Im Rausch entstehen bekanntlich die besten Ideen, wie oft haben wir schon nach dem Genuss alkoholischer Köstlichkeiten die Welt verändert, die Revolution angeleiert. Meist ist am nächsten Morgen alles vergessen, die Ideen verflogen, die Revolution abgesagt. Im Falle des STIMMGEWITTER AUGUSTIN, jenem von einer Wiener Straßenzeitung initiierten Obdachlosenchors, hingegen entsprangen einer launigen Suffidee vier Tonträger – zwei davon mit den Wiener Punk-Heroen SEVEN SIOUX, einer mit Unterstützung von Bands und Persönlichkeiten wie JA PANIK, TEXTA, Schorsch Kamerun, Bernadette La Hengst oder Fritz Ostermayer, sowie allerlei umjubelte Auftritte, jüngst beispielsweise als Vorband Jello Biafras in der Arena Wien. Ich hingegen war völlig nüchtern, nach Genuss der beiden jüngsten Veröffentlichungen höchstens im Rausch der Begeisterung, als ich die Idee zu diesem Interview gebar und mir die folgenden Fragen einfallen ließ, beantwortet von Mario und Riki vom Augustin, Rainer von SEVEN SIOUX, sowie den Chorknaben und -mädchen Hömal, Martin, Oskar, Ernst, Heidi und Hans.
Wie ist es so, für jemanden wie Jello Biafra zu eröffnen?
Hömal: Ein großes Vorspiel. Wir durften vor 300 Menschen singen, anstatt vor 50 bis 100 wie im Normalfall.
Mario: Um ehrlich zu sein, die Hälfte des STIMMGEWITTERs hat Biafra mit Afrika und dem Biafra-Krieg Ende der Sechziger in Verbindung gebracht. Das liegt daran, dass im Altersvergleich zum STIMMGEWITTER Jello Biafra als Jungspund gilt.
Martin: Als ich Jello Biafra nach unserem Konzert erlebt habe, wusste ich, wir waren besser. Wir brauchen keine Show zu machen, wir sind eine.
Riki: Angeblich soll er gesagt haben: „What a good idea that SEVEN SIOUX have their nice little choir – I don’t want boring punk bands over and over again, give me more of that!“
Das STIMMGEWITTER AUGUSTIN agiert ohnehin stets nahe am Punk, bedient sich gerne linker Inhalte. War diese Grundhaltung bei euch immer schon da oder prägt das Leben auf der Straße in diese Richtung?
Martin: Die Linkslastigkeit war bei den meisten von uns schon von Haus aus gegeben. Das Leben auf der Straße hat diese Haltung nur noch verstärkt.
Riki: Begonnen hat alles als linker Gesangsverein mit großer Kitschlastigkeit. Wir haben „Weiße Rosen aus Athen“ genauso gesungen wie das „Solidaritätslied“.
Mario: Wir stehen insofern in der Punk-Tradition, weil wir das tun, was wir nicht können, nämlich singen. Wir beherrschen nicht einmal die viel zitierten drei Akkorde.
Wie kam es überhaupt zur Idee, einen Obdachlosenchor zu gründen? Und was ist die Rolle des Augustin bei der ganzen Sache?
Mario: Böse ausgedrückt ist das STIMMGEWITTER im wahrsten Sinne des Wortes ein Rauschkind, das ist unser Gründungsmythos. Riki, Sozialarbeiterin der Straßenzeitung Augustin, und ich, Fotograf der Zeitung, haben beim Volksstimme-Fest, dem jährlichen Fest der Kommunistischen Partei Österreichs, unverschämt viel Alkohol konsumiert. Im nicht mehr einwandfreien Zustand ist uns dann die Idee gekommen, als Freizeitangebot für unsere VerkäuferInnen einen Gesangsverein zu gründen. Das war jetzt vor genau zehn Jahren. Inzwischen ist aus diesem Freizeitprojekt – wir haben ursprünglich hauptsächlich, sozusagen als Behübschung, bei internen Festivitäten gesungen – eine zusammengeschweißte Band entstanden, die mittlerweile vier Tonträger aufgenommen hat.
Riki: Der Augustin ist eine Straßenzeitung, etwa vergleichbar mit „Hinz & Kunzt“ aus Hamburg. Darüber hinaus gibt es noch eine Vielzahl anderer Projekte, wie Radio, Fernsehen, eine Theatergruppe, eine Fußballmannschaft, diverse politische Aktionen, im Rahmen des Augustin.
Inwieweit fließt das Leben auf der Straße in eure Darbietung mit ein? Hat das Projekt Selbsthilfecharakter?
Oskar: Wenn du auf der Straße lebst, bist du auf die Solidarität und den Goodwill von anderen Menschen angewiesen. So etwas festigt die Haltung. Allerdings wird diese Solidarität immer weniger. Das negativ Erlebte überwiegt bei weitem. Und wenn wir dann auf einer Bühne stehen und Applaus erhalten, ist das ein krasser Gegensatz zum tagtäglich Erlebten und Balsam auf unseren Wunden.
Ernst: Ich habe früher unter der Brücke geschlafen. Durch den Augustin bin ich zu einer Wohnung gekommen und durch den Chor STIMMGEWITTER darf ich jetzt auf der Bühne stehen.
Heidi: Einzeln wäre keiner von uns jemals auf eine Bühne gekommen. Im Kollektiv sind wir eine Macht.
Auf dem letzten Album „Kitsch & Revo“ habt ihr mit unzähligen großen Persönlichkeiten einer linksgefärbten Subkultur zusammengearbeitet. Wie entstanden diese Kontakte? Sind da auch persönliche Helden dabei?
Mario: Ich habe diese Leute, wie beispielsweise Schorsch Kamerun, nach Auftritten einfach angesprochen und gefragt. Und das Schöne daran ist, es waren alle gleich dabei, ohne langes Hin und Her. Persönliche Helden sind sie für mich alle, aber meine Lieblingsband ist JA PANIK.
Martin: Gerald Hirsch aka DaHirsch, weil der mit uns das gesamte Programm erarbeitet und gesanglich arrangiert hat. Er hat uns „taktloser“ Bande auch versucht beizubringen, was die „time“ ist und sich an diese zu halten. Nicht immer mit Erfolg.
Mit den Linzer/Wiener Punk-Urgesteinen SEVEN SIOUX liegt ja mit der aktuellen Platte bereits die zweite Gemeinschaftsproduktion vor. Wie kam denn es dazu?
Mario: Rainer Krispel, der Sänger und Texter von SEVEN SIOUX, und ich sind seit Jahren befreundet. Wie der Stein nun wirklich ins Rollen gekommen ist, kann ich jetzt gar nicht mehr sagen. Wahrscheinlich war auch hier das eine oder andere Bier im Spiel. Letztendlich war es ein Experiment, unseren Gesangsverein mit Rainers Punkband zusammenzubringen.
Rainer: Ich schreibe eine Artikelserie für den Augustin, Mario macht die Fotos dafür und so sind wir uns auch freundschaftlich näher gekommen. Die Idee lag nahe, auch „unsere“ Bands zusammenzuführen, was von den restlichen Siouxs vorbehaltlos angenommen wurde. Für uns hat das mit dem STIMMGEWITTER eine ganz andere Dynamik, es geht wieder aus dieser reinen Musikkiste raus – in die wir sowieso nie wollten. Johnny, unser Ex-Bassist, hat über einen gemeinsamen Gig gesagt: H-H-H – Hirn, Herz, Haltung. Nicht, dass wir das bei SEVEN SIOUX „solo“ nicht auch hätten, aber hier teilt es sich einfach expliziter mit.
Ihr tretet mit SEVEN SIOUX auch live auf. Was wird dem Publikum geboten?
Heidi: Bei einem STIMMGEWITTER-Auftritt kommt die Musik gewöhnlich aus dem iPod. Spielen wir mit SEVEN SIOUX zusammen, stehen vier leibhaftige Musiker neben und hinter uns. Das macht mächtig Druck!
Hans: ... und schafft mitunter Platzprobleme, zwölf Menschen auf einer Bühne, da wird’s eng.
Hömal: Wir sind mit Sicherheit die älteste Punkband weltweit, an Lebensjahren auf jeden Fall. Zusammen sind wir weit über 650!
Hans: Wir sind eine skurrile Erscheinung. Da bleibt im Publikum kein Auge trocken. Vor dem Auftritt glauben viele, wir sind Klienten der Lebenshilfe, sehen sie uns dann auf der Bühne, kommen sie aus dem Staunen nicht mehr heraus.
Oskar: Musikalisch darf uns auch mal ein Hoppala passieren, wie ein verpatzter Einsatz, ohne gleich ausgebuht zu werden. Im Gegenteil, wir bekommen dafür Extra-Applaus.
Rainer: Mit diesen wunderbaren Menschen neben oder vor uns – meine Mama singt ja jetzt auch mit – fühlen wir uns reenergized wie 20-jährige Hardcore-Buben auf der Bühne. Kurze Hosen bleiben heute als Bühnenoutfit dennoch undenkbar!
Auf „Kitsch & Revo“ findet sich ausschließlich Fremdmaterial, auf „Schmankerl der Schöpfung“ drei eigene Songs, drei Coverversionen. Nach welchen Kriterien werden die Songs ausgewählt? Wer hat das letzte Wort?
Mario: Für „Kitsch & Revo“ haben Riki und ich eine Vorauswahl an Schlagern und Revolutionsliedern getroffen und anschließend in der Gruppe abgestimmt, welche wir auf der CD haben wollen. Ein paar Fixstarter hat es auch gegeben, die haben Riki und ich ausgesucht.
Rainer: Für „Schmankerl der Schöpfung“ habe ich bewusst versucht, „offener“ zu texten, und, anders als bei SEVEN SIOUX, auf Deutsch. Musikalisch brauchen die Songs mehr Platz für die Stimmen. Die Coverversionen haben sich eigentlich fast aufgezwungen, Songs, die einen starken Bezug zu unserem Welt- und Musikbild haben.
Sehr schön war ja auch die Idee, auf „Kitsch & Revo“, schmalzigen Stücken wie „Weiße Rosen aus Athen“ revolutionäres Liedgut und Arbeiterlieder wie „Die Arbeiter von Wien“ gegenüberzustellen. Was macht mehr Spaß, der Griff in den Schmalztopf oder das Strecken der Faust?
Mario: Die Mischung macht es aus. In Wirklichkeit sind ja sowohl die Kitsch- als auch die Revo-Songs Sehnsuchtslieder. Bei den einen geht es um die Sehnsucht nach Ferne und Liebe, bei den anderen um die Sehnsucht nach einer besseren Welt. In unserem Falle: Wir revolutionieren den Kitsch und verkitschen die Revolution.
Heidi: Bei „Unter fremden Sternen“ mischen wir uns beim Instrumentalteil unter die Leute und fordern sie auf zum Tanz: Alles Walzer! Es ist andererseits auch sehr befreiend, Parolen wie „Die letzte Schlacht gewinnen wir“ herauszuschreien.
Habt ihr vor, die Zusammenarbeit mit SEVEN SIOUX auszuweiten, und/oder stehen schon massig andere InteressentInnen für mögliche Gemeinschaftsproduktionen vor dem Augustin-Büro Schlange?
Mario: Gemeinsam mit SEVEN SIOUX sind weitere Kooperationen geplant, sowohl live als auch auf Tonträger. Aber als Nächstes steht ein weiteres Album à la „Kitsch & Revo“ auf dem Programm. Wieder mit verschiedenen KünstlerInnen, diesmal nehmen wir uns Seemannslieder zur Brust. Der Arbeitstitel lautet „Übers Meer“.
Rainer: SEVEN SIOUX würden extrem gerne ein komplettes Album mit dem STIMMGEWITTER machen, wir schreiben bereits an den Songs.
Ernst: Und im Übrigen, sollten wir einmal einen Auftritt fehlerlos über die Bühne bringen, treten wir ab in den Ruhestand!
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #93 Dezember 2010/Januar 2011 und H.C. Roth
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