HEROES DEL SILENCIO ... Eine schlimme Erinnerung. Wie tragisch wäre es, wenn diese Band auf ewig alternative spanische Musik im Ausland repräsentieren würde. Aua! Dabei gibt es doch STANDSTILL. Eine Menge netter, bärtiger Männer, im Hardcore verwurzelt, aber mit ihrer dritten richtig langen Platte „Standstill“ längst ganz woanders. Wo genau eigentlich? Erstmal zurückspulen: 1997 ging‘s los. Mit Musik, die beim Autofahren im Dunkeln bei mir heute noch manchmal dazu führt, dass ich mich umgucke, ob da nicht vielleicht jemand Uneingeladenes aus der Rückbank sitzt. Nicht offensichtlich böse, aber immer mal wieder verdammt spooky. Die Fähigkeit, bestimmte Stimmungen beim Hörer zu erzeugen, haben STANDSTILL nach wie vor, und gruselig wird das dann auch immer mal wieder, aber man arbeitet heute eben mit subtileren Mitteln. Mit der neuen Platte mussten STANDSTILL auch den Ausstieg ihres alten Freundes und Gitarristen Carlos verpacken, der hatte die Faxen vom Doppelstress dicke und ist mittlerweile nur noch mit seiner anderen Band HALF FOOT OUTSIDE unterwegs. „Standstill“ hat für die Band also eine große Bedeutung.
Standstill“ ist eure dritte Platte, und die Reduzierung scheint schon der Name zu beinhalten, sie heißt einfach wie die Band. War das so was wie eine Entwicklung oder eine bewusste Entscheidung? Auch was die Entscheidung betrifft, diesmal auf Spanisch zu singen?
Ricky: „Nein, wir haben einfach mal darüber nachgedacht, was das Ganze eigentlich soll, auch bezüglich der Entscheidung, es diesmal in unserer Muttersprache zu machen. Deshalb erschien es uns sinnvoll, die Platte ‚Standstill‘ zu nennen. Darum geht es schließlich ...“
Enric: „Wir sind in der letzten Zeit ja sehr viel getourt, und es war klasse, vor all diesen Leuten zu spielen. Da ist aber so ein Drang nach mehr Mitteilung entstanden. Mehr als vorher, und dann war irgendwann klar: Die nächste Platte machen wir auf Spanisch. Für mich als Sänger hat sich das immer so wie eine Maske angefühlt: Okay, das ist es, was ich sage, aber das ist nicht meine Sprache, ich kann das nicht so fühlen.“
Elias: „Wir denken natürlich in Spanisch. Zu unserer letzten Platte ‚Memories Collector‘ haben wir eine CD-Rom gemacht, um all das zu erklären, was wir versuchen auszudrücken. Und jetzt dachten wir: Wenn wir es gleich in Spanisch machen, brauchen wir das vielleicht nicht.“
Wird es die Texte denn auch irgendwo auf Englisch oder Deutsch geben?
Ricky: „Ja, die englische Übersetzung ist schon auf unserer Website, und die deutsche kommt noch. Wir wollen ja, dass alle, die sich für STANDSTILL interessieren, die Möglichkeit haben, herauszufinden, worum es eigentlich geht.“
Ist es für euch in Spanien leichter, wenn ihr spanisch singt? Vom kommerziellen Standpunkt aus war das möglicherweise nicht die schlaueste Entscheidung ...
Ricky: „Haha, wahrscheinlich. Das wissen wir aber noch nicht, das wird sich jetzt alles zeigen. Die Platte ist ja gerade erst draußen, bis jetzt haben wir noch so gut wie keine Reaktionen darauf. Aber die Magazine und Radios in Spanien sagen, dass das eine riskante Entscheidung war. Sie respektieren die Platte, aber meinen, dass es nicht einfach wird. Natürlich verstehen uns die Leute in Spanien jetzt besser, und interessieren sich dadurch vielleicht auch mehr für uns. Auf der anderen Seite haben wir so lange englisch gesungen, und das hat ja in Spanien im Independentbereich auch Tradition – alle Indie-Bands singen englisch, und viele Leute sehen das als Herausforderung an. Wir haben uns darüber echt keine Gedanken gemacht. Wir wollten es so, und jetzt werden wir sehen, was dabei herauskommt. Aber wir sind echt glücklich, und unsere Freunde finden die Platte klasse. Die Jungs bei unserem Label Defiance haben die Platte herausgebracht, das ist also schon okay ...“
Enric: „Meine Mutter findet zum ersten Mal eine Platte von uns gut ... Für euch in Deutschland ist vielleicht der Gedanke nahe liegend, dass es in Spanien für uns leichter wird, weil wir jetzt Spanisch singen, aber die meisten Spanier werden beim ersten Hören immer noch denken: Was ist das? Ich meine, die sind Bands wie HEROES DEL SILENCIO gewöhnt.“
Musikalisch betrachtet scheint „Standstill“ die natürliche Fortsetzung zu sein. Noch weniger eindeutige Aggression, dafür wird eure Musik immer epischer. Und du schreist auch nicht mehr so viel ...
Enric: „Ja, ich bin jetzt erwachsener, haha. Mit der musikalischen Entwicklung waren wir mit der ‚Latest Kiss‘-EP an einen Punkt angekommen, wo einfach nicht mehr ging, also rein quantitativ. Also wollten wir, dass sich alle Instrumente mehr auf das konzentrieren, was sie da eigentlich spielen. Das ist schon ein Unterschied zu ‚Memories Collector‘, einfach eine andere Art zu komponieren. Gleichzeitig haben wir etwas Aggression rausgenommen.“
Ricky: „Ich denke, die Aggression ist sehr wohl noch da, aber man muss ja nicht immer schreien, um das zu transportieren. Aggression ist vielleicht das falsche Wort, aber die Intensität hat sich ja nicht verändert. Wir haben einfach versucht, einen anderen Weg zu finden.“
Elias: „Alles ist kompakter, gerade der Bass und das Schlagzeug. Ich denke, dass man von unserer ersten Platte ‚The Ionic Spell‘ bis hierher eine Entwicklung sehen kann. Irgendwie tragen alle Instrumente mehr zur Klarheit der Songs bei. Wir sind echt glücklich mit dem Sound der Platte.“
Manchmal haben die Songs fast etwas Mantrahaftes, es gibt viele Wiederholungen.
Enric: „Wenn du auf einmal eine andere Sprache benutzt, musst du damit anders umgehen. Für mich war das am Anfang gar nicht so einfach. Spanisch kann man eben nicht auf die gleiche Weise benutzen wie Englisch, und diese Wiederholungen haben es mir leichter gemacht, mich auszudrücken. Außerdem kannst du damit viel höher singen, auch wenn‘s nur ein paar Töne sind – das war ziemlich interessant.“
Ricky: „Deine Muttersprache eröffnet dir natürlich viel mehr Möglichkeiten, ein und dieselbe Sache zu sagen, als das eine fremde Sprache könnte.“
Enric: „Das Erste, was mir aufgefallen ist, als ich versucht habe, Spanisch zu singen, war, dass manche Aussagen nicht zu der Melodie passen, die wir eigentlich wollten. Ich muss etwas singen, was zur musikalischen Aussage passt. Wenn du in oberen Stimmlagen bist, dann solltest du dafür einen inhaltlichen Grund haben, genauso, wenn du mit der Stimme runter gehst.“
Spanisch hat sicher auch einen anderen Rhythmus als Englisch, oder?
Enric: „Klar! Ricky sagt immer: In Englisch kannst du sagen, was immer du willst, das klingt schon okay, aber wenn du in deiner eigenen Sprache etwas Blödes sagst, dann klingt es richtig Scheiße.“
„Standstill“ ist eure dritte Platte – die magische Zahl. Ist das etwas Besonderes?
Enric: „Na ja, wir haben einfach alles ziemlich langsam gemacht bei dieser Platte, Schritt für Schritt, und an so was denkst du dabei echt nicht. Das wäre die falsche Denke. Wir sind einfach auf dem Weg irgendwohin, alles schön der Reihe nach.“
Ricky: „Grundsätzlich haben wir bei dieser Platte überhaupt sehr viel über uns nachgedacht. Wir waren so viel unterwegs in den letzten paar Jahren, und letztes Jahr ist unser alter Gitarrist ausgestiegen. Jetzt haben wir einen Neuen, und da gab es eine ganze Menge Fragen, wie es mit STANDSTILL ganz allgemein weitergehen soll. Das war schon eine ziemlich spezielle Atmosphäre bei dieser Platte.“
Elias: „Wir haben einen ganzen Monat auf Sizilien verbracht, da haben wir sehr viel darüber geredet, wie es mit uns weitergehen soll. Und wir haben dort auch schon viel Musik für die Platte geschrieben. Das war vielleicht kein Wendepunkt, aber davor hatten wir eine Handvoll Songs fertig, die wir alle in die Tonne geworfen haben. Und die Songs, die wir auf Sizilien geschrieben haben, waren das Beste, was wir jemals gemacht haben.“
Ricky: „Wir hatten einfach viel Zeit für uns, in jeder Beziehung. Auch um mal zu verdauen, was da in den letzten zwei Jahren mit uns abgegangen ist.“
Also ist „Standstill“ das Resultat einer ausführlichen Gruppentherapie?
Ricky: „Ja, haha! Irgendwie schon. Und es ist auch ein wichtiger Faktor, dass wir ein neues Bandmitglied haben, unser Gitarrist, der neue Ideen mitbringt.“
Vor ein paar Jahren habt ihr eine Zusammenarbeit mit einer Theatertruppe aus Madrid angefangen, „La Carniceria“, macht ihr das immer noch?
Ricky: „Ja, das war wirklich toll, dass wir die getroffen haben. Wir machen das immer mal wieder, seit vier Jahren, nicht regelmäßig, aber die rufen uns immer wieder an. Das ist zwar echt nicht unsere Welt, das Theater, und wir wissen auch nicht allzu viel darüber, aber es ist jedes Mal eine Chance für eine wirklich spannende Zusammenarbeit.“
Elias: „Als Nächstes fahren wir mit der Truppe zur Biennale nach Venedig in Italien. Das ist echt verrückt, weil das so ein großes Ding ist, und wir sind einfach nur ein paar normale Typen. Aber das ist auch deswegen spannend, weil wir nicht nur die Musik machen, sondern auch Teil der Aufführung sind. Das ist halt keine klassische Theatergruppe, die gehen die Dinge etwas anders an. Das ist aber auch für die Musik interessant, du guckst dir an, was ausgedrückt werden soll, und mit welchen Mitteln die das machen. Eben alternative Ausdrucksformen suchen. Diese Erfahrungen haben uns auch bei der Platte wirklich geholfen. Und es ist einfach sehr gesund, nicht immer nur das Gleiche zu tun.“
Enric: „Ricky hat dann den ganzen Kopf voller Spaghetti.“
Elias: „Ja, und ich war komplett schwarz angemalt.“
Ihr hattet in den letzten paar Jahren aber ein echt derbes Programm: Endloses Touren, drei Platten, STANDSTILL 24 Stunden am Tag. Seid ihr nicht ein bisschen müde?
Ricky: „Nein, haha. Natürlich ist das anstrengend, aber wenn wir mal an einen Punkt kommen, wo es einfach langweilig wird, dann hätte es keinen Sinn mehr. Aber wir kennen uns jetzt schon so lange, da gibt es immer Möglichkeiten, die Sache lustig und aufregend zu gestalten. Wenn es keinen Spaß mehr machen würde, dann wäre auch Schluss. Wir haben ja keinen Druck, dranbleiben zu müssen. Wenigstens bisher nicht.“
Und wie sieht‘s mit der Kohle aus?
Ricky: „Das ist sicher der härteste Teil. Du gehst auf Tour, spielst dir den Arsch ab, und wenn du nach Hause kommst, weißt du immer noch nicht, wie du die Miete bezahlen sollst. Aber das ist eben der Preis. Und auf der anderen Seite sind das so viele Erfahrungen, du lernst so viele Menschen kennen, und das trägt ja auch zu deiner persönlichen Entwicklung bei. Gut, dann gibt‘s da immer noch die unbezahlte Telefonrechnung. Na ja, andere haben einen gesicherten Job und alles, und fühlen sich dadurch aber einfach nicht ausgefüllt. Ist eben alles eine Frage der Balance. Ich möchte lieber morgens aufwachen, und mich auf das freuen, was ich da tue.“
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