RAZZIA sind eine jener – man muss es so sagen – legendären deutschsprachigen Punkbands der Achtziger, die sich immer eher feinsinnig im Hintergrund gehalten haben, statt laut Parolen zu brüllen. Ihr Auftritt beim Ruhrpott Rodeo 2011 markierte den Beginn ihres „zweiten Lebens“. Im ersten Leben hatten sie eine Reihe von Klassikern veröffentlicht: „Tag ohne Schatten“ (1983), „Los Islas Limonados“ (1985), „Ausflug mit Franziska“ (1986) „Menschen zu Wasser (1989), „Spuren“ (1991), „Razzia Live“ (1992), gefolgt von den Spätwerken „Labyrinth“ (1994), „Augenzeugenberichte“ (1999) und „Relativ sicher am Strand“ (2004). 2013 und 2017 kamen die „Rest Of 1981-1992“-Raritätensammlungen Vol. 1 und 2 auf Colturschock, jenem Hamburger Label, das auch die Klassiker aus den Achtzigern neu aufgelegt hatte. Und nun steht im März 2019 auf Major Label das neue Album „Am Rande von Berlin“ an, zu dem mir Bassist Peter Siegler und Gitarrist Andreas Siegler meine Fragen beantworteten.
Im letzten RAZZIA-Interview in der Ox-Ausgabe von Februar 2016 sagte Andreas zum Thema neues Album: „Wer uns persönlich kennt, weiß, dass wir lieber sofort aufhören würden, als ein albernes Album abzuliefern, das versucht, den ‚Spirit‘ von 1982 einzufangen.“ Nun habt ihr es offenbar geschafft, euren hohen Ansprüchen an euch selbst gerecht zu werden, denn „Am Rande von Berlin“ erscheint in Kürze. Dürfen wir etwas zur Entstehungsgeschichte und den Umständen der Produktion erfahren?
Peter: Am Anfang stand bei mir ein Telefongespräch mit Andreas, worin er mir mitteilte, dass Sören, der Bassist, die Band verlassen würde. Nach meinem Debakel 2009 an den Drums konnte ich mir den Job als neuer RAZZIA-Bassist gut vorstellen. Erste Probetermine und Gigs in Peine und Potsdam 2014 verliefen positiv. In dieser Zeit wurde die Idee einer neuen Platte konkretisiert. Erste Songstrukturen entstanden. Texte hatte Andreas seit der letzten Platte „Relativ sicher am Strand“ zahlreich geschrieben und gesammelt. Die Arbeit an den neuen Songs zog sich aus unterschiedlichsten Gründen bis zu den ersten Demoaufnahmen in unserem Übungsraum im Sommer 2016 extrem in die Länge. Nach den Aufnahmen stellten wir fest, dass die Songs noch nicht rund waren und noch einmal überarbeitet werden mussten. Anfang 2017 erzählte Frank uns von einem Freund mit dem Namen Ralf Petter, der ein kleines, aber feines Tonstudio in Hamburg-Eimsbüttel besitzen würde. Bei ihm wollten wir zuerst ein paar Probeaufnahmen machen. Diese Idee wurde aber schnell wieder verworfen und am Ende nahmen wir im Oktober 2017 acht gut ausgearbeitete Songs auf. Dieser sogenannte „erste Block“ diente uns auch als Demo auf der Suche nach einem geeignetem Label. FLIEHENDE STÜRME, mit denen wir in den letzten Jahren immer mal wieder Gigs zusammen hatten, stellten den Kontakt zu Major Label her. Nach einigen Sondierungsgesprächen war der Deal für eine Platte zum vierzigjährigen Jubiläum von RAZZIA abgeschlossen. Der „zweite Block“, mit sechs neuen Stücken, wurde in kurzer Zeit komponiert und im April 2018 im Studio recht zügig aufgenommen. Die insgesamt 14 Stücke werden im März 2019 unter anderem auf einer Doppel-LP erscheinen, wobei eine Seite eine unbespielte Bildplatte darstellt.
Im Presseinfo zum neuen Album äußert ihr euch recht selbstbewusst: „‚Am Rande von Berlin‘ zeichnet sich durch [eine] Mischung aus Energie und Melancholie aus. Die intelligenten Texte, fern jeder Ideologie, erinnern mehr an deutsche Expressionisten, als an zeitgeistkonforme Produkte anderer ‚Künstler‘. Durch eine rigorose Abrechnung mit dem Establishment verweisen sie auf ihren Ursprung im Hamburger Punk der 1980er Jahre.“ Würdet ihr das bitte näher erläutern?
Andreas: Wir verzichten auch weiterhin darauf, die im Genre üblichen Phrasen und Politparolen zu dreschen, arbeiten textlich mit Bildern, Gleichnissen, Wortspielen und verabschieden uns manchmal sogar mit voller Absicht aus der Grammatik. Ideologien, Parteien, organisierte Religionen und so weiter sind nicht unsere Sache. Wir können uns da nicht einordnen, weil wir blöderweise in den Siebzigern und Achtzigern sozialisiert wurden und deshalb Probleme mit Autoritäten und Eliten haben.
Was bedeutet euch RAZZIA heute? Wenn man bereit ist, viel Lebenszeit in ein neues Album zu stecken, stundenlang im Bandbus zu sitzen für eine Stunde auf der Bühne, braucht man dafür eine starke Motivation, oder?
Peter: Ich sitze lieber stundenlang im Bandbus als stundenlang im Büro. Dafür hatte ich nie ein Talent. Die Motivation hat sich über die Jahre sicherlich geändert. Früher war ich schon fast besessen von dem Gedanken, Mucke zu machen. Es gab da nicht viel anderes. Heute bin ich ein ganzes Stück abgeklärter, lockerer. Das Angebot, die Hörgewohnheiten und der Konsum von Musik haben sich durch das Internet radikal verändert und besitzen dadurch den Stellenwert alter Tage bei weitem nicht mehr. Was über die Jahrzehnte jedoch nicht an Intensität verloren hat, ist der Spaß am Komponieren von Musik und die nicht endende Suche nach dem perfekten Song. Bei der neuen Platte habe ich damit, wie in alten Zeiten, Wochen verbracht.
Andreas: Unsere Motivation war, ein Album zu produzieren, das wir selbst gerne hören. Zweitens wollten wir die Möglichkeiten, die wir heute haben, auch nutzen. Was wir früher intuitiv richtig gemacht haben, machen wir heute sehr bewusst.
Ist es euch schwer gefallen, den richtigen „Tonfall“ zu finden für eure Texte? Mit RAZZIA verbinden eure Fans bedeutungsmächtige Texte, die freilich in ihrer Mehrzahl vor über dreißig Jahren entstanden sind – in einer anderen Zeit, einem anderen Leben.
Andreas: Nein. Wir haben die neuen Titel so gestaltet, dass sie uns gefallen, und nicht darüber nachgedacht, wie sie auf andere wirken. Außerdem habe ich immer und kontinuierlich Texte geschrieben. Sonst wäre eine Albumproduktion auch gar nicht möglich gewesen.
Und steht ihr noch hinter all den alten Texten oder wie empfindet ihr die aus heutiger Sicht? Welche sind gut gealtert, welche nicht?
Andreas: „Halbes Schwein“, „Als Haus wärst du ne Hütte“, „Kreuz oder Kopf“, „Harlekin und Bunte Kuh“, „Helfende Hände“, „Kaiserwetter“, „An der Grenze“, „Selbstgespräch unter vier Augen“ und so weiter und so fort, das sind alles zeitlose Titel, zu denen wir stehen. Andere Titel sind eher als Zeitdokumente zu bewerten, sie haben teilweise ihren Hintergrund verloren.
Peter: Für die mittlerweile vierzig Jahre Lebenszeit von RAZZIA gibt es eigentlich erstaunlich wenige Texte, die ich so heute nicht mehr unterschreiben würde. „Geh zur Polizei“ von der ersten Scheibe kommt mir da spontan in den Sinn. Sicherlich gibt es auch ein paar Texte, die man heute anders formulieren könnte oder sogar müsste! Teilweise habe ich aber das Gefühl, dass einige Lyrics wie Rotwein über die Jahre irgendwie wertvoller werden und zudem immer aktuell bleiben. Zu nennen wären da „Rotes Plastik“, „Gift“ oder auch „Terrorvision“. Ansonsten würde ich mich bei der Frage nach guten, alten Texten der Aufzählung meines Bruders anschließen, jedoch nicht ohne „Schatten über Gerolshofen“ positiv zu erwähnen.
Deutschsprachiger Punk erfreut sich derzeit so großer Beliebtheit wie nie zuvor, durchaus – auch – politische Bands wie FEINE SAHNE FISCHFILET oder BROILERS füllen Hallen mit mehreren tausend Besuchern. Wie seht ihr so was im Vergleich zu den Achtzigern?
Peter: Ich habe beide Bands letztes Jahr mal kurz gehört. An FSF kann ich mich leider nicht so genau erinnern, als dass ich über ihre Musik irgendetwas sagen könnte. FSF sind aber im Moment wohl mächtig angesagt. Könnte ein ähnliches Phänomen wie bei TURBOSTAAT vor zwei oder drei Jahren sein. Bei den BROILERS fand ich den Gitarrensound ganz gut. Anzumerken wäre noch, dass ich mit Großveranstaltungen sowieso nix anfangen kann. Ich mag dann doch eher kleinere Gigs bis tausend Leute lieber. In den Achtzigern kann ich mich an kein Mega-Event einer deutschen Punk-Kombo erinnern. Ausgenommen als Vorband einer englischen oder amerikanischen Gruppe.
Andreas: Über FSF und BROILERS kann ich mir kein Urteil erlauben, ich kenne von denen nix.
Die Alben einer Band entstehen immer in einem bestimmten Zeitkontext, aber Menschen ändern sich, ebenso musikalische Interessen und Fertigkeiten. Wie leicht oder schwer ist es da, mit großer zeitlicher Distanz daran anzuknüpfen und einen Sound entstehen zu lassen, der so an damals anknüpft, dass die Menschen, die die Band lieben, diese auch eindeutig wiedererkennen? „Lauf Junge lauf“ etwa könnte, finde ich, auch von „Ausflug mit Franziska“ sein.
Andreas: Es ist sehr schwer, die Energie, die live und im Ü-Raum rüberkommt, im Studio aufzunehmen, auf Tonspuren zu bannen. Das war aber schon immer so und ist auch bei anderen Musikgenres immer der Fall gewesen. Dadurch, dass unser erster Sänger Rajas Thiele die neuen Titel mit einer unglaublichen Kraft und äußerst markant eingesungen hat, fällt das Wiedererkennen leicht.
Es gibt Menschen und Musiker, die entfernen sich im Laufe der Jahre immer weiter von der musikalischen Handschrift ihrer jungen Jahre, andere bleiben bei dieser oder kehren dorthin zurück. Warum ist für euch RAZZIA immer noch – oder wieder – das adäquate Ausdrucksmittel?
Andreas: Wir konnten weitermachen, weil wir uns in den Anfangsjahren textliche Peinlichkeiten weitgehend erspart haben, jedenfalls bei den regulär veröffentlichten Alben. Außerdem: Obwohl wir uns selbstverständlich alle stark verändert haben, können wir noch mit Spaß zusammenarbeiten, weil wir eben keine dicken Freunde sind, die sich abends zu einem Bier treffen, um sich mal so richtig auszuquatschen. Wir sind Kollegen und sehen uns nur zu Bandaktivitäten.
Peter: Wir haben immer wieder das Ausdrucksmittel Musik gewählt, weil es uns enormen Spaß macht und ein hervorragender Zeitvertreib ist. Ein weiterer Grund ist, dass wir überhaupt die Möglichkeit hatten, Musik zu machen. Dies haben Konzertveranstalter, Labelbetreiber, Leute, die unsere Platten kaufen oder Konzerte besuchen, möglich gemacht. Ohne positive Resonanz hätten wir RAZZIA wohl nach ein paar Jahren aufgelöst. Dies war aber nicht der Fall.
Ihr spielt auch wieder vermehrt Konzerte, doch seit den frühen Neunzigern, als ihr noch häufiger aktiv wart, hat sich „die Szene“ stark verändert, viele Clubs, AZs, besetzte Häuser etc. existieren nicht mehr. Wie wohl oder unwohl fühlt ihr euch in dieser neuen alten Welt?
Peter: In den Achtzigern haben RAZZIA fast jede Konzertanfrage angenommen. Die Gage war nicht selten Bier und Benzin, und übernachtet wurde, wenn nicht die Heimreise direkt nach dem Gig beschlossen wurde, in privaten Haushalten. Diese Zeiten sind vorbei. Heute haben wir eine Festgage, welche die anfallenden Umkosten deckt, und wir pennen im Hotel. Außerdem spielen wir gerne in Clubs, die über einen gemütlichen Backstagebereich und funktionierende, nicht nach Ammoniak riechende Sanitäranlagen verfügen.
Würdet ihr uns bitte zum Abschluss noch den textlichen Hintergrund von einigen Texten erläutern? Fangen wir an mit „Nicht in meinem Namen“.
Andreas: Es scheint in der Natur des Menschen zu liegen, alles in seiner Einflusssphäre rücksichtslos auszubeuten und zu zerstören. Das war so, immer und überall und ist heute weltweit der Fall. Am negativsten ist die Lage in Afrika.
„Ein Hauch von Wandlitz“.
Andreas: Der Text beschreibt – aus zwei Perspektiven – den Realitätsverlust der Regierenden, die völlig den Kontakt zur „normalen“ Bevölkerung verloren haben, und den Nutznießern dieser Entwicklung, die später dann vorgeben, gegenteilig gehandelt zu haben, um sich so zu allen Zeiten Vorteile zu verschaffen.
„Berchtesgaden“.
Andreas: Der Song handelt von einem Irren, der glaubt, indem er an einem Barometer herumfummelt, das Wetter beeinflussen zu können. Der Protagonist der Geschichte steht für die, die denken, die Welt mit symbolischen Handlungen retten zu können, ohne dabei den eigenen Lebensstandard einzuschränken zu müssen.
„Liebe Grüße aus dem Rotweingürtel“.
Andreas: Der Hintergrund sind hier Typen, die soziale Experimente in ärmeren Vierteln veranstalten, den Folgen aber aus dem Weg gehen.
„Rezeptur der Angst“.
Andreas: Sagt der Polit-Bonze zum Pfaffen: „Halt du sie dumm, ich halt sie arm.“ Der Text liefert eine kleine Anleitung dazu.
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