Aller guten Dinge sind drei. Mit „Cave World“, Album Nr. 3, haben sich VIAGRA BOYS endgültig in der internationalen Post-Punk-Speerspitze festgesetzt. Beim neuen Studioalbum des Quintetts aus Stockholm ist aber einiges anders. Es ist das erste ohne Gitarrist Benjamin Vallé, der im Oktober 2021 verstorben ist. Und das erste, das nicht wirkt wie ein Tagebucheintrag von Sänger Sebastian Murphy, einem volltätowierten Exil-Amerikaner. Diesmal geht es um Echsenmenschen, Neandertaler und Mikrochips. Also die ganzen Spinnereien, die uns in den vergangenen zwei Jahren beschäftigt haben. Geblieben sind die rüpelhaften Videoclips und der pumpende, derbe Groove, den alle lieben. Es gibt einiges zu besprechen mit Keyboarder Elias Jungqvist.
Lass uns abtauchen in die Steinzeit. Ist „Cave World“ eine Art Konzeptalbum über die Rückentwicklung des Menschen zum Höhlenmenschen?
Alle in der Band sind große Fans dieser Verschwörungserzählungen. Wenn es um UFOs und Area 51 geht, sind wir sofort dabei. Wenn man sich aber mit all diesem Zeug beschäftigt, stößt man schnell auf sehr merkwürdige Menschen mit sehr speziellen Gedanken und Geschichten, an die sie glauben. Diese Leute verlassen sich nicht auf die Wissenschaft und die Fakten moderner Technologie. Durch Corona sind diese Typen plötzlich an die Oberfläche gespült worden. Alle diese Sucher nach Wahrheit konnten ihre wirren Theorien an den Mann bringen und sie wurden gehört. „Cave World“ ist ein Album über diese Menschen. Eine Art Verschwörungs-Rockoper.
Nur um sicherzugehen: Ihr seid aber Team Wissenschaft, oder?
Wir glauben definitiv an die Wissenschaft und irgendwann gewinnen wir hoffentlich auch mal den Nobelpreis, haha.
Euer Sänger Sebastian wurde von einem sehr speziellen Video getriggert, als er die Texte geschrieben hat. Worum ging es in dem Clip?
In diesem Video hat eine Frau die Wirkung des Corona-Impfstoffs erklärt. Was passiert, wenn man die Injektion bekommt. Es geht angeblich darum, dein Bewusstsein zu kontrollieren und dich mit einem weltweiten Netz von Mikrowellen-Antennen zu verbinden, hat sie erzählt. Dir wird ein winziger Mikrochip implantiert, der dann durch deine Blutbahn in die Lymphknoten wandert und letztlich in deinen Fingern landet, um zu kontrollieren, was du schreibst. Diese Frau war wirklich sehr strange, aber viele Leute haben ihr tatsächlich geglaubt. Ich konnte gar nicht nachvollziehen, wie man solchen Menschen folgen kann, und die komplette Gesellschaft ablehnt und wissenschaftliche Fakten leugnet. Mit Menschen, die so etwas glauben, kann man auch gar nicht mehr reden. Deshalb haben wir uns entschieden, über diese ganzen Typen ein Album zu schreiben.
Die Texte der ersten beiden VIAGRA BOYS-Alben wirkten noch wie Tagebucheinträge von Sebastian. Jetzt sind sie eher politisch. Er hat offenbar seine Perspektive geändert.
Definitiv. Bei „Cave World“ haben wir ganz anders gearbeitet als auf den ersten beiden Alben. Die Songs sind in verschiedenen Etappen entstanden. Zum Teil im legendären Silence Studio nahe Koppom mitten im Wald. Dort sind wir dann kollektiv in diese Gedankenwelt abgetaucht. Das hat sich einfach so entwickelt. Ich würde es als freie Form des Schreibens bezeichnen, was die Musik und die Texte betrifft. Ich bezeichne uns gerne als demokratischste Band der Welt.
Stimmt es, dass ihr das Album zweimal komplett aufgenommen habt, weil ihr beim ersten Mal mit dem Ergebnis unzufrieden wart?
Das stimmt. Wir haben fast alle Songs zweimal oder sogar mehrfach aufgenommen. Kennst du den Begriff „Demo-Sickness“? Wenn man seine Songs schon so oft gehört hat, dass man nicht mehr so genau weiß, was man eigentlich will? Ein Album zu schreiben, ist manchmal ein sehr chaotischer, kreativer Prozess. Man liebt die Songs, im nächsten Moment hasst man sie und umgekehrt. Außerdem haben wir verschiedene Fraktionen in der Band. Zum einen die Befürworter von muskulösem, dunklen Techno und dann gibt es die Punk-Fraktion. Und jeder will seinen Einfluss auf die Songs durchsetzen. Deshalb müssen wir manchmal eben verschiedene Versionen aufnehmen, um zu einem Konsens zu kommen. Die finalen Versionen haben wir übrigens im Riksmixningsverket-Studio aufgenommen, auf einer kleinen Insel in Stockholm. Das ist das Studio von Benny Andersson von ABBA. Ein wirklich toller Ort mit vielen klassischen Instrumenten, darunter legendäres Equipment wie der Synthesizer, mit dem sie ihr Album „Voyager“ aufgenommen haben. Den durften wir auch benutzen. „Cave World“ hat also auch einen Schlager-Vibe, haha.
Für mich klingt „Cave World“ anders als die beiden Vorgänger. Viel tanzbarer und irgendwie auch zugänglicher. Woran liegt das?
Das hören wir gerne. Wir alle lieben Alternative Music, aber wir sind auch alle große Fans von Popmusik. Einen guten Popsong zu schreiben, ist ganz schön schwer, denke ich. Es gibt viele Geschichten von Musikern, die aus dem Metal oder vom Hardcore kommen und gute Popsongs schreiben wollten, aber daran gescheitert sind. Darüber haben wir im Aufnahmeprozess viele Witze gemacht. Wir träumen davon, auch mal eine Show im Berghain in Berlin zu spielen. Das würde sicher gut funktionieren.
Ihr habt das Album wieder mit dem prominenten Produzenten Pelle Gunnerfeldt aufgenommen. Diesmal war aber auch ein Typ dabei, der sich DJ Haydn nennt. Wer ist das?
DJ Haydn aka Fabian ist ein wirklich verrückter Youngster. Unser Label Year0001 bringt auch Musik heraus, die überhaupt nicht klingt wie VIAGRA BOYS, und Fabian produziert viele von diesen Alternative-Dance-Acts. Er ist so ein Skatertyp mit Punk-Attitüde. Irgendwie ist er ein Arschloch, aber gleichzeitig auch ein Genie. Das schätzen wir an ihm. Pelle ist genauso. Als er seine ersten Alben mit den HIVES aufgenommen hat, hat er erst mal Streit mit der Band angefangen. Denn er glaubt, dass aus Freundschaft keine interessante Musik entstehen kann. Fabian hat die gleiche Herangehensweise. Du kannst wochenlang am perfekten Drumsound tüfteln, dann kommt er an und sagt, eine Drum-Machine tut es auch.
Diesmal hört man all die merkwürdigen Instrumente kaum, die ihr sonst benutzt, etwa Flöten und Rasseln. Die sind nicht so präsent wie sonst.
Wir müssten dir mal die Studiofiles zeigen, da würdest du jede Menge merkwürdige Klangquellen entdecken. Vor allem unser Drummer Tor hat Unmengen Metallteile wie Fahrradketten oder eine alte Sprungfeder von einem Aufzug benutzt. Er spielt am liebsten alles außer Schlagzeug. Stell dir vor, du wachst auf einer einsamen Insel auf, hast deine Instrumente vergessen und willst ein Album aufnehmen. Dann nimmst du eben all den Müll, der da so herumliegt. So klingen unsere Songs zum Teil. Dass man diese merkwürdigen Dinge nicht so deutlich hört, ist eine schlechte Nachricht für alle Instrumentenbauer, haha. Denn die werden irgendwann arbeitslos, wenn es auch ohne geht.
Welchen Einfluss hatte der Tod eures Gitarristen Benjamin Vallé auf die Platte?
Benjamin war ein einzigartiger Künstler und ein bedeutender Teil der Band. Als Gitarrist war er natürlich auch verantwortlich für die Härte unserer Songs, deshalb ist das Album vielleicht auch tanzbarer geworden. Gleichzeitig war Benjamin auch einer der größten Fans von Verschwörungsmythen. Er war unser Alien-Guy. Das hat uns auch zu diesem Album inspiriert, es ist wie eine Art Tribut an ihn. Er würde dieses Album lieben, das wäre absolut sein Ding.
Bei aller Veränderung gibt es aber auch eine Tradition, die ihr fortsetzt: die verrückten Videoclips, die inzwischen schon zu eurem Markenzeichen geworden sind. Wer liefert die Ideen dafür?
Wir stehen alle auf diese lustigen Clips. Wir sind alle große Filmfans, und wenn unsere Songs entstehen, schwirren immer auch gleich Ideen für skurrile Videos durch den Raum. Wenn wir keine Musik machen würden, wären wir wahrscheinlich Produzenten der teuersten und dämlichsten Clips aller Zeiten. Wir versuchen immer, die dümmsten Ideen umzusetzen, die sind aber leider immer sehr teuer. Meistens bringen wir Sebastian in irgendeine Meltdown-Situation, das macht riesigen Spaß. Für den Clip von „Punk rock loser“ zum Beispiel haben wir Sebastian in eine Western-Kulisse nach Rumänien geschickt, in der auch ein Film mit Nicole Kidman gedreht wurde. Wir waren sogar ein bisschen eifersüchtig auf ihn, weil wir auch gerne mitgespielt hätten, aber das war unserer Plattenfirma zu teuer. Deshalb ist er alleine geflogen.
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