Dies ist der zehnte TURBOSTAAT-Artikel im Ox. Zwanzig Jahre gibt es die Band. Eine zufällige Häufung? Fanboymäßiges Ranschmeißen? Nichts von alledem ist wahr. Es muss wohl eher so sein, das Ox und die Band sich von Anfang an innerhalb der facettenreichen Punk- und Hardcoreszene schon immer so nahe waren, dass sich die Wege ständig kreuzten. Und, das ist wichtig, sich TURBOSTAAT nie aus dem Kontext, in dem das Ox sich heimisch fühlt, entfernt haben, wie das bei anderen Bands manchmal so ist. Aktueller Beweis: das im Januar erscheinende neue Album „Uthlande“. Über dieses, über 20 Jahre Band, versunkene Inseln und über alte Nazis in Flensburg sprach ich mit Sänger Jan Windmeier und Gitarrist Marten Ebsen.
Jan, während wir noch darauf warten, dass Marten sich in unsere Telefonkonferenz einwählt, können wir ja schon mal über ein Thema sprechen, auf das ich stieß, als ich mir zur Vorbereitung auf unser Gespräch mal alte Interviews durchlas sowie euren Wikipedia-Eintrag: Man findet kaum Hinweise darauf, wie bei euch in der Band die Rollenverteilung ist. Ist das so unwichtig?
Jan: Also eine der häufigsten Fragen in Interviews ist durchaus, wie ich mich dabei fühle, Martens Texte zu singen.
Sind es dann nur Interviewer wie ich, die so neugierig sind und wissen wollen, wer was im Hintergrund macht? Die Musik zählt, das dahinter ist nicht so relevant?
Jan: Ja. So funktionieren wir als Band ja auch, auch gegenüber der GEMA: da sind für jedes Lied wir alle als Komponist und Textdichter angegeben. Da nehmen wir nicht so eine komische Punkteverteilung vor, da sind wir alle fünf gleichberechtigt. Mal macht der eine mehr, mal weniger, aber das ist egal. Nur so funktionieren wir.
Steckt da auch ein mit Punk verbundener egalitärer Ansatz dahinter? Oder hat sich das so ergeben?
Jan: Nein, das ist schon so ein generelles Ding. Wir wissen alle, dass jeder von uns das alles nur mit den vier anderen in der Band machen kann, das alles nur gemeinsam erreicht werden konnte. Also stellt sich die Frage gar nicht.
Trotzdem ist die Rockmusikgeschichte voll von Beispielen, in denen in einer Band ein oder zwei Personen dominant bestimmen.
Jan: Das ist bei uns aber anders, und dann muss man auch damit klarkommen, dass man in der Band viel redet. Man muss viel Kommunikation betreiben, damit so was funktioniert. Und man muss auch akzeptieren können, dass man überstimmt wird, denn bei fünf Leuten kommt es häufiger vor, dass es drei zu zwei steht. Wir haben im Laufe der Jahre gelernt, dass das auch ok ist, mal zurückzustecken.
Hilft einem so eine Erfahrung, die ja getrieben ist vom Wunsch, dass die Band Bestand hat, im sonstigen Leben? Also in der Hinsicht, dass man wirklich geschult darin ist, Entscheidungen zu diskutieren? Das ist ja schon was anderes als so eine Einzelkämpfermentalität.
Jan: Ich weiß nicht, ob das durch die Band kommt oder ob wir das jeweils schon mitgebracht haben. Wir spielen mittlerweile so lange zusammen, dass das alles schon verwischt.
Marten: [Bing!] Hallo, ich bin jetzt auch da. Sorry für die Verspätung.
Jan: Ich glaube, wir haben da schon was mitgebracht, und dann hat die Band noch mitgeholfen. Man setzt sich ja die ganze Zeit mit Menschen auseinander. Man muss Lösungen finden, damit das alles miteinander funktioniert. Und damit das eine lange Zeit funktioniert.
Marten: Ich sehe das ganz genauso. Es ist nicht so leicht, alle Positionen in einer Band unter einen Hut zu kriegen. Aber auch gar nicht so schwer. Das muss man immer wieder aufs Neue lernen.
Hilft einem das im „normalen“ Leben dabei es auszuhalten, dass andere Menschen anderer Meinung sind?
Jan: Für mich ist das ganz normal und ich vertraue darauf, dass ich coole Menschen um mich herum habe, die mich darauf hinweisen, wenn es mal nicht so ist. Generell mache ich mir dazu nicht viele Gedanken, ich muss da nicht viel reflektieren, ich mache das einfach so.
Marten: Das Sich-Reiben und das Argumentieren, das man aus so einer Band kennt, das hilft sicher weiter. Es gibt eben Bereiche in einer Band, da muss man sich ständig einigen, etwa wann und mit wem man spielen will. Aber wenn es um Kunst geht, muss man auch mal seinen Film fahren. Man muss auch einfach mal nur die Welle reiten. Da muss sich dann auch mal einer durchsetzen und die anderen müssen das schlucken, dass sich einer durchsetzt. Denn es geht ja um Kunst im weitesten Sinne, um Musik, und da kann man ja oft gar nicht so richtig argumentieren.
Wie läuft der kreative Prozess bei euch ab? Fügt sich das alles irgendwie oder setzt ihr euch ganz gezielt zusammen? Alles ganz leicht oder eher mühselig?
Jan: Beides. Es kann sehr locker sein, aber auch mal sehr anstrengend. Wenn wir in einer Probe- oder Schreibphase sind, treffen wir uns alle zwei Wochen für ein paar Tage. Und da weiß dann jeder, dass man konzentriert arbeiten muss, an Dingen herumfeilt. Mal funktioniert das gut, mal nicht so gut. Man schafft sich einen Freiraum, in dem man nur für die Musik Zeit und Energie aufbringt.
Hat man auch einfach mal keinen Bock?
Jan: Bei mir war es noch nie so, dass ich keinen Bock hatte. Aber es kam auch schon mal vor, dass man aus so einer Probewoche rausging und hatte zwar das Gefühl, nicht so richtig weitergekommen zu sein, aber konnte das, was man hatte, zumindest etwas intensivieren. Ich hatte aber noch nie das Gefühl, meine Zeit verschwendet zu haben. Und du, Marten?
Marten: Ich schreibe ja relativ viel alleine zu Hause und da hatte ich bisweilen schon mal das Gefühl, dass ich eigentlich Bock hatte zu schreiben, aber dann wusste ich, wenn ich das mache oder jenes, dann gefällt das dem oder dem nicht, und dann war das so ein Gefühl, in einem Korsett bleiben zu müssen. Aber das kommt eher selten vor.
Jan: Das passiert, wenn man sich so gut kennt. Marten weiß etwa, wenn er zu Hause was schreibt und die Gitarre in einer bestimmten Weise spielt, dass dann andere ein Problem damit haben.
Marten: Das muss man dann irgendwie überwinden. Das passiert, wenn man mal länger nichts zusammen gemacht hat. Dann kommen diese Erinnerungen und die Gedanken an Grenzen und dann muss man das alles über Bord werfen und bei Null anfangen.
Eure Band ist damals „einfach so passiert“, ihr seid nicht Popakademie-Absolventen, die eine Band als Karriereentscheidung betrachten. Wundert man sich also auch mal, was da mit einem passiert ist und mit dieser Band?
Jan: Ja. In einer Band zu spielen, war immer cool, aber ich wundere mich jeden Tag, was so die letzten zwanzig Jahre passiert ist, und was aus dieser Band geworden ist.
Marten: Wer sich aber noch viel mehr wundert, das sind die Leute, die mit einem zu tun haben. Wir haben ja mit Menschen zu tun, die ihren Lebensunterhalt ganz normal bestreiten, und die wundern sich immer über unsere Strukturen, die begegnen dem, was wir machen, mit Kopfschütteln. Also wie wir miteinander reden, wie wir Sachen entscheiden, wie wir kommunizieren. Wir sind ja keine Firma, wir haben das nicht gelernt, sondern sind fünf Idioten, die versuchen müssen, mal irgendwo pünktlich da zu sein. Eigentlich kriegen wir das aber ganz gut hin. Und was ich gut finde: wir machen das demokratisch, es muss einstimmig sein. Außenstehende, die nicht unseren Background haben, finden das alles befremdlich. Mein Bruder etwa, wenn ich dem erzähle, wie wir in der Band Entscheidungen treffen, der findet das höchst komisch.
1999 bis 2019, zwanzig Jahre – ein rundes Jubiläum. Das wird ja immer gerne zum Anlass genommen für ... ja, wofür eigentlich? Reflexion, Nachdenken ...?
Jan: Beides. Und für eine Live-Platte. Hatten wir ja Anfang des Jahres. Sich bewusst werden, dass man seit zwanzig Jahren mit den gleichen Leuten das gleiche Ziel verfolgt, das ist schon abgefahren. Ein Grund zum Feiern also – so wie wir eben feiern, nicht mehr so dolle. Wir haben uns mit dieser Live-Platte gemütlich zu Hause hingesetzt und jeder von uns hatte ein zufriedenes Lächeln im Gesicht. Ist doch schön, einen Abriss der letzten zwanzig Jahre auf einer Platte zu haben. Eine coole Sache.
Das letzte Album „Abalonia“ kam Anfang 2016. Ich konnte kaum glauben, dass das schon fast vier Jahre her ist. Eigentlich eine ganz schön lange Zeit, oder?
Jan: Findest du? Ich hatte nicht das Gefühl, dass wir viel Pause gemacht haben. Erst haben wir viel live gespielt und dann die Live-Platte aufgenommen, das hat alles seine Zeit gebraucht. Es ist ja nicht so, dass man nur irgendwie hinfährt, ein Konzert spielt, das aufnimmt und veröffentlicht. Nein, das hat alles viel Zeit in Anspruch genommen.
Marten: Wir haben im Vorfeld ganz viel geplant, von der Setliste bis zum Ort der Aufnahme, wie wir das aufnehmen wollen, wie die Platte aussehen soll, was wir nicht machen wollen. Bis wir das alles klar hatten, hat sich das ganz schön gezogen. Das Aufnehmen war schnell gemacht, eine Woche später hatten wir schon den fertigen Mitschnitt, den wir dann mischen ließen. Das und das Artwork haben dann schon noch etwas gedauert. Das war alles schon viel Arbeit, die einen davon abhielt, neue Lieder zu machen. Das machten wir ja parallel.
Jan: Und Konzerte gespielt haben wir in der Zeit ja auch. Auf Tour sein, neue Lieder schreiben, die Live-Platte, viele Telefonkonferenzen ...
Wie viele Konzerte im Jahr spielt ihr?
Jan: Also wenn eine Platte rauskommt, dann spielen wir mehr, soviel kann ich sagen. Wie viele das genau sind weiß ich nicht. Vielleicht siebzig im Jahr, in dem eine Platte rauskommt? Ich weiß es nicht.
Das ist eine ganze Menge für eine Band, die sprachbedingt nur in Deutschland gehört wird und höchstens mal einen Abstecher nach Österreich oder in die Schweiz machen kann.
Jan: Eigentlich spielen wir nur in Deutschland, ab und zu mal in Österreich und der Schweiz oder man hüpft mal für ein Konzert nach Luxemburg rüber. In Prag haben wir vor Ewigkeiten mal gespielt.
Marten: Und in Finnland und in Schweden, aber das waren nur so kleine DIY-Konzerte vor zehn Leuten.
Ich muss da an die DONOTS denken, die mittlerweile zwar deutsche Texte haben, aber auch immer noch englische Albumversionen aufnehmen und damit im Ausland spielen und spielten. War das für euch nie eine Option?
Marten: Dazu gibt es in unserer Band unterschiedliche Meinungen. Da gibt es Leute, die total gerne ins Ausland fahren würden, und die anderen wollen lieber nur in Deutschland spielen. Da bekamen wir bislang keine Einigung hin.
Auf das „English Album“ müssen wir dann wohl auch noch eine Weile warten.
Marten: Das verbietet sich erst mal.
Jan: Ich glaube auch nicht, dass es zwingend notwendig ist, ein englisches Album zu machen, um im Ausland zu spielen zu können. Aber wie Marten schon sagte: Manche möchten total gerne da spielen, andere nicht.
Gibt es überhaupt Fans im Ausland?
Jan: Ich glaube schon. Ich habe aber auch noch nicht recherchiert, ob unsere Musik irgendwo im Ausland gestreamt wird.
Marten: Ich habe mich mal mit einem Amerikaner unterhalten, der großer TURBOSTAAT-Fan war und sich unsere Texte hat übersetzen lassen. Aber wahrscheinlich war das auch nur einer.
Eine Plattform wie DeepL übersetzt ja schon recht gut, aber ich habe Zweifel, ob bei teilweise ja recht abstrakten Texten wie denen von Marten ein Ergebnis dabei herauskommt, mit dem man was anfangen kann. Schon als Muttersprachler fällt einem eine Interpretation ja recht schwer
Marten: Haha.
Warum lachst du?
Marten: Nur so. Ich freue mich. Über deine Analyse.
Kommen wir mal auf das Album zu sprechen. Wird der Titel „Uthlande“ so gesprochen, wie man sich das denkt?
Jan: Ja, genau.
Der ist ja wohl eine Bezugnahme auf die Region, aus der ihr kommt, also Husum, ganz im Norden. Was will uns der Künstler damit sagen? Und mir kommen da natürlich auch Begriffe wie Heimat, Herkunft, Identität in den Sinn.
Marten: Erst mal ist es ja nur ein Albumtitel. Wir hatten verschiedene Vorschläge, auf die wir uns nicht einigen konnten, und dann kam schließlich dieser um die Ecke. Eigentlich ging es gar nicht um diesen Heimatbezug, auch wenn TURBOSTAAT sich natürlich in Husum kennen gelernt haben und man immer ein bisschen dahin zurückkehrt, wenn diese fünf Typen als TURBOSTAAT was zusammen machen. Aber ich glaube, da hört es mit der Heimat auch schon auf. Aber diese zum größten Teil untergegangene Welt da vor Husum, davon sind ja nur noch ein paar Inseln übrig, das fand ich als Bild ganz schön.
Greift man zu weit, wenn man da einen Bezug herstellt zu bald wohl vom Meer verschluckten Inseln und Küstenregionen als Folge des menschengemachten Klimawandels?
Marten: Nö, daran habe ich nicht gedacht. Jan, du?
Jan: Nein, an den Klimawandel habe ich auch nicht gedacht. Aber ich finde es schön, dass du als Interviewer daran gedacht hast, denn es ist ja vielleicht auch so. Aber es war nicht so, dass wir da in der Runde gesessen und den Bezug hergestellt hätten.
Was hat Husum als Stätte eurer Kindheit und Jugend heute noch für eine Bedeutung?
Marten: Für mich ist mit Husum gar nicht mehr die Stadt an sich gemeint, sondern diese ist eher die Kulisse, sie steht für die Ursuppe, aus der man kommt. Du bist Teenager, gehst auf Konzerte, lernst Leute kennen, die ticken wie du, lernst eine andere Art von Menschen kennen – das ist für mich dieses Husum-Ding. Also die Alternativszene dort, das Kleinstadtzeckending, wo man die unterschiedlichsten Freaks kennen lernt und mit denen auch klarkommt.
Bei Wikipedia steht: „TURBOSTAAT ist eine deutschsprachige Punkrockband aus Flensburg.“ Marten, du wohnst in Berlin, Jan auch, Tobert in Hamburg – Flensburg stimmt also auch nicht so richtig, oder?
Marten: Ja, aber eine Hamburger oder Berliner Band sind TURBOSTAAT auch nicht. Nach Flensburg fahren wir, um zu proben. Gedanklich verorte ich die Band dort. Diese ganzen Ursuppe, die Kultur, speist sich aus dieser Region, Flensburg, Husum, die ganzen komischen Ländereien da. Klar nehmen wir auch was aus unserem sonstigen Lebensumfeld mit, aber Hamburg oder Berlin, das ist TURBOSTAAT nicht.
Bands werden oftmals eben irgendwo verortet, AGNOSTIC FRONT etwa werden auf ewig eine New Yorker Band bleiben, wie MADBALL auch, obwohl Roger schon lange in Arizona lebt und Freddy in Florida. Für die Identität, die Legende einer Band spielt die Herkunft also schon eine Rolle.
Jan: Vielleicht für andere. Als ich noch in Flensburg wohnte, sagte ich zur Begrüßung bei einem Konzert auch mal: „Hallo, wir sind TURBOSTAAT aus Flensburg.“ Aber das habe ich gemacht, weil ich da gewohnt habe, ohne viel darüber nachzudenken. Erst danach habe ich mir überlegt, dass das ja gar nicht mehr stimmt. Tobi wohnt da nicht mehr, Marten in Berlin. Identität kommt eher über die Musik. Mir erzählen immer wieder Leute, dass das schon sehr norddeutsch klinge, was wir da machen, auch die Texte. Wenn das so ist, kann ich das selbst nicht beurteilen. Ich schaue mir nicht die Texte an und sage dann: Oh, das ist aber gar kein TURBOSTAAT-Text, das ist ja gar nicht norddeutsch! Dass das so ist, wie es ist, passiert einfach, weil man seine Entwicklung nun mal da oben erlebt hat.
Herkunft, Identität, Migration, das sind aktuell stark diskutierte Themen. Und es gibt im Falle von Geflüchteten eben auch den Fall, dass Menschen nicht mehr die Möglichkeit haben, aktiv einen Bezug zu ihrer Herkunftsregion herzustellen. Das kann einen ja durchaus dazu bringen darüber nachzudenken, wie wichtig – ob nun bewusst oder unbewusst – die eigene Herkunft für einen selbst ist.
Marten: Ich möchte das von so einer Heimatdüdelei trennen. Heimat ist ein Ort, an dem du aufwächst, und manche von uns sind eben an drei Orten aufgewachsen, weil sie viel umgezogen sind. Wie du dich als Mensch entwickelst, da spielt so eine Landschaft, die mit dir redet, die Gesellschaft oder wie bei uns eben die Alternativszene eine Rolle. Wenn du dich mit Syrern unterhältst, die jetzt hier leben, die haben natürlich auch diese Wehmut im Herzen, wie sie aufgewachsen sind, und das nehme ich erst mal so hin, ohne daraus irgendwelche Charaktereigenschaften oder so abzuleiten. Bei uns als Band besteht diese „Heimatverbundenheit“ aus uns fünf, wenn wir zusammen in einem Raum sind.
„Rattenlinie Nord“ ist der sehr starke Opener des Albums. Der Begriff „Rattenlinie“ ist mir bekannt, seit ich als Jugendlicher „Die Akte Odessa“ von Frederick Forsyth gelesen habe, wo es fiktiv um die reale „Rattenlinie“ geht, mittels derer nach 1945 Nazis unter anderem mit Hilfe der katholischen Kirche zur Flucht nach Südamerika verholfen wurde. Was war die „Rattenlinie Nord“ – und aus welchem Film stammt der Dialog, der in eurem Lied zu hören ist?
Marten: Der Ausschnitt ist aus dem Film „The Memory of Justice“ von Marcel Ophüls. Der traf dafür damals diese ganzen alten Nazis und führte mit denen Interviews. Der war lange umstritten, ist aber ein ganz guter Film. Tja, und das Lied nun ... ich tue mich immer schwer, so was zu erklären. Ich finde, das liegt ja klar auf der Hand. In Flensburg haben sich nach dem Krieg die ganzen Nazis versteckt, zum Teil aber auch ganz normal gelebt oder einfach weitergemacht. Ich habe in dem Text einfach aufgeschrieben, wie das damals war. Die Beispiele aus dem Text, das ist einfach das, was da so war. Und dann landet man eben schnell bei diesen Nazitypen. Das Prinzip Pflichterfüllung, Korpsgeist, wie schnell sich so was wiederholen kann.
War das ein speziell norddeutsches, Flensburger Problem? Nach Hitlers Selbstmord am 30. April 1945 hatte unter Führung von Admiral Karl Dönitz die letzte Regierung des Deutschen Reichs bis zur Kapitulation am 7. Mai 1945 ihren Sitz in Flensburg.
Marten: Ja, die letzte Reichshauptstadt war Flensburg. Dönitz hatte sein Hauptquartier in der alten Marineschule, dort hat er auch kapituliert. Und in diesem Stadtviertel war die letzte Bastion der Nazis, von dort aus haben die sich abgesetzt oder das versucht, haben sich neue Identitäten verschafft. Und parallel zur „Rattenlinie“ über Italien nach Südamerika gab es eben bei uns die „Rattenlinie Nord“, wo die Nazis versucht haben, sich auszuschleusen.
Jan: Und Dönitz ist es auch, den man in diesem Filmausschnitt hört in unserem Lied.
Beim bewussten Hören des neuen Albums dachte ich mir immer wieder, dass TURBOSTAAT eigentlich gar nicht so hart sind für eine Punkband. Versteht mich nicht falsch, Punk muss nicht hart sein, aber ich habe mich eben gefragt, ob eure Musik, die für mich und euch ja selbstverständlich ist, wohl von jemand, der jung ist und Krawallpunk will, so ohne weiteres als Punk identifiziert wird.
Jan: Ich finde das nicht so schlimm. Wenn wir im Proberaum sind, ist es auf jeden Fall laut, und auf dem neuen Album sind Lieder drauf, die für mich totale Brecher sind. Für mich ist das okay, wenn du sagst, das ist gar nicht so Punk. Für mich ist Punk ja auch ein bisschen anders. Wir machen das, was wir wollen, worauf wir Bock haben, und wie das dann auf den Tonträger kommt, ist ein Produkt von uns fünf. Für einige ist es Punk, für andere nicht – alles okay, in meinem Leben nenne ich das weiterhin Punk.
Marten: Wir haben das „Freischwimmen“ schon ganz zu Beginn hinter uns gebracht. Die alten Platten klingen ja genauso wie die neue, also prinzipiell. Seitdem haben wir uns weiterentwickelt, auch mal neue Sachen zugelassen. Bei der neuen Platte haben wir jetzt eigentlich unserer Meinung nach das Gegenteil gemacht von dem, was du so gesagt hast, und was für TURBOSTAAT-Verhältnisse auch ein hohes Tempo hat. Wir hatten eher das Gefühl, dass die neue Platte konstant durchballert und man kaum mal einen Moment zum Durchatmen hat. Ästhetisch spielt Punkrock für uns schon eine Rolle, wir treffen uns ja nicht, um Elektrofunk zu machen. Bass, Gitarre, Schlagzeug – und fertig.
Mir begegnete heute morgen jemand mit EXPLOITED-T-Shirt, und ich fragte mich, wer heutzutage noch auf ein Konzert von denen geht – ich schätze mal, da werden dann doch ganz andere Bedürfnisse befriedigt als bei einer TURBOSTAAT-Show. Das war auch so mein Hintergedanke zur Frage eben.
Marten: 1977 gab es aber ja auch schon Bands, die nicht wie EXPLOITED klangen. Punk war für mich schon immer eine sehr bunte Kultur, und das nicht nur auf die Haare bezogen, sondern auch von den Typen und Menschen und der Musik her. Später kam noch Hardcore dazu, die Grenzen zum Metal verschwammen, und dann THE CLASH und die ganzen Artpunk-Leute ...
Das, was sie privat so hören, ist bei vielen Musikern oft ganz was anderes als die Musik der eigenen Band. Gibt es bei euch Vorlieben und Einflüsse, die nur ihr benennen könnt, die man eigentlich gar nicht heraushören kann?
Marten: Über die Zeit sind immer mal neue Sachen reingekommen. Und manchmal kommen auch ganz komische Sachen rein. Manchmal funktioniert das auch anders, als du jetzt vielleicht denkst. Bei der zweiten Platte, „Schwan“, etwa haben wir einen Grundakkord von TAKE FIVE genommen. Solche Inspirationen gab es schon immer, aus ganz verschiedenen Ecken, auch wenn man diese Herkunft dem fertigen Lied dann nicht anhört. Manche von uns interessieren sich auch für ganz abstruse Musik, für Soundcollagen, Freejazz, äthiopische Folklore und so weiter, man kann sich ja alles Mögliche mal anhören. Mich interessiert so ganz generell viel Kram.
Wenn ich mir aber vorstelle, was eine aus dem Punk-Kontext stammende Band wie THE EX in all den Jahren aus ihren Einflüssen gemacht hat, ist Punk da maximal noch die Idee. Im Vergleich zu denen hört man bei euch von äthiopischer Folklore rein gar nichts. Findet das also eher im Kopf statt?
Marten: Ja, das ist dann vielleicht mal ein Gesangseinsatz, den man so woanders gehört hat. Man läuft eben durch die Welt und saugt überall was auf. Die Ursuppe, das, woraus wir kommen, das ist ja sowieso schon da, das ist der musikalische Raum, in dem man sich trifft. Aber dorthin bringt jeder irgendwelchen musikalischen Quatsch mit.
Was hat es mit dem „Brockengeist“ auf sich – oder muss ich da Ox-Kollege Christoph fragen, weil der sein Büro da ganz oben auf dem Berg hat?
Marten: Das ist ein feststehender Begriff. Das ist so eine Luftspiegelung, wenn man da so auf den Berg hochläuft, alles nebelig ist und man das Gefühl hat, dass man verfolgt wird. Außerdem ist es ein witziges Wort.
Jan: Und ein Schnaps ist es auch. Aber damit hat das nichts zu tun. Oder vielleicht doch.
Beim letzten Album war noch von einem Produzenten – Moses Schneider – die Rede, in meinen Unterlagen zu „Uthlande“ findet sich dazu aber kein Hinweis. Habt ihr diesmal alles selbst gemacht?
Marten: Nein, den Produzenten gibt es noch. Wir haben das wie immer gemacht, Moses hat das aufgenommen, zusammen mit Tim Tautorat. Peter Schmidt hat das gemischt, und Michael Schwabe gemastert. So wie letztes Mal, bei „Abalonia“.
Jan: Seitdem ist das unser Team. Moses begleitet uns ja schon viel länger, und er ist auch derjenige, der Ideen im Kopf entwickelt, wenn er uns im Proberaum besucht. Der weiß dann, welches Studio am besten zu uns passen würde, mit wem er das zusammen machen will. Wir waren auch diesmal wieder im Hansa Studio, mit Tim Tautorat, und Peter Schmidt hatte er zum Glück mal als Mischer vorgeschlagen, und der hat, das können wir rückblickend sagen, diese Band sehr schnell verstanden. Der hat tolle Ideen, hat einen Grundsound gemischt, an dem man nicht mehr viel rummäkeln musste. Der wusste auch bei der Live-Platte gleich worum es geht, dass die Publikumsgesänge sehr laut sein müssen etwa. Wir waren glücklich, dass er auch wieder Lust hatte, „Uthlande“ zu mischen.
Marten: Das sind ja alles super Leute, die viel, viel Geld kosten und es für uns dann auch mal etwas günstiger machen. Wir sind glücklich, mit solchen Leuten was zusammen machen zu können.
In der Zeit seit dem letzten Album hat sich das Musikgeschäft stark verändert. Vinyl ist klar, aber macht ihr überhaupt noch eine CD? Und braucht noch jemand ein Album, man kann doch auch zehn YouTube-Videos machen? In den zwanzig Jahren, die es euch nun gibt, wurde alles, was man einst für gesetzt hielt, auf links gedreht.
Jan: Wir denken immer noch in Alben, in Vinyl, in A- und B-Seite. Unser Hauptaugenmerk liegt auf der LP, aber CDs werden wir auch noch machen. Streaming ist natürlich wichtig geworden, aber wir sind alt und knorrig und kennen uns damit überhaupt nicht aus. Zum Glück haben wir aber Leute, die sich da besser auskennen und uns Tipps geben, wie das heute so funktioniert. Wir vertrauen denen, die machen das, aber wir denken da wenig drüber nach. Wir machen ein Album mit A- und B-Seite, versuchen eine ausgewogene Songreihenfolge hinzubekommen, wollen, dass das gut klingt, dass die Platte schön aussieht, und dann hört es auch schon auf. Für den Rest verlassen wir uns dann auf die Leute um uns herum, die dann vielleicht vorschlagen, doch mehr als ein Lied vor Albumrelease zu veröffentlichen.
Das Live-Album hattet ihr auf eurem eigenen Label 18Null9 veröffentlicht. Das Studioalbum ist jetzt doch wieder bei PIAS.
Marten: Für PIAS war das schwer, so ein Live-Album umzusetzen. Die arbeiten kommerziell, aber wir wollten diese Doppel-LP mit Buch machen und da tauchten dann so viele Schwierigkeiten auf, dass wir das lieber selbst gemacht haben – was für die auch okay war. „Nachtbrot“ war so ein Ding für uns selbst und unsere größten Fans, damit ließ sich nicht so richtig was verdienen.
Was hat es mit dem Albumcover auf sich? Kennt man den Künstler?
Jan: Das ist ein echter Ebsen!
Marten: Mein Opa Christian ist schon lange tot, der war Marine-Maler, der hat so was gemalt, der hat sein Leben lang gemalt. Auch das Motiv auf unserem aktuellen Bühnen-Backdrop, diese Wellen, ist von ihm. Und das Bild, das passte einfach gut zum Titel. Ich stand bei meinen Eltern vor dem Bild und dachte mir, ich schlage das den anderen mal vor. Mir gefällt es, dass wir jetzt ein Cover von meinem Opa haben. Es geht auf der Platte ja um Reflexion, um Selbstreflexion, das ergab einfach Sinn.
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