den Song draußen haben, scheint es so, als wäre ich SxE. Mir ist scheißegal, wie man mich nennt, denn ich lebe einfach mein Leben so, wie ich es will. Für uns als Band ist das einfach eine persönlich Einstellung. Es interessiert uns nicht, ob jemand Drogen nimmt oder Alkohol trinkt. Straight Edge sein, macht jemanden nicht zu einer besseren Person. Es ist viel wichtiger, ob jemand gegen Rassismus, Sexismus oder Homophobie ist.“
Was denkst du über dieses „Meat Edge“-Ding? Also, dass Leute sich selbst als Straight Edge bezeichnen, aber Fleisch essen.
„Das ist mir ziemlich egal. Wir sind schließlich keine Hardliner, die anderen Leuten irgendwas vorschreiben. Und so weit ich weiß, waren die frühen SxE-Bands in den 80ern auch nicht alle Vegetarier.“
Hättet ihr eigentlich gedacht, mit VITAMIN X so weit zu kommen, alleine was das Touren angeht?
„Wir hätten anfangs nie gedacht, dass wir mal eine Platte rausbringen oder in Japan, Brasilien und ganz Europa auftreten würden – es ist wirklich unfassbar. Auch wenn es Spaß macht, Platten aufzunehmen, am meisten macht es Spaß, auf Tour zu sein und Shows zu spielen. Man sieht viele großartige Bands, trifft Leute, die deine Musik mögen und lernt verschiedene Kulturen der ganzen Welt kennen. Das gibt einem die Energie, ständig weiter zu machen. In Brasilien traf ich einen Typen, der extra 17 Stunden gefahren ist, um uns zu sehen, und er hatte auch noch ein VITAMIN X-Tattoo. Das war unglaublich.“
Euer Sänger Marko ist ja auch noch in einer anderen Band involviert. Wie kriegt er zwei Bands unter einen Hut, wenn ihr so oft tourt?
„Marko spielt auch bei der linken politischen Oi!-Punkband HEROS & ZEROS mit, die zwei Platten auf Mad Butcher Records veröffentlicht haben. Wenn man so viel tourt, ist es unmöglich, einen festen Job zu haben, bei dem man fünf Tage die Woche arbeiten muss. Deswegen haben wir alle nur Teilzeitjobs, aber wir können immer frei nehmen, wann wir wollen. In einer Band zu spielen, erfordert viel Arbeit, Zeit und Hingabe, aber wenn man alles sorgfältig plant, ist es auch möglich in mehreren Bands zu spielen. Ich bin auch noch in einer 70er-Stoner/Doom-Metalband als Sänger und Gitarrist, und wir gehen bald ins Studio.“
Viele gute Bands, die wie ihr auf Havoc Records veröffentlicht haben, haben sich aufgelöst. Ist das alles vertraglich geregelt, um die Leute anzupissen? Und wann ist eure Zeit abgelaufen?
„Haha, genau. Felix Havoc zwingt alle Bands, sich nach einer Platte aufzulösen. Aber er hat Angst vor uns, denn wir sind aus Amsterdam und würden ihm mächtig in den Arsch treten, deshalb sind wir noch zusammen, haha. Aber im Ernst, ich verstehe auch nicht, warum viele gute Hardcore-Bands sich nach ein oder zwei Platten auflösen. Es ist wirklich blöd, da man als Band ja mit dem Alter wächst und immer besser wird. Viele Bands haben wirklich lange und mit viel Hingabe existiert. Ich weiß nicht, wann unsere Zeit kommen wird, aber so lange es uns Spaß macht, unsere Platten immer besser werden, und immer mehr Leute sich für uns interessieren, wird es wohl nicht soweit kommen. Wir haben gerade unser neues Album ‚Bad Trip‘ veröffentlicht, und die Reaktionen und Besprechungen sind extrem positiv, und man redet sogar von unserem besten Album. Wir sind alle sehr zufrieden mit uns, und hoffen, dass jeder, der klassischen, schnellen und rohen Hardcore mag, es sich mal anhört.“
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