Eine der deutschen Punk-Legenden überhaupt, die 1979 in Hamburg-Langenhorn gegründeten RAZZIA, absolvieren aktuell wieder einmal einige ihrer wenigen Auftritte, die sie seit ihrem Reunionkonzert 2011 in Hünxe ab und zu einstreuen. Dazu wurden in letzter Zeit auf Colturschock Records einige ihrer alten Platten wiederveröffentlicht. Inwiefern trägt die Nostalgie eine Band, die ohne neues Material auf die Bühne geht und die einige musikalische Entwicklungsstufen und Line-up-Wechsel durchlaufen hat, so dass man beim Hören ihres Gesamtwerkes annehmen könnte, es handele sich um mehrere verschiedene Gruppen? Wir sprachen mit Gitarrist Andreas Siegler, Gründungsmitglied und hauptamtlicher Songschreiber.
Im Spätherbst habt ihr Gigs in Berlin, Hamburg und Düsseldorf gespielt. Wie liefen die Abende?
Die sind alle sehr gut verlaufen und haben viel Spaß gemacht. Wir haben auf der Bühne ein Programm präsentiert, das sich aus allen Alben zusammensetzt, die bis 1992 veröffentlicht worden sind. Ich glaube, wir waren noch nie so gut eingespielt wie heute.
Zuletzt wurden ja eure alten Scheiben endlich wiederveröffentlicht, bis auf „Labyrinth“ und das Debüt „Tag ohne Schatten“ ...
Es wurden bei Colturschock alle Alben wiederveröffentlicht, die bis 1992 bei Triton erschienen sind und für die wir die Rechte hatten. Die Neuauflage war schon lange geplant, bevor wir Colt kennen gelernt haben. Er überzeugte uns dann mit extrem viel Fachwissen und hohem Engagement, die Alben auf seinem Label neu aufzulegen. Darüber hinaus haben wir 2013 bei ihm den ersten Teil der Trilogie „Rest Of“ herausgebracht, bestehend aus Sampler-Tracks und unveröffentlichten Übungsraum-, Studio-, Session- und Liveaufnahmen. „Rest of - Volume 2“ erscheint auf Colturschock im September 2016.
Und wie sieht es mit den Rechten an der legendären, recht schwer erhältlichen Debüt-LP aus? Das Cover habt ihr ja als Shirt-Motiv im Merchandise.
Keine Ahnung, ich bin für Verträge und Rechtsangelegenheiten der Band nicht zuständig. Wir haben die Aufgaben, die neben der Mucke anfallen, je nach Fähigkeit aufgeteilt. Momentan ist jedenfalls keine Neuauflage des ersten Albums in Sicht.
War das hinzukommende Keyboard ab der zweiten LP der „Key“, um der Band ihren ganz eigenen Sound zu verleihen? Damit konnte man ja nicht mehr ganz so Hardcore-mäßig operieren.
Wir wollten den Sound von RAZZIA weiterentwickeln und der Einsatz der Keyboards erweiterte das Klangspektrum. Als 1986 „Ausflug mit Franziska“ veröffentlicht wurde, waren die Reaktionen auf das Album keineswegs nur positiv. Teilweise wurden wir regelrecht angefeindet, weil wir bewusst nicht bei der „Härter, schneller, lauter“-Fraktion mitmachen wollten. Die war nach unserer Meinung eine Sackgasse, an deren Ende seit Jahrzehnten Bands stehen, die wie eine Baustelle klingen. Es mag viele Leute geben, denen das gefällt – uns spricht es nicht an.
Hört man eure erste, dritte und siebte Scheibe, meint man, das seien drei verschiedene Bands. Euer Fokus liegt aber offenbar ausschließlich auf der Zeit von 1986 bis 1992, die mit der „Live“-LP ihren Abschluss fand. Ist es manchmal ein schweres Erbe, Teile der eigenen Bandgeschichte als nicht relevant herauszurechnen? Auf der 1991er LP „Spuren“ gibt es ja von dir die Textzeile: „Der Künstler fragt nicht, was ihn treibt, nur was von ihm übrig bleibt“.
„Punk“ ist nach unserer Meinung Mitte der Achtziger Jahre in Westdeutschland von einer Jugendbewegung, an der wir unseren Anteil hatten, zum Klischee geworden. Darum haben wir uns davon entfernt. Musikalisch haben RAZZIA immer auf Weiterentwicklung gesetzt und sich deshalb seit 1984 auch eher als Post-Punk-Band bezeichnet, wobei es eigentlich scheißegal ist, als was sich eine Band einordnet. Das Ganze würde ich als mehr oder weniger kontinuierlichen Prozess bezeichnen, der seit 2011 fortgeführt wird, auch wenn sich die Lebenssituationen der einzelnen Bandmitglieder inzwischen mehrfach und völlig verändert haben. Zufrieden sind wir nicht ...
In der langen Bandhistorie gab es sicher Momente, in denen ihr es doch mal wart. Fallen dir da Ereignisse ein, die unvergessen bleiben und für die allein sich der ganze Aufwand, eine Band am Leben zu halten, gelohnt hat?
Wir haben immer gesagt, dass wir aufhören können, wenn wir mit dem zufrieden sind, was wir machen. Mir gefällt es besonders, neue Titel zu entwickeln und sie auf ihrem langen Weg bis zur Aufnahme im Studio zu begleiten. Danach interessieren sie mich nicht mehr so sehr. Für andere stehen mehr die Live-Auftritte im Vordergrund. Höhepunkte waren da sicherlich die Gigs in Skandinavien, Spanien und der Schweiz.
Hat sich vielleicht durch eure Musiklaufbahn etwas im Privaten zum Positiven gewendet oder war die Musik vor allem das unerlässliche Ventil?
Komm zu RAZZIA, haben sie gesagt. Da erlebst du was, haben sie gesagt. Ohne die Band hätte zumindest mein Lebenslauf völlig anders ausgesehen. Wie das zu bewerten ist, weiß ich nicht. Ich vermute mal, bei den anderen Bandmitgliedern sieht das ähnlich aus.
Waren die Achtziger nicht generell musikhistorisch immens wichtig? Weil dort die meisten für die Punk-Bewegung entscheidenden Platten erschienen sind?
Ja, ich denke mal, die Zeit von 1977 bis 1984 war am wichtigsten, da in diesem Zeitraum die meisten Bands der ersten und zweiten Generation aktiv waren. Wir zählen in Hamburg zur zweiten Welle, THE BUTTOCKS, BIG BALLS & THE GREAT WHITE IDIOT, NAPALM oder SLIME zur ersten.
Fällt es euch heute eher schwerer als früher, neue Songs zu schreiben, weil so vieles schon gesagt worden ist?
Nein, überhaupt nicht. Aktuell interessieren uns zum großen Teil ganz andere Themen als früher und außerdem hat es auch schon bevor „Punk“ erfunden wurde, gute Musik gegeben, die viele Themen bereits verarbeitet hat. Die Zusammenarbeit ist trotzdem schwieriger geworden, weil wir versuchen, jedes kleine Problemchen basisdemokratisch zu lösen. Das kostet Zeit und Nerven. Früher herrschte das Faustrecht.
Helfen euch eure leicht kryptischen Texte, um für euch selbst noch eigene Bilder und Interpretationen zu schaffen?
Wir empfinden unsere Texte nicht als kryptisch. RAZZIA hat schon immer viel mit Geschichten, Bildern und Metaphern gearbeitet. Das sind im anglo-amerikanischen Raum auch bei Rockbands übliche Mittel, während bei deutschen Bands viel zu oft das Parolenhafte zum Einsatz kommt. Darauf können wir verzichten.
Gibt es heutige musikalische Affinitäten in der Band, über die ihr damals noch den Kopf geschüttelt hättet?
Es gibt musikalische Affinitäten in der Band, über die wir heute nur den Kopf schütteln. Wir sind wenigstens in Geschmacksangelegenheiten toleranter geworden. Ich finde zum Beispiel neben Oldschool-Punk auch den Sound von Easy-Listening-Gruppen, Beat-Kombos wie den KINKS oder Hardrock-Bands wie URIAH HEEP oder DEEP PURPLE ansprechend. Das lief bei mir schon im Kinderzimmer.
Seid ihr noch am Ball, was Punk und Underground-Musik betrifft, also geht ihr noch regelmäßig auf Konzerte und kauft Platten?
Das ist ganz unterschiedlich. Ich glaube, die meisten von uns gehen auf Konzerte und hören irgendwelche Musik, auch privat. Ich höre nur selten Musik, da ich kaum neue Alben oder Bands finde, die mich interessieren. Nach meiner Meinung hat die Kreativität der Bands stark nachgelassen.
Kannst du uns etwas Neues über die Bandmitglieder verraten, aktuelle Jobs und Lebensentwürfe?
Die Band besteht – wie viele andere Bands auch – aus völlig unterschiedlichen Personen, deren größte und vielfach auch einzige Gemeinsamkeit es ist, dass sie in einer Band zusammenspielen. Alle haben und hatten immer mehr oder weniger Familie und sind mehr oder weniger erfolgreich irgendwelchen Tätigkeiten nachgegangen, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass wir keine Berufsmusiker sind.
Nenn mir doch einmal drei eurer Songs, von denen ihr sagt, da geht uns selbst am meisten das Herz auf, die kommen uns vor, als hätten wir sie erst gestern eingespielt?
„An der Grenze“, „Im Weg“ und „In der Mentalkorrektur“. Die Band hat diese Songs erst neulich für ihr Live-Programm ausgesucht.
„Im Weg“, von der LP „Ausflug mit Franziska“, handelt von der Korrelation von Staat, Presse und Justiz und offenbar von einem kleinstädtischen Milieu. Wie kamt ihr als Großstädter dazu, euch in dieses Szenario zu begeben?
Korruption ist leider kein Problem, das sich auf Kleinstädte beschränkt. Warum ich vor dreißig Jahren diesen Text geschrieben habe, kann ich dir leider nicht mehr sagen. Ich trage ein Armband, auf dem meine Adresse steht.
Euer Song „An der Grenze“ ist gerade wieder hochaktuell, weil aufgrund der Flüchtlinge erneut von gesicherten Grenzen die Rede ist. Der Text wurde damals von eurem Bassisten Sören Callsen geschrieben und er ist wie ein Gedicht aufgebaut. Kannst du uns schildern, warum ihr gerade diesen Song so mögt?
Der Text handelt von der Feigheit, von der Angst vor unpopulären Maßnahmen, die das eigene hoch-moralische Gelaber in Frage stellen würden, von der jämmerlichen Unfähigkeit zu handeln. Aktuell weist man zum Beispiel hierzulande deshalb keine Menschen an der Grenze ab, weil es schlimme Pressefotos bedeuten würde. Das möchte man anderen Staaten überlassen, möglichst weit weg.
Wie handhabt ihr die aktuelle Flüchtlingssituation von der mentalen Warte aus?
Von der mentalen Warte aus handhaben wir es gar nicht, wir betrachten es – sagen wir mal – interessiert, wobei Tagespolitik eigentlich keine Bedeutung für RAZZIA hat. Es braucht fast immer zwei Jahre, von der Textidee zum veröffentlichten Titel. Das mit den Flüchtlingen ist nur ein Symptom der Überbevölkerung, wie das Artensterben, Wassermangel, Verseuchung von Gewässern, Böden und Luft auch. Es lässt sich nicht beheben, indem man behauptet, man habe alles im Griff, oder an den den Folgen herumdoktert.
Euer Split Mitte der Neunziger geschah ja aufgrund von mangelnder Zeit für die Band, wie ihr selbst gesagt habt. Daran hat sich inzwischen sicherlich kaum etwas geändert, aber wenn nicht jetzt, wann wäre es dann an der Zeit für eine neue Platte von euch?
Obwohl wir immer noch viel zu wenig Zeit haben, arbeiten RAZZIA bereits an einem neuen Album. Der Auftritt in der Hamburger Markthalle am 28.11.15 war erst mal der letzte. Jetzt wird es voraussichtlich für ein Jahr keine weiteren Gigs geben, sondern nur an neuen Titeln gefeilt. Es liegen dafür bereits zahlreiche textliche und musikalische Ideen vor, so dass wir uns aus einem riesigen Pool von aktuellen Themen bedienen können. Wer uns persönlich kennt, weiß, dass wir lieber sofort aufhören würden, als ein albernes Album abzuliefern, das versucht, den „Spirit“ von 1982 einzufangen.
© by - Ausgabe # und 22. März 2024
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #142 Februar/März 2019 und Simon Brunner
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #35 II 1999 und Joachim Hiller
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #100 Februar/März 2012 und Joachim Hiller
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #20 II 1995 und Alex von Streit
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #100 Februar/März 2012 und Joachim Hiller
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #106 Februar/März 2013 und Joachim Hiller
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #115 August/September 2014 und Joachim Hiller
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #54 März/April/Mai 2004 und Marcus Bender
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #57 November 2004/Januar/Februar 2005 und Joachim Hiller
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #134 Oktober/November 2017 und Joachim Hiller
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #111 Dezember 2013/Januar 2014 und Joachim Hiller
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #118 Februar/März 2015 und Joachim Hiller
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #30 I 1998 und Joachim Hiller