Im Jahr 2000 in Wien gegründet, beendet das STIMMGEWITTER AUGUSTIN – Eigendefinition: „Hard-Chor!“ – mit einem letzten Album und einigen Konzerten nach über zwei Jahrzehnten 2023 seinen musikalischen Aktivismus im (auch) punkigen Geist der Selbstermächtigung. Eine bittersüße Würdigung.
Um das STIMMGEWITTER verstehen zu können, muss mensch den Augustin (augustin.or.at) erklären. Dieser ist eine 1995 ins Leben gerufene, von vergleichbaren US-amerikanischen, britischen und französischen Blättern inspirierte Wiener Straßenzeitung. Von außenstehender Kompetenz als „mediales soziales Gewissen“ der österreichischen Hauptstadt definiert, wird er, 14-tägig erscheinend, von bis zu 400 Verkäufer:innen, bei denen die Hälfte des Kaufpreises von drei Euro verbleibt, auf der Straße an die Menschen gebracht. Wenn sie wollen, können diese Menschen via dem die Zeitung herausgebenden Verein Sand & Zeit sozialarbeiterische Kompetenz in Anspruch nehmen. Deren Ansatz war und ist aber nie, „die Marginalisierten jobready zu machen“, sondern „ihren Ausbruch aus der Entmündigung zu fördern“.
Solch grundsätzliche widerständige Haltung des informierten und verständigenden Zurück-Redens drängte in vielen um die Zeitung kreisenden Projekten nach außen. Theater, Fußball, früher auch Radio und TV wurden im Namen der fiktiven Figur Marx Augustin, Der liebe Augustin, sinnbildlich für die humorinfizierte Begabung der Wiener:innen zu subversiver Resilienz, gemacht und gespielt. Die Gründung eines Chors war somit eigentlich naheliegend, Riki Parzer und Mario Lang kamen dabei mit ihrer Liebe zum Singen und zur Musik aus der strukturellen Arbeit an der Zeitung und dem Verein. Die weiteren Stimmen für STIMMGEWITTER rekrutierten sich aus Verkäufer:innen. Menschen, die wie es im Englischen heißt, „rough living“ kannten, darunter früher auch sogenannte „Insulaner“, die selbst im Winter auf der Wiener Donauinsel übernachteten. Es macht beklommen, wenn von 19 Frauen und Männern, die im Laufe der Zeit im Chor ihre Stimmen erhoben und die in den Linernotes zu „Die Reste gibt’s zu Schluss“, dem im Oktober erschienenen abschließenden Tonträger-Statement der Musik-Augustiner:innen gelistet sind, neun nicht mehr länger mit uns auf diesem Planeten sind.
Hömal Dobscha, Ernst Watzinger und Maria Kratky bilden mit Mario und Riki aktuell das verbliebene Quintett STIMMGEWITTER. Auf dem 2003 auf CD veröffentlichten ersten Album „Stimmgewitter & Friends“ waren sie bis auf Maria, die erst seit 2017 dabei ist, alle zu hören. Damals eingebettet in einen noch zehnköpfigen Gesangsverband, der mit Austro-Pop-Titanen wie Hansi Lang oder Wilfried kooperierte, aber auch schon mit Wienerlied-Erneuerern und Unter-den-Tisch-Bürstern wie DIE STROTTERN oder KOLLEGIUM KALKSBURG. Musikalische Wahlverwandtschaften, die 2018 und 2019 noch einmal für je eine Vinyl-7“ der Serie „Liebe und Hass“ und begleitende Konzerte auflebten. Noch heute gegenwärtig, die Nervosität vor der Live-Präsentation des ersten Albums im bumsvollen Wiener Metropol, das an die 500 Menschen fasst. Mit auf der Bühne damals Hansi Lang, 2008 verstorbener Sänger und ewiger STIMMGEWITTER-Herzensfreund, ebenso wie Hans „Käptn Bumba“ Kratky, der Ehemann von Maria, der uns 2012 verlassen hat. Ihm, dem ikonischen Käptn, gelang die wohl prägnanteste Wuchtel (pointierter Wortwitz) der an solchen reichen STIMMGEWITTER-Backstage- und Konzertfahrtengeschichte. Im Rahmen der Zusammenarbeit mit meiner Band 7 SIOUX wurde nach einem Konzert in der Kapu geschlafen, in der Früh machte sich Hömal auf den Weg, Semmeln zu holen, und brauchte dafür etwas länger. Als Hömal schließlich doch das frische Gebäck ablieferte, meinte Kratky: „Wenn i eich uman Tod schick, daun leb i ewich!“
Mit eich kaun ma irgendwie ned fortgehn
An einem Samstag, kurz nach Mittag, finden wir uns in einem Lokal mit dem Namen Schweden Espresso ein, wie gemacht zum Versumpern. Zuvor wurde für einen Kurzfilm eine Variante vom „Rauch-Haus-Song“ von TON STEINE SCHERBEN vor einem in kapitalistischer Zwangsräumung befindlichen Haus performt. Als Deputy-STIMMGEWITTER mit dabei, will ich mir nun ein paar O-Töne von Ernstl, Hömal, Maria, Mario und Riki für den Ox-Text holen. Ein Vorhaben, das das pralle Leben, das mit dem STIMMGEWITTER fast zwingend auf den Plan tritt, eigentlich durchkreuzt. Im Espresso sind schon ein paar Menschen gut im Öl und grölen „Fürstenfeld“ von STS. Marios Begleitung trifft in der Folge einen alten, Jahrzehnte nicht mehr gesehenen Jugendfreund. Ein Getränk wird verschüttet, an geordnetes Bestellen oder Gesprächsführung ist nicht zu denken, es gilt auch noch, den Akku von Marias Beatmungsgerät aufzuladen, zum Glück ist die amtierende Kellnerin einfach nicht aus der Ruhe zu bringen.
„Ich bin ein Uhu“, sagt Hömal, „unter hundert“ und weist damit darauf hin, dass er noch heuer, 2022, das Dreivierteljahrhundert Lebenszeit vollendet. Das Alter der Protagonist:innen ist ein Argument für den bevorstehenden Rückzug. Riki, wie Maria 67 Jahre alt, spricht davon, „dass es ja eh kein so abruptes Ende ist, wenn wer fragt, spielen wir ja noch, zum einen wollen wir schon noch halbwegs gut beinander sein und andererseits wollte ich immer einmal im Rollstuhl auf die Bühne geschoben werden“. Ernstl, schlanke 55, und damit der Zweitjüngste – Mario zählt erst 54 – kann dieser Vision absolut etwas abgewinnen. „Mir geht’s eigentlich schlecht mit dem Aufhören. Zwei, drei CDs hätte ich schon noch gerne gemacht ...“ Maria schlägt in eine ähnliche Kerbe: „Mir is fad, wenn ich nicht sing’ und den anderen nicht auf die Nerven gehen kann.“ – „Der richtige Zeitpunkt ist nie“, legt Hömal weise nach. Schon werden einzelne der „so vielen Highlights“ der STIMMGEWITTER-Geschichte angerissen. „Frau aus dem Publikum nach einem Konzert in Tirol“ ... – Mario: „Das war in Trier!“ – „Warum schreits ihr so? Weil ma ned singen können.“
Das Spezielle des Singens dieses Chors erschließt sich nicht jeder und jedem. Weil aber vielen open minds doch, brachten sie es mit ihrem Prinzip der beständigen Zusammenarbeit mit anderen Musiker:innen, die entweder für sie ausgesuchte Coversongs arrangierten und einspielten oder ihnen Lieder auf den einmaligen Klangkörper schrieben, zu einer eindrucksvollen Diskografie – 13 Veröffentlichungen auf Vinyl und CD. Mario bedauert, dass es keine vollständige Liste ihrer Konzerte gibt, „aber wir haben in jeder Hütte in Wien gespielt, sogar in der Hofburg, ganz wunderbar ein Konzert mit BOLSCHEWISTISCHE KURKAPELLE SCHWARZ-ROT in der Wabe in Berlin, wegen ihnen waren sehr viele Menschen dort, die uns auch hochleben haben lassen“, Die Konzerte in Deutschland für alle Stimmgewitters besondere Erinnerungen, „mit unserer Musik über die Grenze zu kommen ...“
Was 2022 und in Zukunft wohl nicht mehr so leicht zu bewerkstelligen wäre, durch Post-Corona (?) verändert sich gerade vieles, auch das Mutterschiff von STIMMGEWITTER betreffend, die Zeitung Augustin. Mit einbrechenden Verkaufszahlen und steigenden Papierpreisen ist das einstige Gesamtkunstwerk fast zur Konzentration auf das Kernprojekt Zeitung gezwungen, so wenig dies den Involvierten passt.
Für uns als 7 SIOUX war es in jedem Fall ein absoluter Glücksfall, immer wieder die STIMMGEWITTER-Backing-Band sein und für sie schreiben zu können. Es hat der Frage, was als alternde Hardcore-Emos denn noch tun, eine inspirierende Antwort gegeben, auch bei Auftritten vor NOMEANSNO oder JELLO BIAFRA & TGSOM. Riki nennt die gemeinsam entstandene, leider vergriffene Picture-7“ als einen ihrer liebsten Tonträger: „Ich habe die zum Gebrauchsgegenstand umgewandelt und Uhren für meine Familie draus gemacht.“ Und erzählt im Schwung gleich noch die Anekdote, wie sie einmal, schon gut angetrunken, Hannes Wader, den linken Liedermacher, in einem Lokal ausmachte, dieser mit der Anbahnung erotischer Handlungen beschäftigt. Sie wollte ihn eigentlich Fan-Woman-mäßig hochleben lassen, schüttete ihn aber irrtümlich an. Er reagierte mit einer Ohrfeige. Eigentlich Stoff für ein STIMMGEWITTER-Lied, eines noch!
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