Olmypia in Brasilien nahmen wir zum Anlass, Andre von STATUES ON FIRE, die gerade ihr neues Album „No Tomorrow“ auf Rookie Records veröffentlichen, darum zu bitten, uns etwas zum realen Leben im südamerikanischen Krisenstaat zu erzählen. Hier ist sein bitteres Resümee.
Eine Sache muss man sich vorab klarmachen: Brasilien hat sich seit seiner Entdeckung im Jahr 1500 nicht wirklich verändert. Die Geschichte Lateinamerikas ist kaum in wenigen Worten zusammenzufassen, deshalb ist es besser, mit der Angst vor dem Kommunismus nach dem Zweiten Weltkrieg einzusetzen, als Deutschland in zwei verschiedene Länder gespalten war und der US-amerikanische Einfluss mit dafür sorgte, dass überall auf dem südamerikanischen Kontinent Diktaturen installiert wurden.
Nach vielen Jahren Gehirnwäsche gab es dann 1986 erstmals freie Wahlen in Brasilien, nachdem die Militärregierung, die es seit 1964 herrschte, am Ende war. Der Presse wurde das Maul gestopft und die Macht über alle Informationen an einen Mann übertragen: Roberto Marinho vom TV-Sender Globo. Man kann sich vorstellen, wie scheiße es ist, wenn eine Person die Kontrolle über sämtliche Informationen hat und man den Kandidaten wählen lässt, den man wählen lassen will. Wenn man als Bürger sein ganzes Leben das glaubt, was einem vorgesetzt wird, wem soll man dann später noch vertrauen?
Viele Politiker ließen sich im Fernsehen blicken und sagten den Menschen, sie seien die Hoffnung, die neue Generation, gegen die Korruption und all den Mist, mit dem wir hier leben. Am nächsten Morgen konnte man in den Nachrichten sehen, wie genau dieselben sich von den großen Unternehmen schmieren ließen. Als 2003 Präsident Lula da Silva an die Macht kam und bald seine sozialen Aufbauprogramme begannen, Früchte zu tragen und gerade auch den Leuten halfen, die vorher nicht mal Zugang zu sauberem Trinkwasser, Essen oder Strom hatten, fingen die Konservativen und Reichen an, zu meckern: „Wir, die Steuerzahler, geben unser Geld jetzt an diese Gammler, und für was ...?“ Hieran kann man deutlich ablesen sehen, wie rassistisch und unmenschlich wir geworden sind. Es ist sogar so, dass die Armen, die in die „Mittelklasse“ aufstiegen, ihrerseits begannen, die Armen zu hassen!
Nun hat man in den Nachrichten gehört, dass Brasilien mal wieder in Gefahr ist, und es ist wahr: Präsidentin Dilma Rousseff wurde entmachtet und am 12. Mai 2016 für sechs Monate suspendiert, am 31.08. schließlich abgesetzt. Und dabei hat sie nicht mal ein Korruptionsverfahren am Hals, ganz im Gegensatz zu jenen Politikern, die versuchen, sie zu stürzen. Deren Macht ist jetzt gut etabliert, der Präsident des Kongresses ist in mehr als zehn Fällen der Korruption angezeigt, und im Kongress selbst sitzen Hunderte von „Kirchenabgeordneten“ (quasi eine eigene politische Partei, da die Kirchen hier keine Steuern zahlen). Jair Bolsonaro, der Präsidentschaftsanwärter 2018, ist pro-militaristisch und ultrarechts eingestellt und hat viele Unterstützer. Und das Ausland ... schaut einfach weg. Der Sender Globo wird wahrscheinlich noch viele Jahre lang die Nachrichten kontrollieren, da unsere Regierung entschieden hat, den Firmen dieses Konzerns die Ölschiefervorkommen zu überlassen, die hier entdeckt wurde. Wahrscheinlich eines der größten Ölvorkommen der Welt, größer als die Reserven im Mittleren Osten.
Natürlich haben wir es hier mit einer Krise zu tun. Einer ökonomischen und politischen Krise. Punkrock wird von dieser Krise beeinflusst oder wiederum auch nicht beeinflusst, weil die Zustände hier schon immer abgefuckt waren. Es gibt nicht viele Orte, um Gigs zu veranstalten und zu spielen, und Geld gibt es dafür schon gar nicht. Punkrock und Hardcore oder Metal treffen hier in Brasilien nicht den Mainstreamgeschmack, sondern lebt mehr im Underground, wir kommen nicht ins Fernsehen oder ins Radio und über uns steht nichts in der Presse. Die Brasilianer ziehen immer noch den Samba, Funk aus Rio de Janiero oder brasilianische Schlagermusik, den „Sertanejo“, vor.
Das Internet ist seit langem das Hauptmedium für neue, aber auch etablierte Bands, doch dadurch ist auch der Homentertainment-Sektor so stark gewachsen, dass Leute nicht mehr zu den Shows kommen. Viele sagen, sie hätten kein Geld, um den Eintritt zu zahlen, nicht mal für die günstigeren Shows, aber für Bier, um damit vor der Konzertlocation herumzuhängen, reicht es meist. Dann gibt es wiederum Leute, die 500 Real zahlen, um BLACK SABBATH zu sehen – bei einem Durchschnittseinkommen von 800 Real im Monat ist das viel Geld. Entsprechend ist die Szene hier quasi tot. Vor einigen Jahren war es die Emo-Welle, die alle anderen Richtungen des Punkrock in den Hintergrund drängte, jetzt haben wir andere Probleme zu bewältigen. Einige Bands hier, die früher richtig groß waren und die mit dem Geld, das sie auf Tour verdienten, ihre Familien unterstützen konnten, haben sich aufgelöst. Die sind jetzt auf Jobsuche mit ihren volltätowierten Hälsen ...
Auf der anderen Seite hat MPB (Mainstream-Popmusik aus Brasilien), wie es genannt wird, auch nicht gerade einen leichten Stand. Es gibt wenige gute Veranstaltungsorte, und die Popmusik ist finanziell zu 70% von Kulturförderung und staatlichen Einrichtungen abhängig. Unser neuer Präsident hatte die grandiose Idee, das Kultusministerium abzuschaffen, was zum Glück nicht gelang. Ich arbeite hauptsächlich mit MPB-Künstlern als Tourmanager zusammen und hatte früher zehn Shows im Monat, jetzt kann ich mich schon über eine einzige freuen.
Ich habe einige Leute um Statements zur aktuellen politischen und ökonomischen Lage gebeten, zum Beispiel Erica Imazawa, die sich um das Booking von RATOS DE PORÃO kümmert, eine der größten brasilianischen Punk/Hardcore-Bands mit 35 Jahren Konzerterfahrung rund um den Globus. Erica sagt: „Der Markt für Independent-Shows hier in Brasilien ist eng verbunden mit dem wirtschaftlichen Zustand des Landes, wir haben eine hohe Arbeitslosenquote, sehr hohe Preise für Lebensmittel, Strom, Wasser und dazu noch einen sehr geringen Mindestlohn. Das Erste, woran man spart, ist natürlich Unterhaltung. Wenn du zum Beispiel 30 Real für ein Ticket bezahlst, kommen dazu noch Kosten für Benzin und Parken, also bleiben die Leute lieber zu Hause. Es kostet auch sehr viel, Band und Crew von Stadt zu Stadt zu transportieren oder darauf zu warten, dass die Fluggesellschaften mal ihre Preise runterschrauben – unser Land ist sehr, sehr groß, hier ist man auf das Flugzeug angewiesen. Viele Locations hier sind fast pleite, zu wenig Publikum, zu hohe Betriebskosten, also müssen wir auf bessere Zeiten hoffen oder anders einen Weg finden.“
Marco Badin ist Betreiber des bekanntesten D.I.Y.-Clubs in São Paulo, Hangar 110, wo auch schon viele europäische und amerikanische Bands gespielt haben. „Wir haben hier schon immer im Ausnahmezustand gelebt, auch wenn es vor ein paar Jahren ein paar Lichtblicke gab abseits der ständigen Krisensituation. Wir mussten lernen, auch ohne eine Regierung, die sich um uns kümmert, klarzukommen, aber wir kämpfen weiter. Rockmusik ist nicht gerade der Mainstream in diesem Land, es war also immer ein Kampf, sogar in den guten Jahren, die es mal gab. Die Zahl der Konzerte ist drastisch zurückgegangen, auch die Zahl der Bands und der Zuschauer. Vielleicht hängt das ja auch mit den 11 Millionen Arbeitslosen zusammen, die wir aktuell haben. Für die D.I.Y.-Szene und damit Hangar 110 sieht es wirklich düster aus.“
CPM 22 waren eine der größten Emo-Bands im Brasilien der Neunziger, mit Millionen verkaufter Platten, zu deren Shows viele Leute gekommen sind, auch heute noch. Deren Gitarrist Phil meint dazu folgendes: „Leider wird Kultur hier als etwas Überflüssiges betrachtet. Die Menschen sparen, um ihre Rechnungen zahlen zu können, um sich Kino- und Theaterkarten zu kaufen. Live-Shows hingegen fehlt das Publikum. Und dementsprechend nimmt auch die Zahl der Konzerte in unserem Terminkalender bedenklich ab.“
Ich denke, wir suchen und finden auch neue Wege auf, um die Szene am Leben zu erhalten. Bands spielen in kleineren Locations für weniger Geld, versuchen irgendwie, sich mit Veranstaltern auf eine Gage zu einigen. Hauptsache, es bewegt sich etwas! Meine alte Band NITROMINDS konnte sich in in Brasilien über 18 Jahre einen hohen Bekanntheitsgrad erspielen, das hat STATUES ON FIRE schon etwas geholfen, aber wir kümmern uns nicht so sehr darum. Wir suchen nach neuen Möglichkeiten, um unsere Musik bekannt zu machen, in Europa zum Beispiel oder in den USA, damit es für uns irgendwie weitergeht.
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