VIAGRA BOYS

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Mit Jazz macht man nie was falsch

Gar nicht so einfach, einen von den VIAGRA BOYS an die Strippe zu bekommen. Nicht weil die Telefonleitung nach Stockholm so schlecht ist, sondern weil der Bandname unerwartete Schwierigkeiten in der Kommunikation mit sich bringt. Sämtliche Mails der Promo-Agentur verschwinden einfach im Spam-Ordner. Aber irgendwann klappt es dann und Bassist Henrik „Benke“ Höckert erzählt im Ox-Interview von „Welfare Jazz“, dem zweiten Album der schwedischen Post-Punker, und vom schlechten Aufschlag von HIVES-Sänger Pelle Almqvist.

Benke, wie ist die Corona-Situation in Schweden gerade? Bei euch haben sie doch jetzt die Strategie geändert. Zum ersten Mal wurden schärfere Einschränkungen beschlossen. Was heißt das für dich?

Es ist kein kompletter Lockdown, aber es dürfen sich nur noch maximal acht Leute treffen. Und wir sollen so viel wie möglich zu Hause bleiben. Es ist also eine Art Lockdown light und die Regierung appelliert an die Menschen, sich richtig zu verhalten. Das heißt, nichts ist illegal. Für mich hat sich also nicht viel geändert. Ich bin Zimmermann und gehe jeden Tag zur Arbeit. Den Rest der Zeit verbringe ich mit meiner Familie. Mit der Band können wir natürlich gerade keine Shows spielen, aber alles andere fühlt sich ziemlich normal an.

Ihr musstet ja eine bereits ausverkaufte Tour durch Europa im Frühjahr absagen.
Das war natürlich nicht schön. Wir müssen jetzt einfach neue Termine finden. Spätestens wenn der Impfstoff verfügbar ist, wird sich die ganze Lage entspannen und wir können wieder Konzerte spielen und als Band weitermachen.

Wie habt ihr als Band den Lockdown verbracht? Wart ihr kreativ, habt ihr neue Songs geschrieben oder wart ihr im Dornröschenschlaf?
Wir treffen uns also nur ab und zu unter der Woche abends im Proberaum und basteln an neuen Songs. Aber momentan müssen alle in der Band ihren normalen Jobs nachgehen. Ich bin wie gesagt Zimmermann. Unser Frontmann Sebastian ist Tätowierer, Saxophonist Oskar arbeitet in einer Küche, unser Drummer Tor kümmert sich um Proberäume, die die Regierung an junge Bands vermietet. Und Keyboarder Konie studiert noch, um irgendwann Musiklehrer zu werden.

Euer Sänger Sebastian ist der Einzige in der Band, der nicht aus Schweden kommt. Wie ist der bei euch gelandet?
Er ist in San Francisco aufgewachsen. Sein Vater ist Amerikaner und seine Mutter ist Schwedin. Als sie nach Stockholm gezogen sind, war er 17 Jahre alt. Das erste Mal habe ich ihn in dem Tattoostudio getroffen, in dem er arbeitet. Vor vielen Jahren war ich dort als Aushilfe tätig. Meine damalige Freundin war Tätowiererin. Sebastian hat dort auch als Aushilfskraft angefangen und wurde später selbst Tätowierer.

Erst vor ein paar Monaten habt ihr die 4-Track-EP „Common Sense“ veröffentlicht. Gibt es zwischen der EP und dem neuen Album eine Verbindung?
Die Songs sind auf jeden Fall in der gleichen Schaffensphase entstanden, kann man sagen. Es gibt also schon eine Beziehung zwischen „Common Sense“ und „Welfare Jazz“. „Common Sense“ ist schon unsere dritte EP. Wir mögen dieses Format einfach. Gerade wenn man als Band noch ganz am Anfang steht, ist es viel einfacher, mit einer EP zu starten als gleich mit einem ganzen Album. Ich selbst stamme aus der Punk- und Hardcore-Szene, da ist es völlig normal, ständig Vinyl-Singles und EPs zu veröffentlichen. Ich bin also mit diesen Kleinformaten aufgewachsen.

Was hast du vor VIAGRA BOYS gemacht?
Ich habe in einer Band namens PIG EYES Bass gespielt. Das war nicht unbedingt Hardcore. Und ich war mit einer Band namens NITAD aktiv. Das war Hardcore mit schwedischen Texten. Aber ich habe mich schon immer mehr zu den US-Hardcore-Bands hingezogen gefühlt. Schnell, laut und dreckig.

Wie kam es zu dem krassen Stilwechsel? Vom schnellen Hardcore zum groovigen Post-Punk? Das ist ja ein ziemlich weiter Weg.
Das hat sich wie eine ganz selbstverständliche Entwicklung angefühlt. Die erste EP von VIAGRA BOYS klang für mich noch ziemlich nach STOOGES oder SUICIDE. Und auch unser Debütalbum „Street Worms“ hat sich noch ziemlich punkig angehört, finde ich. Im Laufe der Zeit hat sich unser Sound natürlich verändert. Inzwischen haben wir viel mehr elektronische Elemente eingebaut. Ich finde, wir klingen auch ein bisschen bluesiger. Wir wollen uns ja nicht ständig wiederholen. Wir gehen einfach wieder einen Schritt nach vorne. Wir hören alle unterschiedliche Musik und holen uns da natürlich auch viel Inspiration.

Ihr hattet diesmal Sessions mit verschiedenen Produzenten. Unter anderem Pelle Gunnerfeldt, bekannt durch seine Arbeit mit THE HIVES und REFUSED, oder mit Matt Sweeney, der etwa TURBONEGRO produziert hat. Warum so viele?
Die meisten Songs auf dem Album haben Pelle Gunnerfeldt und Daniel Fagerström produziert. Die Sessions mit Matt Sweeney in Amerika waren schon vor einiger Zeit. Daraus haben wir auch nur einen Song verwendet. Das hat sich einfach so ergeben.

Warum habt ihr das Album „Welfare Jazz“ genannt?
Irgendjemand hat mal den Witz gemacht, dass alle Musiker, die Free Jazz spielen, finanzielle Unterstützung von der Regierung brauchen, weil sie sonst nicht überleben können. Deshalb haben wir unser Album „Welfare Jazz“ genannt. Den haben wir auch gewählt, weil es ein schöner Name ist, der gut über die Zunge geht. Und mit Jazz macht man nie was falsch.

Ihr habt immer ziemlich spektakuläre Videos. Auch der Clip zur ersten Single „Ain’t nice“ passt in diese Reihe. Sebastian torkelt angetrunken durch die Straßen von Stockholm und legt sich mit Passanten an. Wie viel vom echten Sebastian sehen wir da?
Man kann da den Sebastian sehen, wie er früher war. Wenn er was getrunken hat, kann er ziemlich aus sich herausgehen. Im Text erzählt er davon, dass er vor ein paar Jahren noch viele Drogen genommen hat und dann nicht besonders nett war. Er hat diesen Text geschrieben, als er noch eine langjährige Beziehung hatte, jeden Tag Drogen nahm und sich wie ein Arschloch verhalten hat, sagt er selbst. Er hat erst gemerkt, dass er seine Prioritäten falsch setzt, als es schon zu spät war. Dieser Song ist sehr persönlich, wie die meisten Songs von VIAGRA BOYS. Wenn er Texte schreibt, ist das für ihn wie Tagebuch schreiben.

In euren Texten nehme ich ziemlich viel Dunkelheit wahr. Woher kommt das?
Ich würde es mal als schwarzen Humor bezeichnen. Im Song „Creatures“ zum Beispiel singt Sebastian über die Anziehungskraft von Amphetamin. Und all die Leute, die Probleme mit dieser Droge haben. Er beschreibt, wie dieser Stoff bestimmte Kreaturen in dir weckt. Da kann er aus seinen eigenen Erfahrungen schöpfen, denn er war ein paar Jahre lang selbst abhängig. Inzwischen hat er damit aufgehört. Es gibt aber immer noch einige Leute in unserem Freundeskreis, die diesen Lebensstil nach wie vor pflegen. Die mit ihrer Abhängigkeit zu kämpfen haben und allem, was dazu gehört. Beschaffungskriminalität, Obdachlosigkeit und so weiter.

Politik scheint ja kein besonders großes Thema in euren Songs zu sein, oder?
Wir haben alle eine bestimmte Haltung. Wir sind gegen Rassismus und gegen Sexismus. Politisch würde ich uns ziemlich weit links einordnen. Aber als Band schreiben wir keine politischen oder Protestsongs. Wir sind nicht wie REFUSED. Sebastian schaut lieber auf sich selbst als auf die Welt da draußen.

Es gibt viele Rock’n’Roll-Bands in Schweden wie HELLACOPTERS oder all diese Retro-Rockbands wie GRAVEYARD oder BLUES PILLS. In diese Szene passt ihr mit den VIAGRA BOYS irgendwie überhaupt nicht rein.
Wir haben nicht wirklich eine Verbindung zu all diesen Bands. Mit ein paar von diesen Jungs sind wir zwar gut befreundet, aber wir hängen nicht zusammen herum. Weil Stockholm nicht besonders groß ist, kennt jeder jeden. Erst vor ein paar Tagen habe ich mit Pelle von den HIVES Tennis gespielt. Wir sind im selben Club und ich bin ein bisschen besser als er, haha. Außerdem kommen wir ursprünglich aus der Punk-Szene und haben mit Seventies-Rock nicht viel am Hut. Unsere ersten beiden EPs, „Consistency Of Energy“ und „Call Of The Wild“, sind beim schwedischen Punk-Label Push My Buttons herausgekommen. Wir wollen gar nicht Teil von irgendeinem Genre sein. Wir machen einfach die Musik, die sich für uns richtig anfühlt.